eJournals Transforming cities 2/3

Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2017-0074
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Die politische Ökonomie der Energiewende

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Kurt Berlo
Oliver Wagner
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82 3 · 2017 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Fachliteratur Bei der Vielzahl der Bücher, die in den letzten Jahren zum Thema Energiewende veröffentlicht wurden, ist das über 300 Seiten umfassende Werk von Tobias Haas eine wohltuende Ausnahme. Schon der Titel der Arbeit lässt ahnen, dass es dem Autor um deutlich mehr geht, als um die x-te Darstellung des Nutzens oder Schadens der Energiewende. In ausführlicher Weise wird eine politökonomische Analyse der Energiewende in drei untersuchten Fällen (EU, Deutschland und Spanien) vorgelegt. Dabei gelingt es dem Autor, das Feld der Auseinandersetzungen um die Veränderungen des Energiesystems unter Einbeziehung historischer Ereignisse und Entwicklungen analytisch sehr präzise darzustellen. Die politische Ökonomie der Energiewende, das wird bereits nach Lektüre der zehnseitigen Einleitung klar, deckt ein komplexes Gefüge verschiedener Interessen aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft auf, welches in Deutschland, Spanien und der EU die Dynamiken des Wandels in Richtung einer dezentralen und auf erneuerbaren Energien basierenden Energieversorgung massiv entschleunigt hat. Die Arbeit des Autors basiert auf einer Reihe wissenschaftlicher Voruntersuchungen und 62-Interviews, die er bei verschiedenen Institutionen, Verbänden, Unternehmen, NGOs, Parteien und Einzelpersonen geführt hat. Kenntnisreich und mit einem akribischen Forschungsdrang zeigt Tobias Haas auf, wie sich (seit den 2000er Jahren in Deutschland und Spanien) im fossil-nuklearen Energiesystem zunächst eine „umkämpfte Entwicklung hin zu einem regenerativen Stromsystem“ vollzogen hat. Dabei muss er allerdings konstatieren, dass sowohl in der EU als auch in Deutschland und Spanien eine „Einbremsung“ des Wandels stattfindet. Nicht zuletzt durch die Novellierungen des EEG seit 2012 habe der Gesetzgeber in Deutschland die Ausbaudynamiken der erneuerbaren Energien deutlich reduziert und schrittweise an den Interessen der etablierten Stromerzeugungswirtschaft ausgerichtet. Vor allem mit der Einführung von Ausschreibungs- und Direktvermarktungspflichten habe das EEG das Aktionsfeld von bürgerschaftlich getragener Energiewende massiv begrenzt; obwohl es vornehmlich ihr Verdienst gewesen sei, dass die erneuerbaren Energien im deutschen Stromsektor einen Anteil von derzeit über 30 Prozent erreichen konnten. Der Autor identifiziert aus einer politökonomischen Perspektive weitere Ursachen und Begründungszusammenhänge für die eindämmende Wirkung auf die Bürgerenergiewende. Im Wesentlichen seien die Finanz- und Wirtschaftskrisen seit 2007 in Verbindung mit ihren austeritätspolitischen Bewältigungsstrate- Die politische Ökonomie der Energiewende Deutschland und Spanien im Kontext multipler Krisendynamiken in Europa, Rezension von Kurt Berlo und Oliver Wagner (beide Wuppertal Institut) zum Buch von Tobias Haas © Springer Studium: Volkwirtschaftslehre (Diplom) und Politikwissenschaft (BA) an der Freien Universität Berlin und Universität Kopenhagen (Erasmus) Wissenschaftliche Hilfskraft: an der TU Dresden Akademischer Mitarbeiter: an der Eberhard Karls- Universität Tübingen von 2012 - 2017 Promotion zum Dr. rer. soc. im Jahr 2016 Ab Herbst 2017: Projekt zur politischen Ökonomie der E-Mobilität an der FU Berlin Arbeitsgebiete: Klima-, Energie- und Verkehrpolitik, Internationale Politische Ökonomie, EU © Tobias Haas TOBIAS HAAS 83 3 · 2017 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Fachliteratur gien vor allem in Spanien dafür verantwortlich, dass die in Gang gesetzten Dynamiken des Wandels „ausgebremst“ und damit ein rascher Umstieg hin zu