eJournals Transforming cities 3/3

Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2018-0065
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2018
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Ideen zu einer Theorie der Straßenraumgestaltung

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2018
Klaus Füsser
Bei der Konzeption, Planung und Gestaltung öffentlicher Räume können wir uns heute im Wesentlichen nur auf die Intuition, Kreativität und Erfahrung der am Bau beteiligten Praktiker verlassen. Wir finden zwar einige Theorie- und Lehransätze, auf die im Folgenden eingegangen wird, jedoch keine geschlossene und überzeugende Gesamttheorie. Diese wäre jedoch notwendig, um den Bedürfnissen der Straßenraumnutzer entsprechend öffentliche Räume zu planen, zu gestalten und zu betreiben. Dieser Aufsatz möchte zur weiteren Entwicklung dieser Theorie anregen.
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36 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Theorie- und Lehransätze In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte Michael Trieb eine Theorie der Stadtgestaltung [1], in der er sich auf die Untersuchungen von Kevin Lynch zum Stadtbild [2] bezog. Trieb formulierte die Ebenen Stadtgestalt, Stadterscheinung und Stadtbild und beschrieb Planungsansätze für jede dieser Ebenen. Der Soziologe Hans Paul Bahrdt hatte zu dieser Zeit bereits seine Thesen zum öffentlichen Raum [3] veröffentlicht und diesen vom halböffentlichen sowie privaten Raum abgegrenzt. Für den öffentlichen Raum konnte er dabei auf die Arbeiten von Erving Goffman zurückgreifen, der umfangreiche Untersuchungen zum Verhalten in sozialen Situationen [4] dokumentiert hatte. Klaus Füsser und Dieter Rosenstein nutzten für ihre Diplomarbeit [5] diese Erkenntnisse und versuchten diese für die Praxis der Straßenraumgestaltung anzuwenden. In der Folge konnten dann Harald Heinz et al. über mehrere Forschungsprojekte für die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) die „Empfehlungen zur Straßenraumgestaltung innerhalb bebauter Bereiche“ [6] ausarbeiten. Der aktuelle Stand der Planungspraxis wurde dann von Harald Heinz in „Schöne Straßen und Plätze“ [7] dokumentiert. International sind die Planungen und Veröffentlichungen von Jan Gehl [8] von Bedeutung. An diese Werke möchte ich im Folgenden anschließen. Der Raum als soziale Konstruktion Analog zu Michael Trieb kann man für den öffentlichen Raum die Ebenen Raumgestalt, Raumerscheinung und Raumbild definieren. Wir betrachten hier den öffentlichen Raum im Freien, somit nicht Räume in Gebäuden. Dies meint im Besonderen Straßenräume, also Straßen und Plätze sowie Grünflächen und Parkanlagen in der Stadt. Raumgestalt betrifft dabei den topografisch und mathematisch definierten Raum, also im Wesentlichen Lage und Abmessungen eines Raumes. Raumerscheinung soll das enthalten, was auf einen Nutzer an einem bestimmten Standpunkt einwirkt. Dies sind einerseits die Perspektive, die an einem bestimmten Standort dem Beobachter geometrisch erscheint, aber auch das, was in Abhängigkeit von den Lichtverhältnissen und der Beleuchtung überhaupt erst wahrgenommen werden kann. Dazu kommen akustische (beispielsweise Lärm), taktile (beispielsweise Wind) und andere sensorische Eindrücke (beispielsweise Ideen zu einer Theorie der Straßenraumgestaltung Öffentlicher Raum, Soziale Sicherheit, Nutzungskonflikt, Soziales System, Kommunikation, Raumbild Klaus Füsser Bei der Konzeption, Planung und Gestaltung öffentlicher Räume können wir uns heute im Wesentlichen nur auf die Intuition, Kreativität und Erfahrung der am Bau beteiligten Praktiker verlassen. Wir finden zwar einige Theorie- und Lehransätze, auf die im Folgenden eingegangen wird, jedoch keine geschlossene und überzeugende Gesamttheorie. Diese wäre