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Transforming cities
tc
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2017-0033
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2017
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Smart Grid im Quartiersformat

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2017
Richard Kemmerzehl
Eine ökonomisch und ökologisch erfolgreiche Energiewende setzt die intelligente Kopplung der Sektoren Strom, Wärme und Mobilität voraus. Die Mitarbeiter und Partner von inno2grid haben über mehrere Forschungsprojekte hinweg das erste Micro Smart Grid Deutschlands aufgebaut und veranschaulichen in der zeeMo.base (zero emmission energy and Mobility base), wie dezentrale, regenerative Energieerzeuger, lokale Energieverbraucher sowie stationäre und mobile Speicher über ein intelligentes Lastmanagement miteinander vernetzt werden. Projektentwickler und Wohnungswirtschaft erkennen vermehrt die ökonomischen Chancen und Möglichkeiten der Energie- und Verkehrswende, doch tun sie sich schwer, die klassischen Planungsprozesse für innovative Lösungen und Produkte zu öffnen. Für zukunftsfähige Energie- und Mobilitätslösungen braucht es daher eine „HOAI-Phase 0“ sowie einen „Vernetzer“, der die Kommunikation und integrierte Koordination zwischen Fachplanern, Bauherren und Betreiber organisiert.
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4 2 · 2017 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie · Mobilität Energiewende heißt nicht nur Stromwende Der beschleunigte Atomausstieg ist beschlossen. Der Anteil Erneuerbarer Energien (EE) an der Stromerzeugung soll laut Energiekonzept der Bundesregierung bis zum Jahr 2035 auf 60 % ausgebaut werden. Bis zum Jahr 2050 ist geplant, die Versorgung mit Strom und Wärme sowie den Verkehr nahezu vollständig auf Basis erneuerbarer Energiequellen zu realisieren. Der steigende Integrationsbedarf des Stroms aus erneuerbaren Energien verändert die Anforderungen an die Stromnetze. Mehr Strom wird in dezentralen Anlagen erzeugt und es entstehen große regionale Erzeugungskapazitäten relativ weit weg von den Verbrauchszentren - beispielsweise große Windparks in Nord- und Ostdeutschland oder Offshore-Windparks. Die existierenden Übertragungs- und Verteilnetze sind allerdings nicht für Dezentralität und das Smart Grid im Quartiersformat Erneuerbare Energien und nachhaltige Mobilität für eine erfolgreiche Energiewende Energiewende, Micro Smart Grid, Sektorenkopplung, Elektromobilität, Bedarfsanalyse und Beratung, Smart City Richard Kemmerzehl Eine ökonomisch und ökologisch erfolgreiche Energiewende setzt die intelligente Kopplung der Sektoren Strom, Wärme und Mobilität voraus. Die Mitarbeiter und Partner von inno2grid haben über mehrere Forschungsprojekte hinweg das erste Micro Smart Grid Deutschlands aufgebaut und veranschaulichen in der zeeMo.base (zero emmission energy and Mobility base), wie dezentrale, regenerative Energieerzeuger, lokale Energieverbraucher sowie stationäre und mobile Speicher über ein intelligentes Lastmanagement miteinander vernetzt werden. Projektentwickler und Wohnungswirtschaft erkennen vermehrt die ökonomischen Chancen und Möglichkeiten der Energie- und Verkehrswende, doch tun sie sich schwer, die klassischen Planungsprozesse für innovative Lösungen und Produkte zu öffnen. Für zukunftsfähige Energie- und Mobilitätslösungen braucht es daher eine „HOAI-Phase 0“ sowie einen „Vernetzer“, der die Kommunikation und integrierte Koordination zwischen Fachplanern, Bauherren und Betreiber organisiert. Bild 1: Solarcarport für grüne E-Mobilität. Mit insgesamt drei Photovoltaikanlagen werden im Micro Smart Grid rund 80kWp Leistung zur Verfügung gestellt. © Vipul Toprani PRAXIS + PROJEKTE Energie 5 2 · 2017 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie · Mobilität damit verbundene Ausgleichen von Stromschwankungen ausgelegt. Das führt derzeit unter anderem dazu, dass etwa einzelne Windräder oder