Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2017-0040
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Vom Baum zum Rhizom
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Benjamin Casper
Sandra Sieber
Im Zuge der Energiewende stehen Übertragungs- sowie Verteilnetzbetreiber vor großen Herausforderungen. Während Gleichspannungstrassen im Bereich der Höchstspannung bereits im Netzentwicklungsplan eingetragen sind, steht eine Anpassung für die Mittel- und Niederspannung noch aus. Die ursprünglich hierarchische Baumstruktur der Stromnetze wird durch rhizomorphe Systemveränderungen neu ausgerichtet. Das heißt, parallele Transformationsprozesse bei Erzeugern, Verbrauchern, Netzen und Speichern auf allen Spannungsebenen verändern die grundlegende Ausrichtung und Ausstattung der Stromversorgung.
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34 2 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Energie für Städte Die Idee einer rhizomorphen Vernetzung ist dem Begriff der Rhizomatik von Deleuze und Guattari entlehnt, bei dem hierarchische Kommunikations- und Ordnungsmuster durch eine Struktur ergänzt oder ersetzt werden, die Querverbindungen erlaubt, Hierarchieebenen überspringen kann und so unterschiedliche Elemente miteinander verbindet und neue Plateaus bildet. In der Bandbreite möglicher Lösungswege, die geeignet wären, den komplexen Systemveränderungen der Energiewende adäquat zu begegnen, kommt der Einführung von flexiblen (also rhizomorphen) Gleichspannungsnetzen (engl. direct current, kurz DC) mit ihrer Leistungselektronik eine entscheidende Rolle zu (Bild 1 und Bild 2). Umfassende Betrachtung der Gleichstromtechnik Im transdisziplinären Forschungscampus Flexible Elektrische Netze (kurz FEN), der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, beschäftigen sich derzeit sechs elektrotechnische und neun soziotechnische Institute der RWTH Aachen gemeinsam mit zwölf international agierenden Unternehmen mit der Erforschung und Realisierung von Elektrizitätsnetzen mittels Gleichstrom auf der Mittelspannungsebene (MV). Die Themengebiete umfassen die Planung, Modellierung, Konzeption und Bewertung von künftigen Netzen. Im Bereich der technischen Vom Baum zum Rhizom Die Flexibilisierung der Netze durch Gleichstrom Erneuerbare Energien, Stromnetz, Gleichstrom Benjamin Casper, Sandra Sieber Im Zuge der Energiewende stehen Übertragungssowie Verteilnetzbetreiber vor großen Herausforderungen. Während Gleichspannungstrassen im Bereich der Höchstspannung bereits im Netzentwicklungsplan eingetragen sind, steht eine Anpassung für die Mittel- und Niederspannung noch aus. Die ursprünglich hierarchische Baumstruktur der Stromnetze wird durch rhizomorphe Systemveränderungen neu ausgerichtet. Das heißt, parallele Transformationsprozesse bei Erzeugern, Verbrauchern, Netzen und Speichern auf allen Spannungsebenen verändern die grundlegende Ausrichtung und Ausstattung der Stromversorgung. THEMA Energie für Städte © pixabay 35 2 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Energie für Städte Komponenten werden unter anderem Anlagen und Netztechnik, Automatisierung, Regelung und Betriebsführung untersucht. Praktische Umsetzung findet das Projekt in einem MVDC-Forschungsnetz, das am Campus Melaten mehrere Prüfstände von Forschungsinstituten der RWTH Aachen verbinden wird, darunter der Prüfstand im Testcenter des Instituts für Maschinenelemente und Maschinengestaltung (IME) und der Prüfstand des Centers for Wind Power Drives (CWD). Dieses Forschungsnetz ermöglicht den Praxistest und die Weiterentwicklung verschiedener Komponenten wie DC-DC-Converter, Leistungsschalter oder DC-Kabel. Die soziotechnischen Institute forschen an relevanten Querschnittsthemen eines künftigen - womöglich zellular vermaschten - Netzes. Sie beschäftigen sich unter anderem mit den Auswirkungen der DC-Technik auf den urbanen Raum und die Landschaft, mit deren