Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2017-0097
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Netzersatzanlagen in der Versorgungswirtschaft
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Als Netzersatzanlagen werden im übergeordneten Sinne komplette Notstromversorgungssysteme bezeichnet, die im Falle eines Netzausfalles die Stromversorgung abgegrenzter Einheiten (Versorgungs- oder Entsorgungsanlage, Behörde, IT-Infrastruktur, Firmen, etc.), auch über einen längeren Zeitraum hinweg, vollständig übernehmen können. Die Notwendigkeit von Netzersatzanlagen wird aber trotzdem oft in Frage gestellt, da einerseits länger fristige Netzausfälle (zumindest bisher) kaum aufgetreten sind und andererseits die Vorhaltung der Anlagen, neben Investitionskosten, auch laufende Kosten für Unterhaltung und Betrieb verursachen. Für nicht mit der Materie vertraute Entscheidungsträger ist es deshalb oft sehr schwer, sachorientierte Entscheidungen zu treffen. Hier setzt der Verfasser dieses Berichtes an: Durch Aufzeigen der Zusammenhänge und der Konsequenzen beim etwaigen Ausfall soll ein Bewusstsein für diese komplexe Thematik geschaffen werden, sowie eine neutrale Entscheidungshilfe speziell für den Bereich der Wasserversorgung und der Abwasserentsorgung gegeben werden.
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54 4 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Sicherheit im Stadtraum Netzersatzanlagen in der Versorgungswirtschaft Luxus oder absolute Notwendigkeit? Versorgungssicherheit, Kritische Infrastrukturen, Wasserwirtschaft, Notfall-Management, Netzersatzanlagen Manfred Brugger Als Netzersatzanlagen werden im übergeordneten Sinne komplette Notstromversorgungssysteme bezeichnet, die im Falle eines Netzausfalles die Stromversorgung abgegrenzter Einheiten (Versorgungs- oder Entsorgungsanlage, Behörde, IT-Infrastruktur, Firmen, etc.), auch über einen längeren Zeitraum hinweg, vollständig übernehmen können. Die Notwendigkeit von Netzersatzanlagen wird aber trotzdem oft in Frage gestellt, da einerseits längerfristige Netzausfälle (zumindest bisher) kaum aufgetreten sind und andererseits die Vorhaltung der Anlagen, neben Investitionskosten, auch laufende Kosten für Unterhaltung und Betrieb verursachen. Für nicht mit der Materie vertraute Entscheidungsträger ist es deshalb oft sehr schwer, sachorientierte Entscheidungen zu treffen. Hier setzt der Verfasser dieses Berichtes an: Durch Aufzeigen der Zusammenhänge und der Konsequenzen beim etwaigen Ausfall soll ein Bewusstsein für diese komplexe Thematik geschaffen werden, sowie eine neutrale Entscheidungshilfe speziell für den Bereich der Wasserversorgung und der Abwasserentsorgung gegeben werden. Was ist mit der Wasserversorgung, wenn der Strom ausfällt? © pixabay THEMA Sicherheit im Stadtraum THEMA Sicherheit im Stadtraum 55 4 · 2017 TR ANSFORMING CITIES Es bedarf nicht unbedingt der Lektüre des lesenswerten Buches von Marc Elsberg mit dem Titel „Blackout - Morgen ist es zu spät“, um sich die Auswirkungen eines längerfristigen Stromausfalles anschaulich-fiktiv vor den Augen abspielen zu lassen. Eher nüchtern - aber nicht weniger informativ - ist die Beschreibung der Katastrophenszenarien im Bericht an den deutschen Bundestag, welche eher lapidar zum Ergebnis kommt, dass ein großflächiger Netzausfall sich zu einer „nationalen Katastrophe“ entwickeln würde. Obwohl die Folgen eines länger andauernden Stromausfalles äußerst komplex sind und kaum ein Lebensbereich davon nicht betroffen ist, wird die zentrale Bedeutung einer sicheren und stabilen Stromversorgung vielfach unterschätzt. Ein Grund hierfür ist, dass die Stromversorgung in den letzten Jahrzehnten relativ zuverlässig