ganze Windparks trotz Wind vom Netz genommen werden müssen, weil die Leistungsspitzen des Grünstroms das Netz überlasten. Im Zuge der Energiewende konzentriert man sich derzeit hauptsächlich auf den Netzausbau und verstärkt und erweitert tausende von Kilometern Stromtrassen. Die stetig steigenden Kosten für den Netzausbau und die finanziellen Belastungen durch die EEG-Umlage führen allerdings dazu, dass es zuletzt - trotz sinkendender Börsenpreise - immer wieder Preiserhöhungen beim Haushaltsstrom gab. Die Akzeptanz von Bürgerinnen und Bürgern für die Energiewende schwindet damit zusehends, und auch kleinere Unternehmen klagen über schlechte Wettbewerbsbedingungen durch hohe Stromkosten. Das schürt Ängste und verunglimpft die Energiewende. Vielleicht muss im politischen Diskurs stärker betont werden, dass die Energiewende nicht gelingen kann, wenn man sie lediglich als „Stromwende“ betrachtet. Energiewende setzt die intelligente Kopplung der Sektoren Strom, Wärme und Mobilität voraus. Damit den drei zentralen Forderungen des Energiewirtschaftsgesetzes nach Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit entsprochen werden kann, sind neue Versorgungssysteme notwendig, um den integrierten Betrieb energiesparten- und sektorübergreifend auf lokaler Ebene sicherstellen zu können. Insbesondere auf den niedrigen Spannungsebenen gilt es, die wachsende Volatilität der Energieeinspeisung zu bewältigen. Zwei Strukturelementen wird dabei eine besonders wichtige Rolle zukommen: Micro Smart Grids (MSG) und Hybridnetzen - also Energiesystemen, in denen Energie jeweils in ihrer aktuellen Form verbraucht, gespeichert oder in eine andere Energieform gewandelt werden kann, um schließlich wieder verbraucht, gespeichert oder transportiert werden zu können. Das Micro Smart Grid auf dem EUREF-Campus Wie sich diese Strukturelemente technologisch, ökonomisch, rechtlich und nicht zuletzt praktisch realisieren lassen und welche Rolle die Sektoren Verkehr (insbesondere die Elektromobilität) sowie Wärme spielen, wird auf dem EUREF-Campus erforscht und erprobt. Die Mitarbeiter und Partner von inno2grid haben seit Ende 2011 das erste Micro Smart Grid Deutschlands konzeptioniert und aufgebaut. In der kürzlich eröffneten zeeMo.base wird veranschaulicht, wie dezentrale, regenerative Energieerzeuger, lokale Energieverbraucher sowie stationäre und mobile Speicher über ein intelligentes Lastenmanagement miteinander vernetzt werden. Durch die intelligente Vernetzung und die Steuerung der Komponenten im „Arealnetz“ (energierechtlich gesehen, ist es eine Kundenanlage) werden die regenerativen Zuflüsse aus Photovoltaik, Windkraft und BHKW auf Niederspannungsebene grundlastfähig und versorgen Büro- und Mietgebäude auf dem Campus sowie Deutschlands größte „Stromtankstelle“ und die daran ladende Elektrofahrzeugflotte mit lokal produziertem Strom. In Situationen, in denen die Stromproduktion vor Ort nicht ausreicht, sorgt die Koppelung zum vorgelagerten, öffentlichen Verteilernetz über einen eigenen Trafo dafür, dass die Versorgungssicherheit im Micro Smart Grid jederzeit gegeben ist. Künftig soll auch geothermische Energie erschlossen sowie Regelenergie über Powerto-Heat oder Power-to-Cool-Wasserspeicher vermarktet werden. Somit lassen sich Erzeugung und Verbrauch auf der niedrigsten möglichen Ebene hybridartig ausbalancieren und der Strombezug aus dem öffentlichen Netz wird reduziert. Oder anders ausgedrückt: Je mehr Eigenverbrauch stattfindet, desto höher sind die Einsparungen bei den Energiekosten. Denn rund 70 % des Strompreises entfallen auf Netzentgelte und Abgaben, die bei lokal erzeugtem und verbrauchtem Strom (größtenteils) nicht gezahlt werden müssen. Micro Smart Grids und Hybridnetze entfalten dann ihr volles Potential, wenn in einem Quartierskonzept eingebettete Flexibilität am Strommarkt angeboten wird, sei es in Form von überschüssigem Strom oder durch die Bereitstellung von Kapazitäten. Diese lassen sich in thermischen