jedoch notwendig, um den Bedürfnissen der Straßenraumnutzer entsprechend öffentliche Räume zu planen, zu gestalten und zu betreiben. Dieser Aufsatz möchte zur weiteren Entwicklung dieser Theorie anregen. Bild 1: Raumgestalt. © Klaus Füsser 37 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Gerüche) ebenso wie chemische und physikalische Einwirkungen etwa Feinstaub oder andere Luftschadstoffe. Schwerpunkt der Betrachtungen soll das Raumbild sein. Schon Kevin Lynch konnte mit seinen „Mental Maps“ - in denen Stadtbewohner wesentliche Elemente ihrer Stadt aus dem Gedächtnis aufzeichneten - zeigen, dass Menschen städtische Räume recht unterschiedlich wahrnehmen und auch nutzen. Martina Löw entwickelt in ihrer Raumsoziologie [9] die These weiter, dass Raum sozial konstituiert wird. Dies ist für die Ebene des Raumbildes überzeugend, für die anderen Ebenen der Raumgestalt und der Raumerscheinung jedoch weniger hilfreich. (Bilder 1 bis 3) Löw unterscheidet zwei Prozesse der Raumkonstruktion: Das „Spacing“, was im Wesentlichen das Errichten der Raumgestalt und das Positionieren von Gegenständen und Personen meint. Diese Positionierungen sind als topologische Anordnungen zu verstehen, also Anordnungen in Relation zu anderen Anordnungen (beispielsweise Nähe und Ferne, Sichtbeziehungen, Zugänglichkeiten). (Bild 4) Daran anschließend findet eine „Syntheseleistung“ statt, die diese Elemente zu Räumen komponiert - also entscheidet, was zum betrachteten Raum als zugehörig bzw. nicht zugehörig empfunden wird. Der Synthesebegriff spiegelt den Wahrnehmungsprozess in der Deutung der Gestaltpsychologie wider, die davon ausgeht, dass Menschen ihre Sinneseindrücke entsprechend ihren Bedürfnissen selektieren und zu für sie sinnvollen Gestalten zusammenfassen [10]. Auch das Konzept des Lebensraums von Kurt Lewin aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts könnte für tiefergehende Betrachtungen hilfreich sein [11]. Lewin definiert mit dem Lebensraum eine psychische Konstruktion, also ein individuelles Bild von einem personenbezogenen Weltausschnitt und damit auch die Erkenntnis, dass diese Bilder von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein müssen, selbst dann, wenn Menschen die gleiche Umwelt betrachten. Niklas Luhmann hat die heute in wesentlichen Zügen akzeptierte Theorie sozialer Systeme [12] entwickelt und Kommunikation als die Leitgröße dargestellt, über die diese Systeme gebildet werden und funktionieren. Martina Löw folgend und an Niklas Luhmann anschließend ist der sozial konstituierte Raum ein soziales System, das definitionsgemäß von Menschen, also den Nutzern dieser Räume, geschaffen wird. Dieser Raum - also das Raumbild - entsteht im „Kopf“ der Nutzer auf der Grundlage ihrer Vorerfahrungen, ihrer Nutzungsabsichten sowie ihrer Wahrnehmungen der Örtlichkeit. Jemand, der auf dem Weg zur Arbeit von einer Bushaltestelle zur U-Bahn eilt, nimmt einen Raum anders wahr als jemand, der nach Feierabend einen gemütlichen Schaufensterbummel macht. Fußgänger haben andere Fortbewegungsgeschwindigkeiten als Radfahrer und erst recht als Autofahrer. Diese nehmen dementsprechend - unter anderem abhängig von den zur Verfügung stehenden Beobachtungszeiten - andere perspektivische Ausschnitte wahr. Unterschiedliche Altersgruppen, unterschiedliche gesellschaftliche Milieus und unterschiedliche kulturelle Hintergründe führen zu unterschiedlichen Raumbildern. Während ein Graffiti-Künstler seinen Raum mit „Tags“ markiert und ihn sich dadurch aneignet, im weitesten Sinne vielleicht sogar ein Stück Heimat für sich schafft, kann ein anderer Nutzer dies als Schmiererei oder sogar Verwahrlosung deuten, Unsicherheitsgefühle entwickeln und sich von solchen Räumen ausgeschlossen fühlen. Während man im privaten Raum allein sein kann, wird man im