Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2017-0100
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2017
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Chancen und Grenzen des autonomen Fahrens
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Sarah Selinka
Selbstfahrende Autos sind nicht länger eine Zukunftsvision, sondern durch Fahrassistenzsysteme im Alltag tatsächlich erlebbar. Neuste Fahrzeugmodelle sind beispielsweise inzwischen in der Lage, selbstständig die Spur zu halten, beziehungsweise zu wechseln und die Geschwindigkeit anzupassen, ohne dass der Fahrer daran beteiligt ist.
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66 4 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Sicherheit im Stadtraum Entsprechend der Unterteilung autonomen Fahrens in sechs Stufen (Stufe 0 = keine Automatisierung bis Stufe 5 = kein Fahrer erforderlich), befinden sich aktuelle Fahrzeugmodelle auf Stufe 2 (teilautomatisiertes Fahren). Innerhalb dieses teilautomatisierten Fahrens kann der Fahrer die Hände zwar vom Lenkrad nehmen, muss aber trotzdem stets konzentriert den Straßenverkehr im Blick haben, um gegebenenfalls eingreifen zu können. Die Systeme sollen dazu beitragen, Fahrfehler zu vermeiden und den Fahrer zu entlasten, um dadurch die Fahrsicherheit zu erhöhen. Aufgrund der Neuheit dieser Funktionen gibt es bis auf Einzelfälle bislang jedoch keine Studien darüber, ob und in wie weit solche Funktionalitäten überhaupt akzeptiert werden. Es mangelt demnach an Analysen, die die Nutzerwahrnehmung des automatisierten Fahrens im Serienbetrieb untersuchen. Chancen und Grenzen des autonomen Fahrens User Experience Studie in Stuttgart Autonomes (automatisiertes) Fahren, Fahrsicherheit, Nutzerverhalten, User-Experience Sarah Selinka Selbstfahrende Autos sind nicht länger eine Zukunftsvision, sondern durch Fahrassistenzsysteme im Alltag tatsächlich erlebbar. Neuste Fahrzeugmodelle sind beispielsweise inzwischen in der Lage, selbstständig die Spur zu halten, beziehungsweise zu wechseln und die Geschwindigkeit anzupassen, ohne dass der Fahrer daran beteiligt ist. Bild 1: Automatisiertes Fahren im Test. © DHBW THEMA Sicherheit im Stadtraum 67 4 · 2017 TR ANSFORMING CITIES Es stellt sich somit die Frage, welche Chancen und Risiken sich aus Konsumentensicht für Verkehrsteilnehmer ergeben? Wie werden automatisierte Fahrfunktionen vom Endnutzer wahrgenommen? Mit diesen Fragestellungen beschäftigte sich das Zentrum für empirische Forschung (ZEF) gemeinsam mit Studierenden der DHBW Stuttgart im Rahmen einer User Experience Studie zum Thema „autonomes Fahren“. Aufbau der Studie Das Studiendesign basierte auf drei Bestandteilen. Zunächst mussten die Probanden einen Online- Fragebogen ausfüllen, der ihre Einstellungen und Erwartungen an das autonome Fahren ermitteln sollte. Im Anschluss daran wurde eine etwa 30-minütige Testfahrt, auf einer vorab definierten Strecke in Stuttgart, durchgeführt. Als Testfahrzeuge wurden zwei Mercedes-Benz E-Klassen und ein Tesla Model S eingesetzt. Während der Testfahrt wurden verschiedene teilautomatisierte Fahrfunktionen von den Probanden getestet (Bild 1 und 2). Zu den zu testenden Funktionen gehörte ein Spurwechselassistent, selbstständiges Einparken sowie ein Spurhalteassistent, bei denen das Lenkrad losgelassen werden konnte. Im teilautomatisierten Fahrmodus konnte das Fahrzeug außerdem selbst beschleunigen und abbremsen. Nach der Testfahrt wurde von den Probanden ein weiterer Fragebogen ausgefüllt, welcher sich mit der Wahrnehmung und der Bewertung der getesteten Funktionen beschäftigte (Bild-3). Durch die Realisierung einer Testfahrt mit serienmäßigen automatisierten Fahrfunktionen ist das Studiendesign einmalig in der europäischen Forschungslandschaft. Bestehende Studien