eJournals Transforming cities 3/3

Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2018-0058
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Von der Industriebrache zum urbanen städtischen Quartier

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Karl Noé
Tobias Heitmann
Das Schoch-Areal, ein ehemaliges Industriegelände in Stuttgart-Feuerbach, ist Schauplatz eines aufwendigen Konversionsprozesses. Eine hochkontaminierte Industriebrache zeugt hier vom glanzlosen Ende eines Metallveredlungswerkes. Die Stadt Stuttgart sorgte hier als neue Eigentümerin zusammen mit einem in Sachen Rückbau und Sanierung erfahrenen Planungs- und Beratungsunternehmen für ein qualifiziertes Flächenrecycling. Der zukünftige Bebauungsplan des Areals sieht einen hohen Anteil sozial geförderten Wohnraums vor, er soll als Modell für eine sozialverträgliche Stadtentwicklung dienen.
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20 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Noch bis vor wenigen Jahren prägten industrielle Produktionsstätten den Charakter des Stadtteils Feuerbach in Stuttgarts Norden. Einige sind mittlerweile Industrieruinen, wie das Schoch-Areal. Die Stadt hat daher dieses Gebiet in den Fokus ihrer Stadterneuerung gestellt. Aus dem dafür initiierten städtebaulichen Wettbewerb ist ein Siegerentwurf hervorgegangen, der die Entwicklung des Areals zum „Quartier am Wiener Platz“ als Mischgebiet mit Gewerbeanteil und Wohnen vorsieht. Stuttgarts Stadtplaner ergreifen mit diesem aktiven Flächenmanagement die Chance, industrielle Brachflächen qualifiziert zu revitalisieren und der anhaltend starken Nachfrage nach Grundstücken für Wohnen und Gewerbe nachzukommen, ohne wertvolle Böden auf der „grünen Wiese“ für neue Siedlungs- und Verkehrsflächen zu beanspruchen. Mit dem Erwerb des Schoch-Areals trat die Stadt Stuttgart jedoch ein teures Erbe an. Denn da, wo über 80 Jahre lang Metalloberflächen durch Hartverchromung und Eloxierung veredelt worden waren, hatte sorgloser Umgang zu einer hochgradigen Verunreinigung des Bodens und des Grundwassers mit Chrom und leichtflüchtigen Chlorkohlenwasserstoffen (LCKW) geführt. Daher stand vor der Umsetzung der ambitionierten Pläne für eine Neuentwicklung des Areals zum „Quartier Von der Industriebrache zum urbanen städtischen Quartier Konversionsprozess, Flächenrecycling, Altlastensanierung, Revitalisierung, Stadterneuerung Karl Noé, Tobias Heitmann Das Schoch-Areal, ein ehemaliges Industriegelände in Stuttgart-Feuerbach, ist Schauplatz eines aufwendigen Konversionsprozesses. Eine hochkontaminierte Industriebrache zeugt hier vom glanzlosen Ende eines Metallveredlungswerkes. Die Stadt Stuttgart sorgte hier als neue Eigentümerin zusammen mit einem in Sachen Rückbau und Sanierung erfahrenen Planungs- und Beratungsunternehmen für ein qualifiziertes Flächenrecycling. Der zukünftige Bebauungsplan des Areals sieht einen hohen Anteil sozial geförderten Wohnraums vor, er soll als Modell für eine sozialverträgliche Stadtentwicklung dienen. Luftbild Sanierungsobjekt ehemaliges Metallveredlungswerk. © Arcadis/ Werner Kuhnle 21 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum am Wiener Platz“ die umfangreiche Altlastensanierung des rund 14 000 m² großen, massiv kontaminierten Geländes an. Die Last mit den Altlasten Mit dem Problem der Altlasten auf dem Schoch-Areal hat sich das Amt für Umweltschutz der Stadt Stuttgart bereits seit dem Jahr 1974 beschäftigt. Städtische Messungen hatten schon zu dieser Zeit die vermutete Kontamination des Geländes mit dem Schadstoff Chromat bestätigt. In den 1980iger Jahren wurden durch Messstellen auf dem Schoch-Gelände zudem hohe Konzentrationen von LCKW im Grundwasser festgestellt. Der damalige Eigentümer bestritt, Verursacher der Schadstoffeinträge zu sein. Ein daraus