öffentlichen Raum mit anderen Menschen, bekannten oder fremden, konfrontiert. Dies schafft Möglichkeiten zur Begegnung, Anregung und Unterstützung aber vielleicht auch Unannehmlichkeiten durch unliebsame Konfrontationen oder gar Bild 2: (links) Raumerscheinung. © Klaus Füsser Bild 3: (rechts) Raumbild. © Klaus Füsser 38 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Gefahren, etwa durch Gewalt. Zugleich wird durch Menschen im öffentlichen Raum, meist allein durch bloße Anwesenheit, bewusst oder unbewusst, gegenseitige soziale Kontrolle über das Verhalten ausgeübt. Dadurch entsteht ein Beobachtungsnetz von Anwesenden, das soziale Sicherheit erzeugen kann und in aller Regel auch erzeugt. In Diskussionen mit Jeremy Klemens zu seiner Masterarbeit (siehe Beitrag ab Seite 78) entwickelten wir den Ansatz, öffentlichen Raum als soziales System auf der Ebene des Raumbildes zu betrachten. Während Klemens diesen Ansatz zur Weiterentwicklung des Kommunikationsfaktors [13] nutzt, um Gestaltungsempfehlungen für öffentliche Räume zu entwickeln, werden im Folgenden Aspekte des menschlichen Miteinanders und der Struktur von Konflikten im öffentlichen Raum betrachtet. Kommunikation zwischen Menschen Das soziale System des öffentlichen Raumes wird wie auch jedes andere soziale System über Kommunikation erschaffen. Kommunikation benötigt zumindest zwei Teilnehmer, denn Luhmann definiert Kommunikation als die Kette von „Information - Mitteilung - Verstehen“. Wenn jemand allein in seinem privaten Raum redet, sprechen wir also nicht von Kommunikation. Kommunikation kann verbal oder nonverbal sein. Watzlawick [14] machte deutlich, dass man in sozialen Systemen nicht „Nicht Kommunizieren“ kann. Auch mit Nichtsprechen gibt man eine Information, wenn etwa durch Schweigen eine Mitteilung erzeugt wird, die dann recht unterschiedlich verstanden und interpretiert werden kann. Die Art sich zu kleiden, zu bewegen, zu schauen, die Art von Handlungen im öffentlichen Raum sind jeweils Formen von Kommunikation (Bild-5). Die Art einer Kommunikation, die sich an eine vorher gegangene Kommunikation anschließt, ist davon abhängig wie die Mitteilung verstanden (also interpretiert) worden ist. Die maßgebliche Unterscheidung ist dabei, ob die Mitteilung positiv (beispielsweise: Ich fühle mich sicher) oder negativ (beispielsweise: Ich fühle mich unsicher) verstanden wurde. Goffman hat diese Kommunikationsstrukturen für den nordamerikanischen Kulturraum in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts analysiert und dabei auch für uns heute noch hilfreiche Erkenntnisse gewonnen:  Die Begegnung von Individuen in sozialen Situationen ist nie unproblematisch.  Der Andere wird daher erst einmal analysiert, ob er gefährlich oder nicht gefährlich ist.  So entstehen Kommunikationsstrukturen, die in diesen unsicheren Begegnungen Schutz erzeugen (beispielsweise Ausrichtung der Blickrichtung, Blickdauer, Körperhaltung, Gehrichtung, Gehgeschwindigkeit).  Kommunikationsstrukturen unterscheiden sich grundsätzlich dadurch, ob die aufeinander treffenden Personen sich kennen oder nicht kennen.  Um Gefahrlosigkeit anzuzeigen - und auch um sich vor Informationsüberflutung zu schützen - begegnen sich Fremde im öffentlichen Raum in aller Regel mit „höflicher Gleichgültigkeit“.  