Speichern vorhalten, in steuerbar ladenden Elektrofahrzeugen oder in „Smarten Gebäuden“. Mit aktuellen und prognostizierten) Verbrauchsdaten und mithilfe von Wetterinformationen kann so auf die aktuelle (und prognostizierte) Stromerzeugung reagiert werden (Bild 2). Bild 2: Die Regelung und Steuerung sowie die Visualisierung des gesamten Micro Smart Grid erfolgt über ClearSCADA. © inno2grid MICROSMARTGRID BUILDINGS ELECTRIC MOBILITY RENEWABLE SOURCES STORAGE 6 2 · 2017 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie · Mobilität Vom Forschungsnetz zur Marktfähigkeit: zeeMo.base Das über mehrere Forschungsprojekte auf dem EUREF-Campus entstandene Forschungsnetz hat sich mittlerweile zu einer marktfähigen Lösung entwickelt und ist in Kooperation mit Schneider Electric GmbH, InnoZ GmbH, EU- REF AG, Stromnetz Berlin GmbH, Netzgesellschaft Berlin Brandenburg mbH und der TU Berlin zur zeeMo.base (Zero Emission Energy and Mobility Base) ausgebaut worden, die gemeinsam mit dem neu entstandenen „solaren Grundlastkraftwerk“ im Juli 2016 eröffnet wurde. zeeMo.base dient seither sowohl als Energiezentrale, in der die Komponenten des Micro Smart Grids zusammenlaufen und verwaltet werden, als auch als Showroom, in dem die intelligente Vernetzung von Energie und Mobilität erlebbar gemacht wird (Bild 1). Im Gebäude befinden sich die technischen Betriebsräume des Micro Smart Grids. Besucher können die operativ betriebenen Anlagen - Wechselrichter, Speicheranlagen, Netzkomponenten mit Mittelspannungsschaltanlage, Transformator und Niederspannungshauptverteilung - durch Sichtglasfenster betrachten (Bilder 3, 4, Tabelle 1). Unter dem „solaren Grundlastkraftwerk“ mit semi-transparenten Solarmodulen sind Parkplätze mit dazugehörigen Ladepunkten angelegt. Diese können über Smartphone reserviert und freigeschaltet werden. Die Abrechnung erfolgt bequem ohne vorherige Anmeldung per PayPal. Mit grüner Energie lädt das Start-Up CleverShuttle als erster Großkunde so seine Fahrzeuge, mit denen es seinen Fahrgästen einen kostengünstigen Carpooling-Service im Berliner Stadtgebiet bietet. Die zeeMo.base ist das einzige operativ betriebene und begehbare Smart Grid, in dem Besucher interaktiv die Komponenten und Prinzipien zukünftiger Energienetze erfahren können. Inno2grid ist Betreiber des Micro Smart Grids und überträgt die entstandene Systemlösung in Quartiere, die sich über integrierte Energie- und Mobilitätslösungen für die Zukunft rüsten. Die Rolle des Vernetzers in der frühen Planungsphase As erprobte Lösung dient die zee- Mo.base auf dem EUREF-Campus als Blaupause, denn standortspezifische Mobilitäts- und Energiekonzepte rücken vermehrt in den Fokus bei Projekt- und Stadtquartiersentwicklungen. Nicht zuletzt durch die politische Forcierung der E-Mobilität, wird die gemeinsame Betrachtung unterschiedlicher Sektoren unerlässlich. Projektentwickler und Wohnungswirtschaft erkennen zunehmend die ökonomischen Chancen und Möglichkeiten der Energie- und Verkehrswende, doch sie tun sich schwer dabei, die klassischen Planungsprozesse für innovative Lösungen und Produkte zu öffnen. Die fortschreitende Digitalisierung führt dazu, dass sich der deutsche Energie- und Verkehrsmarkt im radikalen Umbruch befindet. Das eröffnet Immobilienentwicklern Chancen, sich nach zusätzlichen Erlösquellen umzusehen. Vernetzte Mobilitätslösungen im Sharing-Modus und Integration von erneuerbaren Energien steigern nicht nur die Standortqualität, sondern stellen auch ein wichtiges Vermarktungsinstrument dar. Eigene Mobilitätsangebote gewährleisten die verkehrliche Erschließung von Standorten, ergänzen den öffentlichen Nahverkehr und bieten Bauherren die Möglichkeiten, flexibler gehandhabte Stellplatznachweise ressourcenschonend und kostengünstiger zu erfüllen. Die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und die Einführung des Mieterstromgesetzes führen dazu, dass sich die Wohnungswirtschaft verstärkt mit Mieterstrommodellen