setzen sich lediglich allgemein mit der Thematik auseinander bzw. arbeiten mit Fahrsimulatoren. Ein echtes Erleben von automatisierenden Fahrfunktionen wurde in diesem Umfang jedoch bisher nicht realisiert. Insgesamt nahmen 204 Probanden an der Studie teil. Hierbei ergab sich eine Verteilung von 74-% männlichen und 26- % weiblichen Probanden. Der Altersdurchschnitt der Probanden lag bei 41 Jahren, wobei die jüngste Person 19- Jahre und die älteste 81-Jahre alt war. Insgesamt gaben rund 21-% der Teilnehmer an, zuvor bereits Fahrzeuge mit automatisierten Fahrfunktionen genutzt zu haben. Zentrale Ergebnisse und resultierende Implikationen Insbesondere das Thema Sicherheit nimmt im Diskurs zur Fahrautonomie eine bedeutende Rolle ein. Eine absolut fehlerfreie Kommunikation zwischen dem jeweiligen Fahrzeug und seiner Umwelt wird stark diskutiert und von Kritikern als nicht zu vernachlässigendes Risiko angesehen. In diesem Zusammenhang erscheint somit interessant, wie Konsumenten bestehende Fahrsysteme diesbezüglich wahrnehmen und bewerten. Manuelle Fahrt Drive Pilot Spurwechsel S Testfahrt Nach-Befragung Vorab-Befragung Evaluation von Wahrnehmungsdimensionen bzgl. automatisierter Fahrfunktionen Abfrage von freien Assoziationen zu automatisierten Fahrfunktionen Evaluation von Wahrnehmungsdimensionen bzgl. automatisierter Fahrfunktionen Abfrage von freien Assoziationen zu automatisierten Fahrfunktionen Bewertung der Fahraufgaben und Abfrage verschiedener Konstrukte (Persönlichkeit,...) User Experience (UX) Testfahrt E- Klasse/ Tesla S Definition verschiedener Fahraufgaben bezogen auf automatisierte Fahrfunktionen Think Aloud Bild 3: Vor und nach der Testfahrt füllten die Probanden Fragebogen zu Erwartungen und Erfahrungen aus. © DHBW Bild 2: Vorab definierte Teststrecke durch Stuttgart. © DHBW 68 4 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Sicherheit im Stadtraum Allgemein betrachtet war insbesondere eine Heterogenität in der Wahrnehmung und Beurteilung der Testfahrer auffällig. Die Analyse der erhobenen Daten legt nahe, dass einige Probanden davon ausgingen, bereits „komplett autonom“ fahren zu können. Ihre Erwartungen wurden daher eher enttäuscht. Andere Testfahrer waren im positiven Sinne überrascht über die Möglichkeiten, die automatisierte Fahrfunktionen schon jetzt bieten. Einige kamen sich daher vor wie im „Raumschiff Enterprise“. Bild 4: Ein großer Teil der Testfahrer ist von der Technologie noch nicht überzeugt. © DHBW 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 2,00% 8,50% 10,50% 21,50% 23,00% 23,50% 11,00% Vorher 1,50% 9,50% 8,50% 8,50% 19,50% 25,00% 27,50% Nachher 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 8,46% 11,44% 13,93% 19,40% 21,89% 17,91% 6,97% Vorher „Diese Technologie ist möglicherweise nicht ausgereift.“ 23,00% 20,50% 18,50% 12,50% 12,00% 9,50% 4,00% Nachher „Ich werde darauf vertrauen, dass die autonomen Fahrfunktionen in allen möglichen Verkehrssituationen funktionieren.“ 1 - Stimme überhaupt nicht zu 2 3 4 5 6 7 - Stimme voll und ganz zu 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1,99% 9,45% 15,42% 21,39% 28,86% 15,42% 7,46% Vorher 5,08% 7,11% 13,20% 13,20% 21,83% 23,35% 16,24% Nachher 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 1,50% 3,50% 4,50% 10,50% 21,00% 32,50% 26,60% Vorher „Ich werde mich sicher dabei fühlen, ein Fahrzeug mit autonomen Fahrfunktionen zu fahren.