Akzeptanz und möglichen Umsetzungsszenarien. Auch Fragen nach gesundheitlichen Auswirkungen, ökonomischer Bewertung und geeigneten Kommunikationskonzepten werden betrachtet. So können Gleichspannungsnetze interdisziplinär beleuchtet und perspektivische Vorteile wie auch eventuelle Hemmnisse im Laufe des Projektes identifiziert und mit den elektrotechnischen Instituten rückkoppelnd bewertet werden. Auswirkungen von DC-Netzen in Städtebau und Landschaftsarchitektur Im Rahmen des Forschungscampus FEN befassen sich das Institut für Städtebau und Landesplanung (ISL) und der Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur (LA) mit möglichen Auswirkungen von MVDC-Netzen auf urbane und ländliche Räume. Die Auswirkungen erneuerbarer Energien, insbesondere der Windenergie und der geplanten Höchstspannungstrassen im Zuge des Netzausbaus sind inzwischen etablierte Themen im Bereich der Landschaftsplanung. Sie werden meist aus naturschutzfachlicher Sicht oder mit Fokus auf Veränderungen des Landschaftsbildes betrachtet. Die Auswirkungen von Gleichspannungsnetzen der Mittel- und Niederspannungsebene auf Städte und Landschaften wurden bislang noch nicht untersucht. Mit dem Fokus des Forschungsprojektes auf die Mittelspannung werden seitens des Instituts für Städtebau und Landesplanung und des Lehrstuhls für Landschaftsarchitektur Region, Stadt und Quartier mit ihren Nieder- und Mittelspannungsnetzen betrachtet. Um die Auswirkungen der DC-Technologie klassifizieren zu können, wird zusätzlich mit einem Drei-Ebenen-Modell gearbeitet: einer visuellen Ebene, einer semi-visuellen Ebene und einer strukturellen Ebene (Bild 3). So können sichtbare Auswirkungen, indirekt auftretende sowie rein planerische und regulatorische Effekte benannt werden. Zur Konkretisierung der Auswirkungen werden im Forschungsfokus Landschaftsarchitektur ein ländlicher und ein urbaner Untersuchungsraum betrachtet. Dort wurden Anwendungen für die DC- Technologie anhand bestehender oder geplanter Projekte (wie zum Beispiel einem Neubaugebiet im Aachener Nord- Westen, einem Windpark oder auch einem geplanten Radschnellweg) skizziert. Anhand der unterschiedlichen Beispiele konnten im Austausch mit den elektrotechnischen Instituten mögliche Einsatzgebiete und Vorteile der DC-Technik identifiziert werden - darunter unter anderem mögliche Vorteile bei der Einspeisung von erneuerbaren Energien, bei energetischen Quartierskonzepten oder bei der Realisierung der Elektromobilität. Gleichstromnutzungen auf allen Ebenen Die Stromnetzeinbindung von Stadtteilen erfolgt bis dato zumeist in offenen oder geschlossenen Mittelspannungsringnetzen, könnte aber künftig mittels DC zu vermaschten Netzen ausgebaut werden. Die Hausanschlüsse auf der Niederspannungsebene könnten zukünftig in DC erfolgen und hausintern mittels Wechselrichter zu einem parallelen Installationsnetz führen, um nicht-DC-fähige Endgeräte (Geräte mit konventionellem Schalter bzw. leistungsregulierbare Geräte wie zum Beispiel Heizgeräte, Bild 2: Neue Auslegung der Stromversorgung mit rhizomorphen Querverbindungen. © Forschungscampus Flexible Elektrische Netze FEN 2016 Bild 1: Ursprünglich hierarchische Baumstruktur der Stromnetze. © Forschungscampus Flexible Elektrische Netze FEN 2016 36 2 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Energie für Städte Staubsauger, Bohrmaschinen, Mixer) weiterhin nutzen zu können. Aufgrund des effizienten Stromflusses in beide Richtungen können mit dem hausinternen DC-Netz erneuerbare Energien umfassender in das energetische Gebäudekonzept eingebunden werden. Dabei geht es nicht nur um Photovoltaikanlagen, sondern auch um Wärmepumpen, elektrochemische Batteriespeicher für Häuser und Quartiere und thermoelektrische Generatoren. So könnten im Gebäude bzw. Quartier zumindest die Verluste, die derzeit bei der Umwandlung von DC in AC und dann wieder in DC entstehen, in Teilen entfallen. Mit der aktuellen