funktionierte. Zudem herrscht die Meinung vor, dass unser Stromnetz durch die vielen dezentralen Stromerzeugungsanlagen wie Photovoltaik oder Windkraftanlagen sicherer geworden ist, da man nicht mehr nur von einem Kraftwerk abhängig ist. Bei eingehender Betrachtung handelt es sich hier aber um eine große Fehleinschätzung, da sich all die dezentralen Systeme bei einem Netzausfall aus Sicherheitsgründen (es könnte sich ja auch um eine notwendige Netzfreischaltung handeln) selbst automatisch vom Netz nehmen (müssen! ). Aus dem zumindest bisher relativ stabilen Netz leiten deshalb viele ab, dass ja eigentlich keine Gefahr besteht und es deshalb keiner besonderen Vorsorge bedarf. Aus diesem als „Verletzlichkeitsparadoxon“ bezeichneten Verhalten resultiert aber das Risiko, dass die Auswirkungen bei einer tatsächlichen längerfristigen Störung umso dramatischer sind. [1] Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass Netzausfälle über längere Zeiträume hinweg mittelfristig auch unsere Versorgungsinfrastruktur betreffen können. Beispiele auf internationaler und nationaler Ebene gibt es genügend. Naturkatastrophen, Kriege, terroristische Angriffe, gezielte Sabotagen, IT-Angriffe usw., um nur einige wenige zu nennen. So sollte es auch in unserem Land mit vergleichsweise hoher Bevölkerungsdichte eine Selbstverständlichkeit sein, sich entsprechend vorzubereiten und wirkliche Vorsorge zu leisten. Ratgeber, die sich mit dem Problem beschäftigen, gibt es bereits genügend. Woran es fehlt, ist die Umsetzung! Wasserversorgung und Abwasserentsorgung Die öffentliche Wasserversorgung zählt ebenso wie die öffentliche Abwasserentsorgung zu den kritischen Infrastrukturen. Als kritische Infrastrukturen werden Einrichtungen und Institutionen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen verstanden, deren Ausfall oder Beeinträchtigung zu nachhaltig wirkenden Versorgungsengpässen, zu erheblichen Störungen der Sicherheit oder zu anderen dramatischen Folgen führen würde. [2] Ein Ausfall der Stromversorgung wird in aller Regel sofort wahrgenommen und die Folgen sofort sichtbar. Ein Ausfall der Wasserversorgung wird - wenn man nicht gerade unter der Dusche steht - in der Regel erst verzögert wahrgenommen. Allein diese Tatsache reicht schon aus, um das Erfordernis der Wasserversorgung nicht so zu präferieren, wie das der Stromversorgung. Bei genauerem Hinsehen ein großer Trugschluss, wie nachfolgend näher beschrieben wird. Viele denken beim Thema Wasserversorgung nur an die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser. Die Wasserversorgung leistet aber viel mehr. Stromausfall bedeutet: Pumpenstillstand, Speicher können nicht mehr befüllt werden Druckerhöhungssysteme und Anlagen stehen still Zusammenbruch der Wasserversorgung Fäkalientransport kommt zum Erliegen Kanäle verstopfen Klärwerke kippen Löschwasserbereitstellung fehlt Bild 1: USV 230 V für die Steuerspannungsversorgung. © HydroGroup/ Hydro-Elektrik GmbH 56 4 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Sicherheit im Stadtraum So wird zum Beispiel in vielen Regionen das im Brandfall wichtige Löschwasser durch die Trinkwasserversorgung bereitgestellt. Ein Ausfall der Trinkwasserversorgung könnte riesige Großbrände nach sich ziehen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Menschen bei einem Ausfall der Stromversorgung in der kalten Jahreszeit aus der Not heraus vermehrt auch auf offene Feuerstellen zurückgreifen werden (siehe auch Verletzlichkeitsparadoxon). Die Abwasserentsorgung hängt ebenfalls unmittelbar mit der Trinkwasserversorgung zusammen. Spätestens wenn die Leitungen leer sind, kommt der Fäkalientransport zum Erliegen. Die Fäkalien bleiben in den