resultierender langjähriger Rechtsstreit wurde durch die Insolvenz des Unternehmens beendet, ohne dass dieser achtlose und heute kaum noch vorstellbare Umgang mit Schadstoffen zu Konsequenzen geführt hätte. In den Jahren 2011 und 2013 erwarb die Stadt Stuttgart alle Flurstücke des Geländes und war sich der immensen Aufgabe, die die Revitalisierung dieses Areals mit sich bringen würde, von Anfang an bewusst (Bild 1). Die Gesamtkosten betrugen rund 22 Mio. €, wovon etwa 2,6 Mio. € auf den Rückbau der oberirdischen Bausubstanz und etwa 19,4 Mio. € auf die unterirdische Altlastensanierung entfielen. Ohne Fördermittel, die das Land Baden-Württemberg für die Altlastenermittlung und -sanierung bereitstellt, könnten Kommunen Projekte dieser Dimension nicht angehen. Im Sanierungsfall Schoch-Areal beträgt die Förderung insgesamt 14,5 Mio. €. Wo ist was und wieviel? Um das genaue Ausmaß der Kontamination zu ermitteln sowie daraus die notwendigen Sanierungsmaßnahmen abzuleiten, holte sich das zuständige Amt für Umweltschutz mit dem Sanierungsexperten Arcadis fachkundige Unterstützung. Und wie am Beginn eines jeden solchen Projektes wurde mit der detaillierten Beprobung des kontaminierten Geländes die entscheidende Grundlage für alle weiteren Sanierungsschritte gelegt. Insgesamt erfolgten 121 Sondierungen bis zu 12 m Tiefe und 18 Bohrungen bis zu einer Tiefe von 20 m. Die Untersuchung der dabei generierten 2400 Bodenproben ergab eine systematische Schadstoffanalyse des Untergrundes. Auch für die oberirdische und oberflächennahe Gebäudesubstanz des Geländes wurden entsprechende Proben erfasst. Die Ergebnisse der Schadstoffanalyse übertrafen die schlimmsten Befürchtungen: Der gemessene Chromat-Gehalt im Boden betrug bis zu 5200 mg/ kg und der LCKW- Gehalt bis zu 14 000 mg/ kg. Zusammenhängende Belastungsbereiche reichten bis in eine Tiefe von mehr als 11 m unter Geländeoberkante (GOK), wobei das oberste Grundwasservorkommen des Geländes bei 4 bis 4,5 m liegt. Boden und Bausubstanz waren derart stark verseucht, dass der laut Bundes-Bodenschutz- und Altlastenverordnung (BBodSchV) zugelassene Prüfwert für Chromat im Grundwasser von 8 μg/ l um das 14 000-fache und der Prüfwert für LCKW von 10 μg/ l um das 500-fache überschritten wurde (Bild 2). Daher stand relativ schnell fest: Eine signifikante Verringerung der Schadstoffbelastung des Grundwassers war in absehbarer Zeit nur durch den Aushub des kontaminierten Bodens erreichbar. Alles muss raus! Nachdem feststand, mit welchen Schadstoffen wo und in welchen Konzentrationen zu rechnen war, konnte mit der Auswahl geeigneter Sanierungsmaßnahmen begonnen werden. Dabei galt es, trotz der außerordentlich hohen Schadstoffkontaminierung ein hinsichtlich der Machbarkeit, der Kosten, der Bauzeit, aber Bild 1: Kontaminierte Hinterlassenschaft des ehemaligen Metallveredlungswerkes. © Arcadis/ Tobias Heitmann Bild 2: Stark mit Chromat verseuchter Boden. © Arcadis/ Tobias Heitmann Bild 3: Großlochbohrung für den fachgerechten Aushub des kontaminierten Bodens © Arcadis/ Tobias Heitmann 22 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum auch der Belastungen wie Lärm, Schmutz und Erschütterungen während Rückbau und Ausführung ein optimales Sanierungskonzept zu entwickeln. Vor dem Bodenaustausch war ein vollständiger Rückbau der teilweise massiv mit dem hochgiftigen Chrom VI verseuchten Bauwerke notwendig. Bei der Planung des fachgerechten Aushubs und der Entsorgung von etwa 65 000 m³ kontaminierten Bodens bis zu einer Tiefe von über 11 m waren die Bau- und Umweltexperten besonders gefordert. Je nach Geometrie und Lage der abgegrenzten Sanierungsbereiche sowie den zu ergreifenden Arbeits- und Immissionsschutzmaßnahmen kamen zwei präferierte Verfahren zur Anwendung: Aushub aus offenen Baugruben, zum Teil mit Wasserhaltung sowie