Netzstruktur werden zwar beliebig viele Photovoltaikanlagen ans Netz angeschlossen, jedoch müssen während der Spitzenerzeugungszeiten entsprechend viele Anlagen durch Regeleingriffe vom Netz genommen oder ihre Einspeiseleistung gekappt werden. Ein DC-Netz könnte eine höhere Einspeiseleistung ermöglichen. DC wäre damit ein Baustein effizienter Energiekonzepte und Grundlage für die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele. Gleichspannung auf der Mittelspannungsebene (MVDC) bietet sich besonders für Schnellladestationen für Elektroautos an, deren Ladezeit bereits jetzt noch gut 30 Minuten beträgt und gleichzeitiges Laden mehrerer Fahrzeuge erlaubt. Die Fortschritte in der Batterietechnologie könnten - so aktuelle Diskussionen - in absehbarer Zeit die Ladezeiten auch auf unter fünf Minuten pro 100 Kilometer Fahrleistung bringen. Das ist nur mit MVDC zu erreichen. Die DC-Technik kann durch die Flexibilisierung der Netze räumlich wirksame Veränderungen auf allen Maßstabsebenen von der Region bis zur Haus- und Fassadentechnik hervorrufen. Wo Gebäude mehr Energie produzieren als sie verbrauchen, wo Quartiere über flexible Netzstrukturen und effiziente Speicherlösungen miteinander verbunden sind, da könnte sich der Bedarf an Anlagen zur regenerativen Energiebereitstellung (EE-Anlagen) außerhalb des Siedlungskontextes, im Sinne einer möglichst verbrauchsnahen Erzeugung, reduzieren. Mit DC rücken Energieverbrauch und Energiebereitstellung räumlich und strukturell wieder enger zusammen. Bestehende Konflikte um Regenerativanlagen und ihre Wirkung auf das Landschaftsbild würden so entschärft und vor allem der Nutzungsdruck auf geeignete Flächen reduziert. Demgegenüber steht die Betrachtung der durch MVDC erst möglich werdenden Erschließung netzferner Standorte, sodass beispielsweise Regenerativanlagen auch an weniger konfliktbelasteten Standorten umgesetzt werden könnten. Transformationen der Energieversorgung verändern Städte und Landschaften Wo sollte eine Transformation der Energieübertragung in einer Stadt beginnen? Auf den Untersuchungsmaßstäben Quartier, Stadt und Region lassen sich Startpunkte identifizieren, die eine sogenannte rhizomorphe Entwicklung anstoßen können. Hierzu werden bestehende Energie-Infrastrukturen, gewerbliche und industrielle DC-Arbeitsprozesse und Mittelspannungsnutzer erfasst. Infolgedessen kann aufgezeigt werden, welche räumlichen Transformationen durch effizientere Stromnetze, die auch die Mobilitätswende und die Stoffwende (Ersetzen der Energiespeicher Kohle und Öl durch mechanische, elektrische, elektro-chemische und chemische Elemente) berücksichtigen, auf kommunaler und regionaler Ebene angegangen werden können. Hierzu wurde auch untersucht, unter welchen Bedingungen es möglich ist, Hochspannungsleitungen in unmittelbarer Nähe zu Siedlungsgebieten als DC-Kabel unterirdisch um diese herum zu legen. Die frei werdenden Abstandsflächen könnten Entwicklungsimpulse für Gewerbeflächen, Solar- und Bild 3: Mit dem Drei- Ebenen-Modell können sichtbare, indirekte und rein planerische Effekte der DC-Technologie aufgezeigt werden © Forschungscampus Flexible Elektrische Netze FEN 2016 37 2 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Energie für Städte Windparks und besonders für dringend benötigten Wohnraum bieten. Die immobilienwirtschaftlichen Impulse könnten, je nach lokaler Situation, beträchtlich und für die Kommunen lohnend sein. Bei einer Wirtschaftlichkeitsbetrachtung des Netzbetreibers für eine Verkabelung mit DC-Technik sollten dementsprechend nicht nur die Kosten bewertet, sondern innerhalb eines Zusammenschlusses der Kommunen und Wirtschaftsverbände auch alle betroffenen Akteure mit an den Tisch geholt werden. Erfolgreiche Verkabelungen von Hochspannungstrassen in unmittelbarer Siedlungsnähe könnten die Akzeptanz für die Energiewende deutlich steigern, wenn die Folgen für die Region (zum Beispiel