Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2017-0067
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Automatisiertes Fahren in urbaner Umgebung
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Heinz Dörr
Viktoria Marsch
Andreas Romstorfer
Digitalisierung und Automatisierung bemächtigen sich der Mobilität als Daseinsbedürfnis und des Verkehrssystems als dienende Infrastruktur. Die Ausrüstung der Verkehrsmittel, vor allem der Kraftfahrzeuge, schafft veränderte Bedingungen für die Ausübung der Mobilität durch die Bevölkerungsgruppen in ihren Lebensräumen. Nutzen und Nachteile sind daher aus deren Blickwinkel in Wechselwirkung mit den fahrzeugseitigen Automatisierungstechnologien, die teilweise oder gänzlich ein fahrerloses Bewegen der Fahrzeuge im Verkehrsnetz ermöglichen werden, zu beleuchten.
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THEMA Urbane Kommunikation 47 3 · 2017 TR ANSFORMING CITIES Strategien zur Automatisierung des Kraftfahrverkehrs Die politischen Strategiepapiere der EU, in Deutschland und Österreich folgen weitgehend den Visionen der Automobilwirtschaft. 1 Dahinter steht als Triebfeder die Befürchtung der Erzeugerländer, von den USA, China und Ostasien auf den Absatzmärkten überholt zu werden. Es geht um den Erhalt der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Gelockt wird von der Automobilindustrie mit dem vielfältigen Kundennutzen, der durch die Fülle der Assistenzsysteme den KFZ-HalterInnen zu Gute kommen soll, wie der Spurhalte-, Überhol-, Einpark- oder Notbremsassistent. Ferner wird über Use Cases nachgedacht, die mobilitätseingeschränkten Personen zusätzliche Bewegungsmöglichkeiten mit einem Fahrzeug bieten werden, und über die Automatisierung der Lieferlogistik, die den Dienstleistern vor allem Personalkosten sparen helfen soll. Die Automatisierungsfunktionalitäten bestehen grob gesprochen aus der Sensorik verschiedener sich mehr oder minder ergänzender Positions- und Detektionstechnologien (wie Radar, Kamera, Laser, GPS), aus der die Signale interpretierenden Soft- 1 ERTR AC (2015): Automated Driving Roadmap. ERTR AC Task Force „Connectivity and Automated Driving“. Brussels. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) (2015): Strategie automatisiertes und vernetztes Fahren. Berlin Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (BMVIT) (2016): Automatisiert-vernetzt-mobil: Aktionsplan automatisiertes Fahren. Wien. ware, die ihrerseits mit Datenbanken (zum Beispiel zur Objekterkennung) und mit Daten aus der Cloud (zum Beispiel zur Beurteilung des Verkehrszustands im Wegenetz) hinterlegt sein muss, und schließlich aus der darauf reagierenden (mittels Entscheidungsalgorithmen) und steuernden (mittels Befehlsalgorithmen) Software, die auf das Fahrwerk (Lenkung) und den Antriebsstrang (Fahrdynamik) wirken, um so dem Fahrer als Arbeitserleichterung zu assistieren oder ihn zeitweilig bis gänzlich zu ersetzen. Auf der Road Map der fahrzeugseitigen Automatisierung sind fünf Entwicklungsstufen (SAE-Levels) 2 bis zur vollen Autonomie des Fahrzeugbetriebes, was also letztlich einen personallosen oder gar insassenfreien Fahrbetrieb bedeutet, definiert. Je höher der Automatisierungsgrad am Fahrzeug ist, desto mehr steigt der Bedarf und die Notwendigkeit des Datenaustausches mit anderen Fahrzeugen (v2v) im unmittelbaren Umfeld, aber auch aus der durchfahrenen Umgebung, von der sich beispielweise Fahrzeuge aus Anlagen des ruhenden Verkehrs 2 SAE-Levels: SAE (Standards Automotive Engineering) International hat fünf Stufen der Automatisierung definiert, die von den Assistenzsystemen über die Teilautomatisierung (Fahrer muss