Freispiegelleitungen liegen, vorhandene Pumpwerke können ebenso nicht mehr arbeiten und verstopfen bzw. laufen über. Problematische Situationen sind beim Ausfall der Wasserversorgung auch schnell in den Kliniken, Krankenhäusern sowie Alten- und Pflegeheimen zu erwarten. Zum Teil verfügen diese Einrichtungen über Netzersatzanlagen für die Stromversorgung, die Wasserversorgung ist jedoch nicht abgesichert, im höchsten Falle gepuffert. Nutzviehbetriebe sind ebenso auf eine sichere Wasserversorgung angewiesen. Hier wird Trinkwasser für die Viehfütterung aber auch zur Aufrechterhaltung der Hygiene beim Melken benötigt. In vielen Produktionsbetrieben des Handwerkes und der Industrie bricht die Produktion ohne Wasserversorgung zusammen. Stark betroffen davon sind insbesondere die Lebensmittelindustrie sowie das Lebensmittelhandwerk wie Bäcker und Metzger, welche für die Nahrungsmittelgrundversorgung eine essentielle Rolle innehaben. Neben dem bereits beschriebenen Ausfall der Abwasserentsorgung wird sehr schnell eine massive Verschlechterung der hygienischen Zustände eintreten. Aufgrund der nicht mehr funktionierenden Toiletten in den Wohnungen werden die Menschen ihre Notdurft außerhalb der Gebäude verrichten. Die Körperhygiene wird ebenfalls stark darunter leiden. Der Ausbruch von Seuchen wird nur eine Frage von wenigen Tagen oder Wochen sein. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ein länger andauernder Ausfall der Wasserversorgungssysteme zu massivsten Ver- und Entsorgungsproblemen führen kann. Der Verzicht auf eine Netzersatzanlage ist vor diesem Hintergrund äußerst fraglich, wenn nicht sogar verantwortungslos. USV versus NEA Im Bereich der Steuerungstechnik setzte sich die sogenannte „Unterbrechungsfreie Stromversorgung“ (USV) Bild 1 weitgehend durch. USV-Systeme werden aus Akkumulatoren gespeist. Ihre Aufgabe ist im Wesentlichen der Schutz sensibler technischer Systeme, wie Server, Steuerungssysteme, etc. für eine kurze Zeit zum geordneten Abschalten oder als Überbrückung bis zum Zuschalten einer Netzersatzanlage. Netzersatzanlagen (NEA) Bild 2 sorgen im besten Falle (stationäre Ausführung erforderlich) für ein schnelles, automatisches Zuschalten im Sekundenbereich und damit zu einer Wiederherstellung der örtlichen Stromversorgung auf der Anlage. Netzersatzanlagen sind in der Regel dieselmotorisch getriebene, vollautomatisch arbeitende Generatoranlagen. Sie können mobil oder stationär ausgeführt werden. Mobile Anlagen müssen manuell zugeschaltet werden, wozu auch eine entsprechende Einspeisestelle mit Umschalteinrichtung erforderlich ist. Planung einer NEA Zunächst sind alle Aspekte der Vulnerabilität (Verwundbarkeit, Verletzbarkeit) des Systems mit denen der Resilienz (Widerstandsfähigkeit) des Systems gegeneinander abzuwägen. Ein Wasserversorgungssystem mit Hochbehältern oder Wassertürmen, welche zumindest temporär über den geodätischen Druck versorgen können, ist anders zu bewerten, als reine Tiefbehälter mit nachgeschalteten Druckerhöhungsanlagen. Das Volumen eines Trinkwasserbehälters orientiert sich in der Regel am Tagesverbrauch. Das heißt, dass Hochbehälter zumindest im Stundenbereich eine Versorgung aufrechterhalten können. Eine mehrtägige Versorgung ist aber auch hier nicht gewährleistet. Wasserversorgungssysteme sind heute oft durch IT-Infrastruktur miteinander vernetzt und werden mittels übergeordneter Prozessleittechnik Bild 2: Luftgekühltes Aggregat (Netzersatzanlage). © HydroGroup/ Hydro-Elektrik GmbH THEMA Sicherheit im Stadtraum 57 4 · 2017 TR ANSFORMING CITIES gesteuert. Ein übergeordneter Stromausfall bringt auch diese Systeme zum Erliegen. Manuelle und einfach zu bedienende örtliche Schaltmöglichkeiten für