Menschen, die sich kennen, zeigen hingegen an, dass sie den Anderen zur Kenntnis nehmen und respektieren. Dabei kommunizieren sie im Rahmen der Konventionen ihrer Nutzergruppe/ Community. Um Goffmans Erkenntnisse zu aktualisieren, sind im Besonderen ergänzende Analysen von Gender- und Diversity-Aspekten, kulturellen Verhaltensunterschieden sowie Verhaltensmustern sogenannter problematischer Nutzergruppen von Interesse. An zentralen Orten kann auch das Verhalten bestimmter touristischer Gruppen von Bedeutung sein. Interaktion mit Objekten Gestaltung und Pflege von Gebäuden und die Qualität von Ausstattungen des öffentlichen Raumes haben Einfluss auf das Verhalten der Nutzer. Ein gepflegter Park informiert: „Hier fühlt sich jemand zuständig und hält die Dinge in Ordnung“ und „Hier ist vermutlich niemand mit zerstörerischen Absichten unterwegs, der mir gefährlich werden könnte“. Dies ist allerdings keine Kommunikation in soziologischer Hinsicht, da dieser Prozess ja auch eintritt, wenn nur eine Person in einem Raum ist. Wir greifen nun zu einem Trick und erweitern den Kommunikations- Bild 4: Spacing von Gegenständen und Menschen. © Klaus Füsser 39 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen begriff, indem wir die Beobachtungsspanne aus der Gegenwart (eine Person im Raum) in Vergangenheit und Zukunft ausdehnen. Beispiel: Person 1 betritt einen öffentlichen Raum, entleert eine Glasflasche und wirft diese zu Boden. Die Flasche zerspringt. Person 1 verlässt den Ort. Einige Zeit später Zeit betritt Person 2 diesen Raum, sieht die Scherben und deutet diese als Verwahrlosung und Gefahr, dass eine Person, die unangenehm oder gar gefährlich ist, auftauchen könnte. So erzeugen Informationen aus der Vergangenheit Mitteilungen in der Gegenwart, die entsprechend der Konventionen einer Community interpretiert werden und das Verhalten der Nutzer in der Zukunft beeinflussen (beipielsweise: Ich benutze diesen Weg nicht mehr) (Bild 6). Gegebenenfalls werden auch neue Informationen angelegt, wenn zum Beispiel Person 2 die Scherben aufsammelt und sie in einen Müllbehälter wirft. Kommunikation muss allerdings anschlussfähig bleiben - ein Gebäude, das aus Gründen des Denkmalschutzes noch Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg hat, gibt keine Information in dem Sinn „Achtung, hier wird geschossen“. Wenn keine Kommunikation stattfindet, kann man nicht mehr von einem sozialen System sprechen und in strengem Sinne dann auch nicht mehr von öffentlichem Raum. Wenn Sie auf einer einsamen Wanderung durch eine menschenleere Landschaft auf ein verlassenes und verfallenes Dorf treffen, stellt der alte Dorfplatz definitionsgemäß keinen öffentlichen Raum mehr dar, er ist ebenso wie die Landschaft nunmehr Kulisse für ihr individuelles psychisches Erleben und nicht mehr Raum für (soziale) Begegnung. Raumbilder Menschen nehmen öffentliche Räume unterschiedlich wahr und nutzen diese auch unterschiedlich. Jeder hat sein eigenes Raumbild, das allerdings durch gemeinsame Vorerfahrungen und Sozialisation innerhalb einer bestimmten Nutzergruppe/ Community ähnlich ist. Wir wissen in aller Regel, wie wir uns in der Öffentlichkeit, auf einem Platz oder einem Gehweg zu verhalten haben, was angemessen ist und was nicht. Wir zeigen im Verstehen und Einhalten von Regeln unsere Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder definieren uns durch Nichteinhalten als Outsider oder durch Nichtverstehen als Fremder. Heute sind Lebensstile individueller und globaler geworden, also auch mit vielen Möglichkeiten zum gegenseitigen Missverständnis. Beispiel: Berlin wird international gelegentlich als Stadt des Graffito gesehen. Viele jüngere Besucher gehen daher irrtümlich davon aus, dass ein Besprühen von Wänden erlaubt sei und zum modernen weltoffenen Image der Stadt gehöre. Öffentliche Räume stehen unter dem Druck, dass unterschiedliche Nutzergruppen Orte unterschiedlich definieren und gelegentlich durch ihre Handlungen auch schädigen. Beispiele dafür sind in Berlin etwa Teile des Platzes Kottbusser Tor, der Görlitzer Park, Straßenräume im Umfeld von Nachtclubs und überhaupt Bereiche, die von sogenannten problematischen Nutzergruppen frequentiert oder gar behaust werden. Aber auch Plätze und Straßen mit starkem KFZ-Verkehr oder übermäßigen Umweltbelastungen stellen