System überwachen und jederzeit die Steuerung voll übernehmen können), die Hochautomatisierung (Fahrer muss der Aufforderung zur Übernahme der Steuerung nachkommen) bis zur Vollautomatisierung (Fahrer ist in definierten Anwendungsfällen von der Steuerung befreit und kann sich andere Tätigkeiten in diesem Zeitraum widmen) reicht. Die höchste Stufe ist das Autonome Fahren des KFZ („Driverless“) mit oder ohne Passagieren, wobei auch die Apparaturen für die Steuerung wegfallen. Automatisiertes Fahren in urbaner Umgebung Herausforderungen aus der Sicht der Stadt- und Verkehrsplanung Automatisierungsstufen, Umgebungserkennung, öffentlicher Raum, Mobilitätsgruppen Heinz Dörr, Viktoria Marsch, Andreas Romstorfer Digitalisierung und Automatisierung bemächtigen sich der Mobilität als Daseinsbedürfnis und des Verkehrssystems als dienende Infrastruktur. Die Ausrüstung der Verkehrsmittel, vor allem der Kraftfahrzeuge, schafft veränderte Bedingungen für die Ausübung der Mobilität durch die Bevölkerungsgruppen in ihren Lebensräumen. Nutzen und Nachteile sind daher aus deren Blickwinkel in Wechselwirkung mit den fahrzeugseitigen Automatisierungstechnologien, die teilweise oder gänzlich ein fahrerloses Bewegen der Fahrzeuge im Verkehrsnetz ermöglichen werden, zu beleuchten. 48 3 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Kommunikation Automatisierungsoptionen in der urbanen Verkehrsorganisation Das Mobilitätssystem ist als Daseinsanspruch aller mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten ausgestatteten Mobilitätsgruppen anzusehen. Die Gestaltung der Mobilität in der Zukunft betrifft nicht allein technologische Aspekte (Stichwort 4.0), sondern ist auch mit den gegensätzlichen Leitvorstellungen von zentraler Lenkung und individueller Bewegungsfreiheit zu verknüpfen. Schließlich mussten Standards wie Barrierefreiheit für mobilitätseingeschränkte Personen, Bevorrangungen für den öffentlichen Verkehr oder die Verkehrsberuhigung in Wohngebieten mancherorts mühsam errungen werden. Daran, und nicht nur am Kundennutzen des Autokäufers, werden der allgemeine Nutzen und vorhersehbare Nachteile der Automatisierungstechnologien im urbanen Verkehrssystem zu bewerten sein. Prinzipiell sind spurgebundene Verkehrssysteme prädestiniert für die Automatisierung des Betriebes im Verkehrsnetz. Die Schienenbahnen haben schon vor Jahrzehnten mit der Linienzugbeeinflussung und dem fahrerlosen Betrieb von U-Bahnen einiges vorweggenommen, was beim Verkehrsträger Straße erst mit hohem Aufwand hergestellt werden müsste. Technisch dafür in Frage kommen auch Straßenbahnen, aber einen fahrerlosen Betrieb im Straßenraum einzuführen, wäre eine politisch heikle Angelegenheit. Der Boom von Straßenbahnprojekten führt zu einer Neugestaltung der Verkehrsflächen, wobei mehr oder minder Flächen für den motorisierten Individualverkehr reduziert und auf die anderen Verkehrsträger umverteilt werden. Das kann zur Folge haben, dass sich die Übersichtlichkeit und Berechenbarkeit für die Automatisierungstechnologien entweder erleichtern oder vor allem an den Knoten schwieriger gestalten. Denn jeder Knoten wird bei einem solchen Umbau nach den örtlichen Gegebenheiten individuell gestaltet, um möglichst allen verkehrsteilnehmenden Gruppen Bewegungskomfort und -sicherheit zu bieten Bild 1 (links): Die neue Tramtrasse in der Mitte einer radialen Achse im südlichen Vorortegürtel von Paris ( T 7 bei Bretagne). Bild 2 (Mitte): Objektreiche Umgestaltung eines Verkehrsknotens an der Porte de Pantin in Paris nach dem Straßenbahnneubau ( T 3b) Bild 3 (rechts): Klare horizontale und vertikale Organisation der Funktionsflächen der