einer klimaschutzmotivierten dezentralen Energieversorgung verhindert wurden. Er verweist hier auch auf das wirkungsvolle Agieren gegen die Energiewende, das von einflussreichen industriellen, politischen und gesellschaftlichen Akteursgruppen in den beiden betrachteten Nationalstaaten betrieben wurde. Dennoch sieht der Autor, der sich bereits seit vielen Jahren mit vergleichenden Politikszenarien beschäftigt, noch Chancen, die Entwicklungspfade der Energiewende mithilfe neuer Eigentums- und Partizipationsformen weiterhin in eine dezentrale und demokratische Richtung zu lenken. Dies bedürfe künftig aber einer stärkeren Interessendurchsetzung, die von NGOs und Bürgerenergie-Akteuren ausgehen müsse. Dabei werde derzeit eine Forcierung der Energiewende eher und vor allem durch einen Ausstieg aus der Atomkraft und der Kohleenergie vorangetrieben. Gleichzeitig sieht er auf der „europäischen Maßstabsebene“ die Gefahr, dass in „Verbindung mit drohenden Desintegrationsprozessen (Brexit, Grexit etc.)“ die Dynamiken des Wandels beim nachhaltigen Umbau der Energiesysteme eher weiter geschwächt würden. Tobias Hass resümiert, dass das Projekt „Energiewende“ nur gelingen könne, wenn es zu einer wirklichen und grundlegenden Transformation der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse komme. Eine politisch intendierte, auf weitgehenden Konsens basierende und auf technische Veränderung begrenzte Transition, welche vor allem auf Veränderungen bei den dominanten Akteuren der Energiewirtschaft setze, reiche nicht aus, um die Ziele der Energiewende umzusetzen. Bei seiner vergleichenden Untersuchung verwendet Haas den methodischen Ansatz miteinander konkurrierender Hegemonieprojekte sowie die analytische Methode der vergleichenden Politischen Ökonomie. Dabei unterteilt er in einem Rückgriff auf die Forschungsmethoden von Antonio Gramsci die energiepolitischen Auseinandersetzungen in der umkämpften „Arena der Energiewende“ in ein graues und ein grünes Hegemonieprojekt. Aus seiner Sicht besteht das graue Hegemonieprojekt aus dem herrschenden Energiesystem mit seinen verfestigten Konzernstrukturen und Machtregimen. Demgegenüber sieht er im grünen Hegemonieprojekt die alternativen Akteurskonstellationen angesiedelt, die den Wandel einer fossil-nuklearen Energieversorgung hin zu erneuerbaren Energien forcieren. Auf diese Weise zeigt uns Tobias Haas differenzierte Einblicke in die deutsche, spanische und in die EU-Energiepolitik (mit den dazugehörigen und im Hintergrund agierenden einflussreichen Verbänden, mächtigen Lobbygruppen, ökonomischen Konzerninteressen usw.), was bislang nicht oft derart ausführlich und konsequent aus politökonomischer Perspektive vorgenommen worden ist. Zudem schließt Haas mit seinem politökonomischen Untersuchungsansatz eine Lücke in der Transitionsforschung, wie dies von Frank Geels, einem der exponiertesten Vertreter der Multi-Level-Perspektive, eingefordert wurde. Fazit: Selten werden in einer Forschungsarbeit zum Thema Energiewende (die Tobias Haas im Rahmen einer Dissertation als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Tübingen abgeschlossen hat) die Zusammenhänge zwischen den politökonomischen Kontextbedingungen und den energiepolitischen Auseinandersetzungen derart vielschichtig analysiert und die Untersuchungsergebnisse so fachkundig und versiert aufgefächert. Unseres Erachtens hätte er bei seinem Untersuchungsdesign die Bedeutung der örtlichen Ebene für die Umsetzung der Energiewende und damit den bestehenden Gestaltungsspielraum von Kommunen sowie kommunalen Akteuren wie Stadtwerken stärker berücksichtigen können. Gleichwohl ist das Buch für jeden Wissenschaftler, energiewirtschaftlichen Akteur und für an Energiepolitik interessierte Studierende rückhaltlos zu empfehlen. Dr.-Ing. Kurt Berlo Projektleiter Wuppertal Institut Kontakt: kurt.berlo@wupperinst.org Dipl.-Soz.Wiss. Oliver Wagner Wuppertal Institut Kontakt: oliver.wagner@wupperinst.org AUTOREN