überschnittene Großlochbohrungen (Bild 3). Aufgrund der extremen Schadstoffkonzentration waren während der gesamten Bauausführung ein spezielles Handling sowie umfangreiche Monitoring- und Grundwassersicherungsmaßnahmen vorgesehen. Zum Beispiel musste zur Entfernung der beim Aushub mobilisierten Schadstoffe das Grundwasser abgepumpt werden. Hier wurde die vorhandene hydraulische Abstromsicherung mit Reinigung während der gesamten Maßnahme weiter betrieben und das ansonsten halbjährlich durchgeführte Grundwassermonitoring deutlich intensiviert. Ganz großes Saubermachen Schaut man im Internet den Zeitrafferfilm des Rückbaus und der Bodensanierung an (https: / / w w w . y o u t u b e . c o m / w a t c h ? v = _4xdE2gCZTQ), scheint alles ganz einfach zu sein. Jedoch haben die Sanierungsarbeiten eine besonders gute Koordination und Ausführung aller Sanierungsschritte erfordert. Die Stadt Stuttgart beauftragte daher wiederum Arcadis mit den Planungsleistungen zur Umsetzung des Sanierungskonzeptes, der Vorbereitung und Mitwirkung bei der Vergabe der Bau- und Analytikleistungen sowie der Bauüberwachung des Sanierungsprozesses. Zuerst mussten alle oberirdischen Gebäude und Gebäudeteile auf dem Gelände rückgebaut und entsorgt werden. Nicht nur die beachtlich hohe Schadstoffbelastung der Bausubstanz erforderte besondere Aufmerksamkeit, sondern auch der Rückbau des etwa 60 m hohen Kamins. Dann kam der größte Brocken - der Bodenaushub. Das Unternehmen Geiger, ebenfalls in Sachen Umweltsanierung sehr erfahren, wurde nach einer EUweiten Ausschreibung schließlich mit der Ausführung der unterirdischen Sanierungsarbeiten beauftragt. Bagger rollten an und hoben an genau festgelegten Stellen den mit Chromat kontaminierten Boden aus. Im Baufeld Nord befand sich die mit 1450 m² und einer Tiefe von etwa 12,5 m größte Baugrube (Bild 4). Temporär eingebrachte Spundwände sorgten für deren statische Absicherung und ermöglichten die für die Trockenhaltung der Baugruben und die Zurückhaltung der mobilisierten Schadstoffe notwendige Wasserhaltung (Bild 5). Die Spundbohlen reichten stellenweise bis 18,5 m unter GOK und konnten nur über vorherige Austausch- und Lockerungsbohrungen in den Boden getrieben werden. Die Tiefe der Baugrube erforderte aufgrund des laufenden Anlieferungsverkehrs der angrenzenden Firma zudem drei Lagen Verpressanker zur Stabilisierung. Der ausgehobene kontaminierte Boden, insgesamt etwa 14 000 m³ allein aus dieser Baugrube, musste für eine Haufwerksbeprobung zwischengelagert und anschließend entsprechend der Deklaration entsorgt werden. Während des Aushubs sorgten Nebelkanonen für einen Wasserschleier, der verhinderte, dass sich kontaminierte Stäube über die Luft verbreiten. Ebenso wurde der Bodenaushub bei der Zwischenlagerung und beim Abtransport mit Planen abgedeckt, um auch hier Staubbildung zu vermeiden. Die ausgekofferten Bereiche wurden im Anschluss mit unbelastetem Boden verfüllt. An den LCKW-kontaminierten Stellen, wie dem mit 15 m tiefsten Schadensbereich im Baufeld Nord, waren Spezialbohrkommandos am Werk. Mit dem Großlochbohrverfahren, einer speziell für den Umweltbereich adaptierten Lösung für kleinräumige Hot- Spot-Sanierungen, wurde jeweils mit einem Durchmesser von Bild 5: Luftperspektive: Baugrube und abgedeckter, kontaminierter Bodenaushub © Arcadis/ Tobias Braun Bild 4: Spundwände zur statischen Absicherung der tiefen Baugruben © Arcadis/ Tobias Heitmann 23 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum 1,5 m bohrlochweise kontaminierter Boden durch sauberen Boden ausgetauscht. Eine direkte Absaugung der Luft am Bohrloch und am Radlager wirkte einem Freiwerden von LCKW während des Bohrprozesses entgegen. Der Aushub des kontaminierten Materials betrug insgesamt rund 140 000 t, etwa 60 % davon waren hoch mit Chromat oder