Verkehrsträger, wie im jungen Wissenschaftsquartier Berlin-Adlershof, kommt der Automatisierung im Fahrbetrieb entgegen. © Dörr (alle Bilder des Artikels) in den Hauptverkehrsstrom einflechten. Es steigt des Weiteren der Bedarf an einer übergeordneten Vernetzung der Fahrzeuge in den Verkehrsflüssen, etwa um einer Staubildung vorzubeugen, womit der Datenaustausch mit der Verkehrsinfrastruktur (v2i) und ihrem zeitnahen Verkehrskapazitätsmanagement (v2tm2v) angesprochen wird. 3 Das Kraftfahrzeug in der solitären Betrachtung Derzeit vermittelt die Fachdebatte, sofern sie in den Communities der Verkehrsforschung und Stadtplanung überhaupt geführt wird, den Eindruck, dass ein Kraftfahrzeug in der Automatisierungsforschung und Komponentenentwicklung als ein Solitär-Objekt betrachtet wird, das eine Singularität in der Ereignisauslösung bzw. -bewältigung darstellt. Eine Aufbereitung der Umgebung, in der entlang eines Fahrweges Ereignisse auftreten, die eine automatisiert ablaufende Reaktion erforderlich machen, scheint vorderhand auf sehr abstrakter Ebene und nur für Einzelereignisse im Verkehrsfluss stattzufinden. Liest man bei den Auswertungen der KiD 2012 (Kraftfahrverkehr in Deutschland) nach, dann zeigt sich, dass der PKW im üblichen privaten Einsatz eine durchschnittliche werktägliche Fahrleistung von 49-km (in Österreich ca. 35-km) zurücklegt und sich dabei nur 65-min im Fahrbetrieb befindet. 4 Der Pkw wird also hauptsächlich als Nahverkehrsmittel benutzt, das im Übrigen meist schwach besetzt ist. Das ist ein guter Grund, den Fokus auf den Nahverkehr in den Ballungsräumen zu legen, wo vielfältige Herausforderungen auf die automatisierten Fahrzeuge warten. 3 Eine thematisch umfassende Einführung bietet der bei Springer Open erschienene Sammelband: Maurer, M.; Gerdes, J. Ch., Lenz, B. u. Winner, H. (Hrsg.): Autonomous Driving. Technical, Legal and Societal Aspects. Berlin-Heidelberg, 2016. 4 Kraftfahrzeugverkehr in Deutschland 2010 (KiD 2010), Vortrag von Christian NEEF zur Abschlussveranstaltung am 24. April 2012 beim BMVBS in Bonn: Wie oft, wozu, womit und wann? Neue Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Kraftfahrzeugverkehr. THEMA Urbane Kommunikation 49 3 · 2017 TR ANSFORMING CITIES (Bild 1 bis 3). Eine erweiterte Systembetrachtung erfährt das automatisierungstechnologische Anwendungsfeld im Straßenverkehr durch die Einbeziehung des Verhaltens von noch nicht automatisiert-motorisierten VerkehrsteilnehmerInnen und von nichtmotorisierten Mobilitätsgruppen, die die Fahrbahnen mitbenützen, parallel begleiten oder queren (Bild 4 und 5). Stadtplanung und Verkehrsnetzentwicklung Aus demokratiepolitischen Überlegungen ist ein sachlich-realistischer Diskurs aufgrund der Inanspruchnahme öffentlicher Räume und der breiten Betroffenheit Dritter einzufordern. 5 Die Konsequenzen für den Betriebsablauf des Gesamtverkehrs auf dem dafür vorgesehenen Straßennetz mit seiner hierarchischen Funktionsaufteilung vom Fernverkehr über den Stadtverkehr bis zur Quartierserschließung haben noch wenig konzeptive Überlegungen in den kommunalen bzw. regionalen Mobilitätsplänen gezeitigt. Je mehr sich die urbane Mobilität intensiviert und der innerstädtische Verkehr in Hinblick auf die verwendeten Verkehrs(hilfs)mittel diversifiziert, desto aufwändiger gestaltet sich aus Gründen der Verkehrssicherheit und des Mobilitätskomforts die Flächenaufteilung für die Bewegungen der Mobilitätsgruppen. Neben den verkehrsfunktionellen Überlegungen sind außerdem städtebaulich-ästhetische Aspekte in die Planung miteinzubeziehen, wenn eine gewisse örtliche Identität im Stadtraum erhalten werden soll. Nicht zu übersehen