Fortschreibung des Flächennutzungsplans erforderlich) und die Umwelt sorgfältig besprochen und überprüft werden. Die Signalwirkung des AmpaCity-Projekts (Hochtemperatur-Supraleiter) in der Essener Innenstadt ist beispielhaft für so eine Entwicklung. Hier konnten hohe Raumeinsparpotentiale auf beengtem Raum identifiziert (ein Kabel anstelle von fünf Kabeln) und die Notwendigkeit von vielen Umspannstationen in Innenstädten in Frage gestellt werden. Ein Hochtemperatur-Supraleiter überträgt Gleichstrom verlustfrei und ist auch für Höchstspannung vorstellbar. Die Netze und entsprechend ihre Anwendungsfelder könnten mit DC also künftig vielfältiger und flexibler werden. Statt hierarchisch linear verzweigter Baumstrukturen wie sie die Strahlen- und Ringnetze aufweisen, könnte DC rhizomorph in bestehenden und neu verlegten AC-Kabeln agieren. Wie das Rhizom, das in der Botanik eine Sprossachse bezeichnet, die sowohl Wurzeln wie oberirdische Teile ausbilden kann und damit sehr erfolgreich weitverzweigte Geflechte entwickelt, wären auch Netze mit DC-Komponenten nicht hierarchisch, sondern hoch flexibel, intelligent steuerbar und tatsächlich vernetzt mit Netzknoten, Querverbindungen, Maschen und Waben. Die rhizomorphen Eigenschaften der DC-Netze können sich erst dann im Rahmen einer regional- , stadt- und quartiersgestützten Energiewende entfalten, wenn man ihnen den gesetzlichen Rahmen dazu gibt, denn auch ein Rhizom braucht Wachstumsimpulse. Entsprechend engmaschiger wären die Veränderungen, denn die Konnektivität der Infrastruktur erhöht sich und damit auch ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Dekarbonisierung mit Gleichstrom Aktuelle Technologien, wie die Robotik oder die Elektrosynthese (Umwandlung von CO 2 in organisches Material), werden Gleichstrom nutzen. DC-Netze, ob Microgrids oder Verteilnetze für Regionen, können effizienter, ressourcenschonender und dadurch auch mit höherer Akzeptanz umgesetzt werden und so Entwicklungsimpulse für lokale Kultur- und Wirtschaftsentwicklung geben. Eine Voraussetzung für die Marktdurchdringung ist die Verfügbarkeit. Wenn es gelingt, eine Standardisierung für die DC-Technologie auf allen Spannungsebenen zu erreichen und Schutzkonzepte für den Umgang mit DC umzusetzen, kann DC auch einen entscheidenden Beitrag zum Erreichen der UN-Nachhaltigkeitsziele bis 2030 leisten. Das UN-Nachhaltigkeitsziel Nr. 7 „Erneuerbare Energien“ nimmt eine Schlüsselstellung im Kanon der sogenannten „Großen Transformation“ zur Nachhaltigkeit ein. Aktuellen Untersuchungen zufolge müssen die CO 2 -Emissionen bis 2020 ihren Höhepunkt erreicht haben, um den Planeten in eine habitable Zukunft zu steuern. DC-Technologie kann sowohl Inselnetze in entlegenen Gebieten vereinfachen als auch Hochtechnologiestandorte in ihren Dekarbonisierungsbestrebungen stärken. Die jüngst eingetretene und global erkennbare Ablösung von Kohle als günstigem Energieträger zur Stromproduktion durch Photovoltaik ist ein Zeichen für den technologischen Durchbruch von Innovationen im Energiesektor. Die DC-Technologie kann in allen Bereichen der Einspeisung und Versorgung zu einer Beschleunigung der Dekarbonisierung führen, wenn sich eine Standardisierung zügig erreichen lässt. Die Standardisierung im Bereich der DC-Technik voranzutreiben, ist daher auch eines der Kernziele des Forschungscampus FEN, in dem sich die Aktivitäten der Partner aus Wissenschaft und Industrie bündeln. Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der DC-Technologie werden ausgelotet, um den Übergang von Theorie zu Praxis vorzubereiten. Dipl.-Ing. Benjamin Casper Lehrstuhl und Institut für Städtebau und Landesplanung RWTH Aachen University, Fakultät für Architektur Kontakt: casper@isl.rwth-aachen.de Dipl.-Ing. (FH) Sandra Sieber Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur RWTH Aachen University, Fakultät für Architektur Kontakt: ssieber@la.rwth-aachen.de AUTOR I NNEN