auseinandersetzt, weil die Eigenversorgung durch lokal produzierten Strom sowohl für die Wohnungswirtschaft neue Technische Daten Carsharing Stationen 36 Ladepunkte für Elektrofahrzeuge Kleinwindenergieanlagen 6 X 1 kW Photovoltaikanlagen 102 kWp Blockheizkraftwerk 22 kW elektrisch I 50 kW thermisch Lithium-Ionen-Batterie 78 kWh Energiekapazität I 45 kW Beladeleistung I 60 kW Entladeleistung BIei-Säure-Batterie 150 kWh Energiekapazität I 36 kW Beladeleistung I 36 kW Entladeleistung Superkondensator 1 kWh Energiekapazität I 15 kW Beladeleistung I 15 kW Entladeleistung Bild 3 und 4: Ein Blick in den Maschinenraum: Das Micro Smart Grid ist über einen 630 kVA Transformator und eine Mittelspannungsschaltanlage an das übergelagerte Mittelspannungsnetz angeschlossen. Rechts das Speichersystem des solaren Grundlastkraftwerks. © inno2grid Tabelle 1: Technische Daten des Micro Smart Grids. © inno2grid 7 2 · 2017 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie · Mobilität www.optigruen.de IHR PARTNER FÜR DACH- UND FASSADENBEGRÜNUNG NEUE AUFLAGE 2017! Planungsunterlage kostenlos anfordern: info@optigruen.de SCHÖN, SCHÖNER, OPTIGRÜN (eigene) Geschäftsfelder eröffnet, als auch für die Mieter ökonomisch attraktiv ist. Gebäude werden zu Prosumern! Die integrierte Systementwicklung einer dezentralen Energie- und Mobilitätsversorgung findet sich in klassischen Planungsprozessen allerdings nicht. Sie ist jedoch eine wichtige, vorgelagerte Stufe des klassischen HOAI-Planungsprozesses. Die Quartiersdiagnose wäre somit „Phase 0“, die funktionale und räumliche Anforderungen von integrierten Energie- und Mobilitätslösungen in einem Masterplan definiert, um damit einen interdisziplinären Planungsprozess steuerbar zu machen. Unter Berücksichtigung der Ziele des Projektentwicklers sind Vorabanalysen zu Nachfrage und Angebot durchzuführen, die dann in einem Business Case auf ihre wirtschaftliche Tragfähigkeit im Bau und im Betrieb überprüft werden (Bild 5). Spätestens an diesem Punkt ergeben sich neue Herausforderungen für diejenigen, die in „ihren Sparten“ mit neuen Themen und nicht zuletzt auch mit unbekannten Rollen und Stakeholdern konfrontiert werden. Hier ist die Rolle des „Vernetzers“ entscheidend, der die Kommunikation und Koordination zwischen Fachplanern, Bauherren und Betreibern besetzen kann. Denn um die ökonomischen Potenziale der Sektorenkopplung zu erhöhen, muss in der frühen Planungsphase der Infrastruktur von Quartieren oder Arealen die energetische Kopplung der Sparten Strom, Wärme und Kälte sowie die Einbindung der zukünftigen Mobilitätsversorgung der Nutzer integriert bedacht werden. Dazu müssen Betreiberanforderungen für Mobilitätsangebote oder Ladeinfrastruktur frühzeitig eingebunden und baulich berücksichtigt werden. Häufig lohnt auch der Blick über die eigene Betrachtungsgrenze hinaus, denn Anrainer oder Nachbarprojekte verfolgen meist gleichgelagerte Ziele und sind oft bereit, die damit verbundenen Herausforderungen und Aufgaben gemeinsam anzugehen. Je höher die Anzahl der beteiligten Wohneinheiten und steuerbaren Komponenten im Areal, desto einträglicher und attraktiver kann ein standortspezifisches Angebot zur Energie- und Mobilitätsversorgung gestaltet werden. Eines ist klar: Um die ehrgeizigen Ziele der Energiewende zu erreichen, ist noch viel zu tun. Doch gewinnt die Energiewende im Moment eine neue Dynamik. Der politische Top-Down-Ansatz wird zunehmend durch einen kundengetriebenen Bottom-up-Ansatz ergänzt. Ausgelöst wird diese Dynamik durch neue Geschäftsmodelle der dezentralen Versorgungsstrukturen, neue digitale Vernetzungsmöglichkeiten und dem damit verbundenen Potenzial für die intelligente Kopplung der Sektoren Strom, Wärme und Mobilität. AUTOR Bild 5: Inkrementeller Ansatz, um gewünschte Ziele und Anforderungen bei Energie und Mobilität auf wirtschaftliche Tragfähigkeit zu überprüfen. © inno2grid Richard Kemmerzehl Projektmanager inno2grid GmbH Kontakt: richard.kemmerzehl@inno2grid.com