ist dabei auch der Wandel der städtebaulichen Raumkonzepte, die zwischen den Prinzipien der horizontalen Funktionstrennung und der vertikalen Funktionsmischung je nach Zeitgeist auf der Suche nach dem 5 Dazu wurde vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) eine Ethik-Kommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“ eingerichtet, deren Bericht im Juni 2017 vorgestellt wurde. Die darin formulierten Grundsätze müssten nun im Rahmen der bevorstehenden Testfälle operationalisiert werden. idealen Modell der Stadtlandschaft hin und her pendeln. Das bedeutet, die Planung ist mit historisch gewachsenen persistenten, aber auch überkommenen Siedlungsstrukturen konfrontiert, die alle so ihre Tücken oder Gunstfaktoren für die Stadt- und Verkehrsplanung der Zukunft aufweisen. Die Orientierung an emergenten Technologien, verborgen eingebaut in Fahrzeugen, hatte bislang wenig Beachtung gefunden, weil man in der klassischen Verkehrsplanung auf die Bedarfsprognose und das Bestandswachstum der Verkehrsmittel konzentriert war, weniger auf die Eigenheiten ihres fahrdynamischen Verhaltens und noch weniger auf ihre Berechenbarkeit und Vertrauenswürdigkeit im Verkehrsablauf. Die sich herausstellenden Konflikte, wie zwischen dem Kraftfahrverkehr und dem Radverkehr, wurden, so es räumlich möglich war, durch Entflechtung von Verkehrsflächen und Benutzungsregulierungen aufgelöst. Diese Separierungsstrategie hat in jüngerer Zeit wieder zu einer, allerdings räumlich sehr begrenzten Gegenbewegung geführt, nämlich der herunterregulierten Mischverkehrsfläche (Shared Space, Begegnungszonen, Anliegerzonen etc.), wo die persönliche Verantwortung (in Form von Rücksichtnahme) stringente Flächenzuweisungen und Benutzungsgebote zumindest teilweise ersetzen soll (Bilder 7 und 8, 11 bis 13). Der urbane Verkehrsraum stellt sich als ein Patchwork aus historisch bestimmten Netzstrukturen, unterschiedlich dynamischen Veränderungen im Bau- und Nutzungsgefüge und zusätzlich verfeinerten Raumansprüchen der Mobilitätsgruppen dar. Die Segregation von soziokulturellen Daseins- Bild 4 und 5: Szenerie eines urbanen Knotens zweier Hauptverkehrsstraßen als Interaktionsraum von Mobilitätsgruppen und Szenengenerator für die Entwicklung von Automatisierungsszenarios (in Wien-Floridsdorf ). 50 3 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Kommunikation äußerungen, gerade im Mobilitäts- und im Verkehrsverhalten, trägt noch ein Übriges zur Komplexität bei. Eine ortsspezifisch vorgenommene Kategorisierung von Verkehrsflächen nach ihrer Benutzbarkeit, ihrer Beschaffenheit und ihrer Nutzungsnachbarschaft kann der Evaluierung dienen, mit welchen Randbedingungen der Einsatz automatisierter Fahrzeuge künftig zurechtkommen müssen wird und ob allenfalls bestimmte Regulierungen nach der StVO ins Auge gefasst werden sollten. Zudem kann eine solche GIS-gestützte Aufnahme für die Generierung von Szenen im Verkehrsgeschehen zur Konstruktion von Testanordnungen nützlich sein (Bild 6). 6 6 Zur methodischen Vorgangsweise der Szenenidentifikation und der Ableitung kritischer Interaktionen zwischen den verkehrsteilnehmenden Mobilitätsgruppen in örtlich konkreten Szenerien, etwa anhand eines stark befahrenen Straßenknotens, ist im Internationalen Verkehrswesen Nr. 3/ 2017 ein Beitrag von denselben AutorInnen erschienen. Städtebauliche Strukturen als Randbedingungen Während in den altstrukturierten innerstädtischen Stadtteilen das Verkehrswegenetz in seiner Konfiguration weitgehend persistent bleibt, können sich die Geschoßnutzungen je nach Immobiliennachfrage permanent verändern mit einer Tendenz zur Intensivierung, wofür