LCKW belastet, zum Teil derart stark, dass die Entsorgung in Untertagedeponien notwendig wurde. Lukrative Perspektiven Die Altlastensanierung ist nun fast geschafft. Der aufgestellte Sanierungsplan konnte konsequent in die Tat umgesetzt und damit ein schwerwiegendes Altlastenproblem nachhaltig gelöst werden. Von großem Vorteil erwies sich dabei, dass das begleitende Planungs- und Beratungsunternehmen nicht nur mit der Schadstoffanalyse betraut war, sondern ebenso mit der Erstellung des Rückbau- und Sanierungsplans und der Ausschreibungsunterlagen sowie mit der Bauüberwachung und dem Monitoring. Damit verfügten die Projektmitarbeiter über die erforderliche Datenbasis, um Optimierungsoptionen und Synergien bezüglich zeitlicher und planerischer Koordination von Rückbau und Sanierung frühzeitig zu erkennen und in der Begleitung beider Gewerke zu berücksichtigen. Mit der Altlastensanierung des Geländes der ehemaligen Metallveredlung ist der wichtigste Schritt bei der Umwandlung von einer hochkontaminierten Industriebrache zu einem neu zu bebauenden innerstädtischen Areal getan. Nun kann ein weiterer Schritt der Revitalisierung folgen und mit der Entwicklung und Vermarktung des Areals begonnen werden. Die dafür erarbeiteten Konzepte und Strategien folgen dabei konsequent dem Grundsatz der sozialen Ausgewogenheit. Auf diese Weise sollen Grundstücksveräußerungen zu Höchstpreisen verhindert werden. Bei der Vermarktung wird das sogenannte Konzeptverfahren für Bauträger und Baugemeinschaften angewendet. Damit verfolgt die Stadt das Ziel, bei der Grundstücksvergabe solchen Konzepten den Vorrang zu geben, die beispielsweise mit Barrierefreiheit, effizienter Wohnflächengestaltung, sozialen Integrationsleistungen sowie Innovationen bei der Energieversorgung punkten. Spannend wird dabei ebenso werden, wie sich die neu zu bebauende Fläche mit Büros, Läden, Restaurants, Wohnungen, Arztpraxen, sozialen Einrichtungen sowie grünen Innenhöfen und freien Sichtachsen in den bestehenden Stadtteil mit überwiegender gewerblicher Nutzung integriert (Bild 6). Für den angespannten Wohnungsmarkt Stuttgarts wird dieses Projekt insgesamt rund 150- Wohneinheiten, etwa 100 davon für den geförderten Wohnungsbau, bereitstellen. Und da das neue „Quartier am Wiener Platz“ in unmittelbarer Nähe zu U- und S-Bahn liegt, erhoffen sich die Stadtplaner mit ihrem angestrebten Mobilitätskonzept eine gewisse Entlastung des Stadtteils vom Autoverkehr. Für die, die schon immer Bewohner dieses Stadtteils sind, wird sich mit der modernen Stadtarchitektur ein langersehnter Wunsch erfüllen: Auf einer der geplanten grünen Sichtachsen wird bald eine direkte Verbindung vom S-Bahnhof zur Stadtmitte möglich sein und die Umrundung einer morbid anmutenden Industrieruine damit endgültig Geschichte sein. Es ist ohne Zweifel ein Kraftakt, aus einer hochkontaminierten Industriebrache ein urbanes Stadtquartier zu entwickeln. Doch angesichts des ambitionierten Ziels der Bundesregierung, den Flächenverbrauch bis zum Jahr 2020 deutschlandweit auf 30-ha pro Tag zu reduzieren, wird ganz klar: Kommunen, die diese Herausforderung annehmen, verschaffen sich eine Vielzahl aussichtsreicher Optionen für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Auf Landesebene existieren dafür zudem eine Reihe von Fördermöglichkeiten, sodass in Kooperation mit qualifizierten und erfahrenen Partnern mit der Revitalisierung brachliegender Flächen erfolgreich ein neues Stück Stadtgeschichte geschrieben werden kann. Bild 6: Modernes Wohnen im „Quartier am Wiener Platz“. © Thomas Schüler Architekten Stadtplaner Dr. Karl Noé Director Environment Europe Central Stuttgart Arcadis Germany GmbH Kontakt: karl.noe@arcadis.com Tobias Heitmann Projektleiter Stuttgart/ Karlsruhe Arcadis Germany GmbH Kontakt: tobias.heitmann@arcadis.com AUTOREN