für Anwohner und andere Nutzer (beispielsweise Einzelhändler) ein Problem dar. Für die Planungspraxis ist es nicht einfach, Lösungen zu finden, die in der Mitte der Gesellschaft anerkannt werden und zugleich Menschen am Rande der Gesellschaft nicht aus dem öffentlichen Raum ausschließen. Darf man eigentlich auf Gehwegen, Stadtplätzen oder in Grünanlagen biwakieren (Übernachten ohne Zelt)? Soll man es zulassen, weil man armen Menschen das Leben nicht noch schwerer machen will? Oder zieht man Menschen aus aller Welt an, die eigentlich in ihrer Heimat integriert werden müssten? Richtet man gar Unheil an, wenn man vorhandene Lagerplätze im Sommer nicht räumt, da im Winter ein Teil dieser Menschen trotz Kältehilfe erfrieren wird? All das ist gesellschaftlich und politisch nicht umfassend geklärt und erzeugt Kommunikationsangebote, die Verhalten erzeugen, das man eigentlich nicht will. Erkenntnisdefizite und Forschungsansätze Wir wissen nicht viel darüber, wie Menschen aus Ländern des globalen Südens oder aus Milieus außerhalb der Politik-, Verwaltungs- und Planungswelt den öffentlichen Raum begreifen. Durch Individualisierung und Globalisierung haben sich Konflikte verschärft und diese sind nur zu lösen, wenn Bild 5: Kommunikation. © Klaus Füsser 40 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen man gesellschaftlich Einigung über das Verhalten im öffentlichen Raum erzielt und dieses Verhalten dann auch durchsetzt. Hilfreich wäre dabei, erst einmal zu wissen, wie unterschiedliche Nutzergruppen diese Räume begreifen. Raumbilder unterschiedlicher Nutzergruppen könnten beispielsweise erfasst werden durch:  Erstellung kognitiver Karten (Mental Maps) durch reale Straßenraumnutzer (Laborversuche)  Erstellung fiktiver Straßenräume und deren Ausstattung in 3D-Modellen durch Versuchspersonen (Laborversuche)  Aufnahme von Straßenraumnutzern und deren Bewegungsprofile durch Beobachter (Feldversuche)  Versuche mit Testpersonen mittels mobilem Eye- Tracking (Feldversuche) Die ersten drei Beispiele sprechen vermutlich für sich. Eye-Tracking soll jedoch kurz erläutert werden: Beim Eye-Tracking werden Fixierungen und Augenbewegungen von Versuchspersonen aufgenommen. Diese Blickerfassung mittels Spezialbrillen, Aufnahmegeräten und entsprechenden Auswerteeinrichtungen zeigt bei einer Versuchsperson, die beispielsweise einen Platz begeht, an, was ihr Interesse in welcher Intensität erregt. Vermutlich werden unterschiedliche Nutzergruppen unterschiedlichen Dingen Bedeutung beimessen und diese unterschiedlich lange beobachten. Hieraus lässt sich dann schließen, was für den Einzelnen wichtig und unwichtig ist. Kombiniert mit Geräten zur Messung von Körperfunktionen (Puls, Hautwiderstand, usw.) kann den einzelnen Beobachtungen ein Stressfaktor zugeordnet werden. Bezug zum Verwaltungshandeln Aufbauend auf diesen Untersuchungen könnten dann gezieltere Konfliktlösungsstrategien für Probleme im öffentlichen Raum entwickelt werden. Bis dahin wird man sich mit den Try-and-Error-Ansätzen aus Politik, Polizei- und Sozialarbeit erst einmal zufrieden geben müssen. Hilfreich ist jedoch ein klar formulierter Ansatz, der sich auch in entsprechenden Straßennutzungs- und Grünflächengesetzen widerspiegelt sowie in deren konsequenter und umsichtiger Durchsetzung. Also weder ein Laissez- Fair-Verhalten noch ein übermäßig autoritäres Auftreten, sondern ein deutliches Auftreten der staatlichen Gewalt, die den Bürger mitnimmt und nicht jede Kleinigkeit ahndet, aber auch nicht jeden egozentrischen Individualismus sowie problematische milieuspezifische oder kulturelle Sonderentwicklungen toleriert. Dafür muss es ein deutlich formuliertes politisches Programm geben, klare Zuständigkeiten und eine funktionstüchtige Organisationsstruktur mit entsprechender Ausstattung und