Stellplätze oftmals in den Gebäuden aufwändig nachgerüstet werden. Die Fließverkehrsflächen können jedoch kaum ausgeweitet werden. Altstädtische Zentren weisen, das trifft insbesondere auf Österreich zu, verwinkelte unregelmäßige Straßenverläufe auf, die mit kleinräumig wechselnden Befahrungsbedingungen einhergehen und lokaler Verkehrsregelungen bedürfen. Sie bieten sich als Begegnungszonen an, wo die Funktionsflächen nur durch die Oberflächengestaltung angedeutet sind (Bild 7 und 8). In City- Bild 6: Die Mobilitätsorganisation nach ihrer Verkehrsflächenausstattung im Wandel städtebaulicher Konzepte von den 1930er Jahren bis heute (Innsbruck- Nordwest). THEMA Urbane Kommunikation 51 3 · 2017 TR ANSFORMING CITIES Geschäftsstraßen ist mit verstärktem Lieferverkehr und mit Spitzenfrequenzen von nichtmotorisierten VerkehrsteilnehmerInnen zu rechnen, zudem werden sie oftmals von ÖV-Bussen bedient. Außerdem sind Gastgärten und verschiedenstes Straßenmobiliar allgegenwärtig (Bild 8). Die Stadterweiterungen des späten 19. Jahrhunderts haben das rektanguläre Baublock-Rastersystem mit hierarchisch abgestuften Straßenprofilen eingeführt, sodass die Verkehrsinfrastruktur recht günstig berechenbare Befahrungsbedingungen aufweist, aber der Nutzungsdruck schafft Engpässe und Blockierungen, unter anderem durch Lieferverkehre und Baustellen, in den Straßenschluchten (Bild 9 und 10). Die aufgelockerten Wachstumsringe nach dem Zweiten Weltkrieg lassen den Wandel der städtebaulichen Prinzipien gut ablesen, die sich im Zwei- Dekaden-Rhythmus den Bedürfnissen der Zeit angepasst haben. Der freistehenden Scheibenbebauung mit vorgeschalteten Stellplatzflächen folgte ab den 1970er Jahren die Verbannung des ruhenden Verkehrs in den Untergrund oder manchmal in Parkhäuser, jedenfalls verbunden mit einem Etagenwechsel. Dadurch konnte das Wohnquartier in sich verkehrsberuhigt werden, wenngleich befahrbare Wege für Notfall-, Wartungs- und Entsorgungsdienste vorhanden sein müssen. Auch die Spielregeln für ein etwaiges (teil)automatisiertes Fahren dieser Dienste innerhalb von Wohnanlagen müssen noch definiert werden. Das genossenschaftliche Wegenetz einer Gartenstadtgründung der 1930er Jahre kennt nur reduzierte Profile, keine Fußwege oder Bordsteinkanten und ist bei schmalen Parzellenbreiten (etwa 7 m) von einer dichten Abfolge von Garagenzufahrten und Hauseingängen gekennzeichnet. Überhaupt fließen hier in der Benutzung der öffentliche Raum und die privaten Räume ineinander, was besondere Obacht bei der Durchfahrt erforderlich macht (Bild 11). Eine ruhige Wohnsiedlung der 1960er Jahre zeigt die alltägliche Trivialität einer Erschließungsstraße, wo Konfliktsituationen zwischen Schrägparkern, Fußgängergruppen und dem automatisierten Fahrzeug entstehen könnten (Bild 12). Die nach dem Lehrbuch geplante Anliegerstraße heutzutage lässt fragen, mit welcher Normgeschwindigkeit angesichts des Bremsweges sie künftig automatisiert befahren werden sollte, und ob dem Radfahrer im Hintergrund sicherheitshalber nachgefahren wird (Bild 13). Eine besondere Entwicklung haben die radialen Ausfallstraßen genommen, die einem rasanten Strukturwandel der angrenzenden Nutzungen unterliegen, so sind kleinteilige Gewerbestandorte zu großflächigen Handelsstandorten umfunktioniert worden, deren Verkehrserzeugung beträchtliche Ausmaße zu Spitzenzeiten der Konsumnachfrage annehmen kann. Hierbei werden, abgesehen vom Berufspendelverkehr, die zeitlichen Schwankungen im Verkehrsgeschehen und damit in der Verkehrsqualität besonders manifest. Das bringt rhythmische Veränderungen im Fahrzeugmix (nach verschiedenen Fahrzeugklassen, wie PKW, Lieferfahrzeuge, Busse