Pumpen, Druckerhöhungsanlagen und Ventile sollten deshalb immer vorgehalten werden. Ferner sind im ersten Schritt alle für den Notbetrieb erforderlichen Aufgaben festzulegen, welche auch die Basis für die Leistungsermittlung des Notbetriebes bilden. Komforteinschränkungen können hier durchaus mit in Betracht gezogen werden, personelle Verfügbarkeiten sind ebenfalls zu berücksichtigen. Eine immer wieder heftig diskutierte Frage ist die Menge des vorzuhaltenden Treibstoffvorrates (Bild 3). Aus Sicht des Verfassers insbesondere vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Problematik eigentlich unverständlich, denn die Treibstoffnachschubsicherung ist ebenfalls zu beachten. Auch diese ist im Falle eines großflächigen Stromausfalles mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr gewährleistet. Spätestens dann stellt sich die Frage nach dem Sinn der ganzen Netzersatzanlage. Ein ebenfalls immer gerne benutztes Argument ist die Treibstoffalterung. Durch einfache Einbeziehung der Anlage in den Regelbetrieb (Anlage muss für Netzparallelbetrieb geeignet sein), stellt sich dieses Argument nicht mehr. So kann die Anlage in regelmäßigen Abständen autark die Stromversorgung übernehmen. Motor und Generator bekommen Betriebsstunden und laufen ein, der Treibstoff wird regelmäßig erneuert. Bei Brunnenanlagen mitten im Wasserschutzgebiet muss die Netzersatzanlage übrigens nicht zwingend im oder beim Brunnenhaus angeordnet werden. Eine extern liegende Trafostation oder Stromübergabestation kann ebenfalls als Standort einer NEA in Betracht gezogen werden. Dies kann auch aus Gründen des Hochwasser- und Überflutungsschutzes erforderlich werden und zwar bei allen Wasserversorgungssystemen wie Brunnen, Aufbereitungsanlagen, Speichern und Druckerhöhungsanlagen. Bei überflutungssicheren Ausführungen sollten Schaltanlagen im Zweifelsfalle am höchsten Punkt im Gebäude aufgestellt werden. Besonderheiten bei einer NEA Im Gegensatz zum öffentlichen Verbundnetz können beim Generatorbetrieb bei Belastungsänderungen deutlich höhere Spannungs- und Frequenzschwankungen auftreten. Ein Lastsprung kann zu einem Spannungseinbruch und einem Frequenzeinbruch auf der Verbraucherseite führen. Ein Lastabwurf kann zu einer Frequenz- und zu einer Spannungserhöhung führen. Mobil oder Stationär Hauptpumpwerke und alle Anlagen mit zentraler Bedeutung sowie hohem Leistungsbedarf müssen mit einem stationären, bei Netzausfall automatisch anlaufenden Generator ausgerüstet werden. Nur so kann ein steter und sofort verfügbarer Einsatz gewährleistet werden. Für den mobilen Einsatz können Notstromaggregate mit 1-Achs-, Tandem- oder 2-Achsfahrgestellen zum Einsatz kommen. Solche Generatoren können an unterschiedlichen Stellen eingesetzt werden Allerdings erfordern diese Generatoren einen hohen Überwachungsaufwand und sind nur dort statthaft, wo nur stundenweiser Betrieb erforderlich ist. Der Aufwand für die Betreuung, die Betankung und das Umsetzen darf hier nicht unterschätzt werden. Spätestens dann, wenn ein Betrieb über mehrere Tage oder Wochen an unterschiedlichen Standorten aufrechterhalten werden soll, werden die Grenzen dieser Lösungen sichtbar. Vom ungesicherten Treibstoffvorrat abgesehen. QUELLEN: [1] Bericht deutscher Bundestag Drucksache 17/ 5672, 2011. [2] Nationale Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen, BMI 2009. [3] Musternotfallplan Stromausfall, Regierungspräsidium Karlsruhe, 2014. [4] Notstromversorgung in Unternehmen und Behörden, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Band 13, 2015. Bild 3: Netzersatzanlage mit Treibstofftank. © HydroGroup/ Hydro-Elektrik GmbH AUTOR Dipl.-Ing. (FH) Manfred Brugger Hydro-Elektrik GmbH Kontakt: mb@hydrogroup.de