“ 7,50% 6,00% 6,00% 13,50% 16,50% 28,50% 22,00% Nachher „Autonome Fahrfunktionen können mich in schwierigen Situationen unterstützen (z.B. klimatische Bedingungen, enge oder glatte Straßen)“ 1 - Stimme überhaupt nicht zu 2 3 4 5 6 7 - Stimme voll und ganz zu Mit Blick auf das Thema Sicherheit und damit gekoppelten Themen zeigt die Auswertung, dass sich das Wohlgefühl hinsichtlich der Fahrt mit automatisierten Fahrfunktionen nach der Testfahrt signifikant erhöht. Zudem geben nach der Testfahrt deutlich mehr Probanden an, dass sie sich in der Lage fühlen, die Technologie erfolgreich anwenden zu können. Es zeigt sich allerdings auch, dass das Vertrauen in die fehlerfreie Funktionalität der automatisierten Fahrfunktionen selbst nach der Testfahrt Bild 5: Der zusätzliche Gewinn von Sicherheit wird positiv eingeschätzt. © DHBW THEMA Sicherheit im Stadtraum 69 4 · 2017 TR ANSFORMING CITIES deutlich absinkt. Damit einhergehend schätzen die Testfahrer den aktuellen Stand der Technologie nach der Fahrt schlechter ein (Bild 4). Das individuelle Sicherheitsgefühl der Probanden wurde im Rahmen der Studie ebenfalls explizit abgefragt. Die Datenanalyse macht dabei deutlich, dass durch die Testfahrt das Sicherheitsgefühl hinsichtlich der Autofahrt mit teilautomatisierten Fahrfunktionen positiver eingeschätzt wird, als vor dem Fahrerlebnis. Die Frage nach dem Sicherheitszugewinn durch automatisierte Fahrfunktionen, beispielsweise im Fall von schwierigen Witterungsbedingungen, erfährt ebenfalls eine sehr positive Bewertung. 80- % der Probanden teilen diesbezüglich eine zustimmende Meinung vor der Testfahrt. Die Zustimmung fällt nach der Testfahrt zwar ab, trotz allem stimmen aber noch weit über die Hälfte aller Testfahrer der entsprechenden Aussage zu (Bild-5). Diese Antworttendenzen spiegeln sich ebenfalls in der Analyse der freien Assoziationen zum Thema autonomes Fahren wider. Sowohl vor als auch nach der Testfahrt dominiert hinsichtlich positiver Assoziationen insbesondere das spezifische Thema Warnsysteme (zum Beispiel der Einsatz eines Spurhalteassistenten). Jeweils 44- % der Testfahrer führen diesen Aspekt sowohl vor als auch nach der Testfahrt an. Der allgemeine Sicherheitsgedanke und das Thema Unfallreduzierung durch Fahrautonomie verlieren hingegen nach der Testfahrt an Relevanz für die Probanden. Sie stellen aber trotz allem sowohl vor als auch nach der Testfahrt vergleichsweise häufig assoziierte Themen dar (Bild- 6). Auch hinsichtlich der negativen Assoziationen zeigten sich Veränderungen durch die Testfahrt. So dominierten vorab Aspekte wie beispielsweise die persönliche Überwindung, das Fahrzeug wirklich eigenständig fahren zu lassen sowie ein geringes Vertrauen in die bestehenden Fähigkeiten der Technik. Nach der Testfahrt überwog hingegen das Thema unausgereifte Technik, begründet durch noch ausbaufähige und zu verbessernde Funktionen. Viele Probanden gingen demnach davon aus, dass das Testfahrzeug bereits in der Lage sei, komplett ohne menschliche Unterstützung zu fahren. Dies spiegelt sich auch in der Notwendigkeit, ständig eingriffsbereit sein zu müssen, wider. Dieser negative Aspekt wurde von den Probanden vor der Testfahrt komplett außen vorgelassen (Bild- 7). Im Rahmen des „Think Alouds“, also den direkten Äußerungen der Probanden während der Testfahrt, kristallisierte sich darüber hinaus ein weiteres sicherheitsrelevantes Thema heraus. Die Ausgestaltung des Human-Machine-Interfaces stellt demnach eine bedeutsame Stellschraube dar, wie schnell und stark Probanden Vorher Nachher Positive Assoziationen mit automatisierten Fahrfunktionen Negative Assoziationen mit automatisierten Fahrfunktionen Vorher Nachher Bild 6: Der allgemeine Sicherheitsgedanke und das Thema Unfallreduzierung durch Fahrautonomie verlieren nach der Testfahrt. © DHBW Bild 7: Vor der Testfahrt dachten viele der Probanden, das Testfahrzeug sei bereits in der Lage, komplett ohne menschliche Unterstützung zu fahren. © DHBW 70 4 · 2017 TR ANSFORMING CITIES THEMA Sicherheit im Stadtraum Schlussfolgerung und weitere Forschung Die Studie verdeutlicht, dass das autonome Fahren in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird und dass die Mehrheit der Verkehrsteilnehmer auch offen für dieses Thema ist. Auch wenn die Technik, aus Sicht der Kunden, noch nicht zu hundert Prozent ausgereift erscheint und zum Teil bereits deutlich mehr von den bestehenden Systemen erwartet wird als tatsächlich möglich ist, ist die Gesamtwahrnehmung des Themas eindeutig positiv. Diskussionen rund um das Thema Sicherheit der Fahrautonomie sind darüber hinaus unerlässlich. Gerade die Einschätzungen und Wahrnehmungen der potenziellen Kunden sollte hierbei gehört werden. Nur so kann ein umfassend zufriedenstellendes Produkt entwickelt werden, dass sowohl technisch als auch affektiv bedeutsam ist. Geplant ist eine Reproduktion der User Experience Studie durch das ZEF sowie durch Partnerhochschulen in Italien, Frankreich, Spanien und England. Ein länderübergreifender Datenvergleich, welcher dadurch möglich wird, ist sowohl aus wissenschaftlicher Perspektive, aber auch für OEM, höchst interessant. Zudem sollen durch den Einsatz von EEG und Eye-Tracking Systemen während einer Testfahrt auch kognitive Aspekte hinsichtlich des autonomen Fahrens untersucht werden. dem Fahrzeug hinsichtlich seiner Funktionalität vertrauen und sich darauf einlassen. Im Rahmen dieser Studie erwies sich das Konzept des Tesla Model S als vielversprechender. Klare Umgebungsanzeigen sowie Licht- und Akustiksignale zeigen dem Fahrer hier permanent an, ob automatisierte Funktionen einsatzbereit bzw. aktiv sind. Testfahrer der Mercedes-Benz E-Klasse äußerten sich diesbezüglich kritischer. Tiefergehende Analysen zeigen neben diesen qualitativen sowie rein deskriptiven Ergebnissen weitere interessante Erkenntnisse auf. Demnach haben positive Wahrnehmungsfaktoren, wie ein potenzieller Freizeitgewinn, oder der Ausgleich menschlicher Schwächen einen größeren Einfluss auf das Wohlbefinden bzw. den wahrgenommenen Gesamtwert des autonomen Fahrens als negative Wahrnehmungsfaktoren, wie beispielsweise die Angst vor Technikversagen. Darüber hinaus zeigt sich, dass bei den bestehenden teilautomatisierten Fahrfunktionen insbesondere solche einen hohen Erklärungsbeitrag bezüglich Nutzenwahrnehmung und Innovationsakzeptanz liefern, die als innovativ, aber bereits gut funktionierend wahrgenommen werden. Dazu gehören der Spurhalteassistent und der Geschwindigkeitsassistent. Genau diese Systeme sollten daher im Mittelpunkt der Kommunikationsstrategie von OEM stehen. Assistenzsysteme, die einerseits bereits lange etabliert (zum Beispiel der Parkpilot) oder andererseits, zwar vielversprechend, technisch jedoch noch nicht ausgereift erscheinen (zum Beispiel ein Spurwechselassistent), sollten hingegen in den Hintergrund rücken. Da im aktuell verfügbaren Level 2 der Fahrautonomie ein vollständiges Abwenden vom Fahrgeschehen unmöglich ist, sollten Automobilhersteller Themen wie Freizeitzugewinn bzw. Entspannung während der Autofahrt ebenso wenig offensiv bewerben. Diese Aspekte erscheinen überhaupt erst gerechtfertigt, wenn das Level 3 beziehungsweise Level 4 erreicht wurde. Dieses Vorgehen verhindert darüber hinaus unnötige Enttäuschung bei potenziellen Kunden. Transparenz und Klarheit über die tatsächliche Leistungsfähigkeit des autonomen Fahrens wird mit Sicherheit der erste Schritt sein, um Begeisterung und Präferenz bei den potenziellen Kunden auszulösen. Vermutet wird, dass mit der bereits hohen Nutzungsbereitschaft künftig auch eine höhere zusätzliche Zahlungsbereitschaft für autonome Fahrfunktionen einhergehen kann, wenn Hersteller die identifizierten Wahrnehmungs- und Bewertungstreiber verstärkt berücksichtigen. Dr. Sarah Selinka Wissenschaftliche Mitarbeiterin Zentrum für empirische Forschung (ZEF) Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart Kontakt: Sarah.Selinka@dhbw-stuttgart.de AUTORIN