oder schwere LKW) und im Level of Service (Verkehrsqualität und Fließgeschwindigkeit im Verkehrsstrom) im Stadtstraßennetz mit sich. Objekterkennung und „Prediction“ Die abgebildeten Beispiele sind eine Auswahl anderweitiger Befassungen der AutorInnen, die Orte tun dabei nichts zur Sache und stellen keine Testfälle zum Thema dar. Sie sollten aber aufzeigen, mit welchen Herausforderungen in der realen Umwelt die Technologieentwicklungen konfrontiert sind und Hinweise darauf geben, welche Verwaltungskörper und Interessenverbände rechtzeitig Fragen stellen und Aufklärung verlangen sollten. Gerade im urbanen Verkehrsraum stellen sich im Niedriggeschwindigkeitsbereich der ersten und Bild 7 und 8: Begegnungszone in der Altstadt (Wien-Herrengasse), links, und in der vorstädtisch-barocken Geschäftsstraße (Wien-Mariahilferstraße), rechts. 52 3 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Kommunikation letzten Meter vor allem im nachgeordneten Straßennetz die Fragen nach der bodennahen Objekterkennung, etwa der Bordsteinerkennung, falls vorhanden, weil abgesenkt oder von Stellplätzen verstellt, oder der Bodenmarkierungs- und Verkehrszeichenerkennung, solange sie keine Signale aussenden. Des Weiteren handelt es sich um die Erkennung nahe der angepeilten Kfz-Bewegungsbahn aufgestellter statischer Objekte (wie Lichtmasten, Zeitungsspender, Verkehrszeichen oder stabförmige Rückhalteobjekte). Sie werden in einem Objektklassifikator als unbeweglich gespeichert sein. Aber dabei treten nicht nur nationale, sondern auch regionale Eigenarten auf. Sodann sind es die sich bewegenden Objekte- =- Subjekte im Umfeld der Fahrbahn und der angrenzenden Verkehrsflächen, deren Trajektorien zu vermessen und deren raumgreifende Handlungsoptionen abzuschätzen und schließlich deren situatives Verhalten (Vertrauensgrundsatz ? ) einzuschätzen sein werden. Mit der Hochautomatisierung des KFZ kann der Bremsweg vor allem bei niedrigem Geschwindigkeitsniveau deutlich verkürzt werden, weil die Reaktionszeit des Menschen wegfällt, aber der Entscheidungsalgorithmus muss über das Durchsetzen (zum Beispiel gemäß der StVO) oder das Nachgeben befinden. Damit werden auch grundsätzliche moralische Fragen aufgeworfen. 7 7 Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur (2017): Bericht der Ethik-Kommission Automatisiertes und Vernetztes Fahren. Berlin Einschätzen heißt für die Fahrzeugsteuerung vorausschauen, vorhersehen und vorabentscheiden. Vorausschauen bedeutet, ausreichend Blickfeld bzw. Detektionsraum zu haben. Vorhersehen bedeutet, das erkannte Bild in Hinblick auf potenzielle Interaktionen zu interpretieren und Vorabentscheiden bedeutet eine steuernde Reaktion darauf einzuleiten. Bisher hat der häufig als fehleranfällig und als Sicherheitsrisiko denunzierte Mensch diese spontanen Anforderungen im täglichen Verkehrsgeschehen erfüllt. Dieser „Mensch- Maschine-Paarvergleich“ wird beim schrittweisen Verantwortungs- und Funktionstransfer eine spannende Auseinandersetzung werden, die in die Teststrategien methodisch eingebaut werden müssen, ehe eine Zulassung für den alltäglichen Straßenverkehr erwirkt wird. Welchen Prinzipien gehorcht diese „Prediction“? Ableitungen aus den Grundsätzen der StVO, nämlich für die Leichtigkeit, Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs Sorge zu tragen, werden allein nicht ausreichen, weil der inhärente Zielkonflikt nunmehr systemtechnologisch aufzulösen sein wird und nicht mehr dem Menschen situativ delegiert werden kann. Diesbezüglich bildet auch das Selbstverständnis der Autohersteller und ihrer Kundschaft einen Wertehintergrund für die Programmierung von Algorithmen, etwa was den künstlichen Fahrstil anbelangt. Ein Premium-Wagen, der andauernd im Stop-and-Go-Modus zurücksteckt, ist wohl schwer vorstellbar. Es sind also statische Randbedingungen der Fahrwege (geoinformationell gut zu bearbeiten, jedoch aufwändig zu pflegen) und dynamische Randbedingungen im zeitlichen Verkehrsablauf (statistisch brauchbar zu ermitteln, aber möglicherweise ist die Volatilität des Verkehrsaufkommens entscheidend) Bild 9 (links außen): Ständiger Umbau im Bankenviertel von Frankfurt am Main. Die Breite der Gehwege ist den Bürospitzenzeiten geschuldet. Bild 10 (links innen): Nutzungsdruck im Baublock-Raster und Nichtvermehrung der Straßenfläche im Hauptbahnhofsviertel von Frankfurt am Main. THEMA Urbane Kommunikation 53 3 · 2017 TR ANSFORMING CITIES Dipl.-Ing. Dr. rer. nat. Heinz Dörr Beratender Ingenieur für Raum- und Verkehrsplanung arp - planning.consulting.research Kontakt: heinz.doerr@arp.co.at Dipl.-Ing. Viktoria Marsch Ingenieurin für Verkehrslogistik und Ressourcenmanagement arp - planning.consulting.research Kontakt: viktoria.marsch@arp.co.at Dipl.-Ing. (FH) Andreas Romstorfer, M.A. Ingenieur für Logistik, Transport und Verkehrsdienste arp - planning.consulting.research Kontakt: a.romstorfer@arp.co.at in das Automatisierungssystem einzubringen. Nicht übersehen werden dürfen exogene Interventionen aus der umgebenden Nutzungsstruktur, die die Verkehrserzeugung, aber auch das Verkehrsverhalten der unterschiedlichen Mobilitätsgruppen im öffentlichen Raum betreffen und als Eventualitäten auf den Fließverkehr einwirken können. Ihre mit ausreichender Sicherheit versehene Implementierung stellt eine gewaltige Herausforderung dar. Als Anlassfälle können der Unterrichtsbeginn und -schluss von Schulen, die Nähe von Seniorenresidenzen zu ÖV-Haltestellen oder Ausfahrten von Industriestandorten mit einbiegendem Schwerverkehr angeführt werden. Im letzten Fall kann die Interkonnektivität zwischen den Fahrzeugen hilfreich sein. Fazit und Ausblick Eine Frage wird sein, inwieweit die Hochautomatisierung zu einer Verstetigung und Vergleichmäßigung in den Verkehrsabläufen beitragen wird und welche Effekte auf nichtmotorisierte Mobilitätsgruppen zu erwarten sind. Ein skeptischer Aspekt ist außerdem, ob derart die letzten Kapazitätsreserven im urbanen Straßennetz ausgereizt werden, also mehr KFZ-Verkehr ermöglicht wird. Potenzielle Verlierer sind dann die anderen Verkehrsmodi im Umweltverbund. Die Stadt als ein lebendiger Organismus und Ort räumlich konzentrierter Ausübung der Daseinsgrundfunktionen, die allesamt mit Verkehrszwecken verbunden sind, stellt sowohl einigermaßen standardisierbare als auch sehr individuelle Anforderungen - also x2v - an die Mobilitätstechnologien, die nicht nur am kraftfahrzeugseitigen Nutzen ausgerichtet werden sollten. Nach der „autogerechten Stadt“ folgt nicht notwendigerweise die „auto 2 matisierte Stadt“(! ). Das urbane Milieu wird sich in einigen Strukturen an die Digitalisierung seines komplexen „Metabolismus“ anpassen, in anderen Strukturen, die seine Lebensqualität und Identität ausmachen, aber auch widerständig zeigen. Unter anderem das herauszufinden, sollten die urbanen Testfelder in Deutschland, wie in Berlin, Braunschweig, Dresden, Düsseldorf, Hamburg, Heilbronn, Ingolstadt oder München, im Rahmen einer begleitenden und beobachtenden Forschung ermöglichen. AUTOR I NNEN Bild 13: Zeitgenössische Anliegerstraße eines Neubauquartiers in München- Schwabing. Bild 11: Erschließung einer überformten Gartenstadt aus den 1930er Jahren (Innsbruck-Am Lohbach). Bild 12: Ruhiges intimes Wohnquartier aus den 1960er Jahren in Rum bei Innsbruck.