Eingriffsmöglichkeiten. Nur mit dieser Rückendeckung können die Verantwortlichen vor Ort sinnvoll, sicher und erfolgreich handeln. Auch dies sind Kommunikationsangebote: Bei klarer Kommunikation (die das Handeln ja einschließt! ) hat man gute Chancen, verstanden zu werden, bei Unklarheiten entstehen Orientierungsdefizite, die gegebenenfalls dazu führen, dass öffentliche Räume nicht adäquat genutzt werden. Prüfung des Theorieansatzes Im Folgenden werden Teiltheorien zum öffentlichen Raum in Hinblick auf den oben dargestellten Theorieansatz diskutiert. Broken Windows-Ansatz Der Broken Windows-Ansatz wurde in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA entwickelt (nach James Q. Wilson und George L. Kelling) und in der Stadtplanung von New York erfolgreich eingesetzt. Diese Theorie besagt, dass Verunreinigung und Zerstörungen im öffentlichen Raum schnell behoben werden müssen, damit kein Teufelskreis entsteht, indem aus wenig Müll mehr Müll, indem aus einer zerstörten Scheibe ein zerstörtes Haus und indem aus einer verwahrlosten Ecke ein verwahrloster Stadtteil wird. Zugleich arbeitete der New Yorker Ansatz mit einer strengen Ahndung auch kleiner Verstöße. Der Broken Windows-Ansatz blieb in Fachkreisen lange Zeit umstritten, da er empirisch schlecht zu beweisen war und wohl auch, da er nur Symptome und nicht etwa Ursachen von Kriminalität bekämpft. In der Praxis der städtebaulichen Bild 6: Informationen aus der Vergangenheit. © Klaus Füsser 41 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Kriminalprävention wird er jedoch immer wieder erfolgreich eingesetzt. Neuere soziologische Untersuchungen aus den Niederlanden (Vorher-Nachher- Untersuchungen an „sauberen“ und „schmutzigen“ Orten [15]) und auch aus Köln-Chorweiler (Untersuchungen von Sebastian Kurtenbach an drei verschiedenen, nahe beieinander liegenden Orten mit unterschiedlichem „Sauberkeitszustand“ [16]) zeigen inzwischen auch empirisch an, dass eine saubere und ordentliche Gestaltung mit einer entsprechenden Pflege positive Effekte auf das soziale Zusammenleben hat. Ein „schmutziger“ Ort stellt ein Kommunikationsangebot dar, auf das reagiert werden kann. Es wird im Kommunikationsangebot ausgesagt: Hier kannst du ohne negative Konsequenzen Norm verletzendes Verhalten zeigen. Dies wird von all denen angenommen, die diese Normen nicht voll integriert haben. Ein „sauberer“ Ort bietet ein entgegengesetztes Kommunikationsangebot. Strenge Ahndung auch von kleinen Verstößen scheint notwendig, wenn die übliche soziale Kontrolle durch andere, regelkonforme Straßenraumnutzer nicht mehr funktioniert. Tod und Leben großer amerikanischer Städte Jane Jacobs [17] kam in ihren Untersuchungen unter anderem in Greenwich Village (New York, Manhattan) zu dem Ergebnis, dass Straßen und Plätze zu allen Tages- und Nachtzeiten von Menschen bevölkert sein sollen, damit die soziale Kontrolle entsteht, bei der Menschen aufeinander achten und kriminelle Übergriffe im Zaum halten. Dazu ist eine Nutzungsmischung von Gewerbe, Wohnen, Einkauf und Kultur notwendig ebenso wie Sichtbeziehungen zwischen Erdgeschoss und Straßenraum. Augen sollen ständig auf die Straße blicken, denn so entsteht ein Raum, in dem kriminelle Übergriffe zu riskant erscheinen. Das Kommunikationsangebot soziale Kontrolle funktioniert nur in relativ gut vernetzten Nachbarschaften. Dazu sollten öffentliche Räume bevölkert, aber nicht „crowdy“ sein. Wenn Räume von einer großen Anzahl, möglicherweise sogar ständig wechselnden Menschenmengen überbevölkert sind, besteht die Gefahr, dass sich niemand verantwortlich fühlt und eine soziale Kontrolle des Umfeldes entfällt. In U-Bahn-Stationen, Unterführungen und anderen problematischen Bereichen kann es sinnvoll sein, Kommunikationsangebote wie Videoüberwachung und regelmäßige polizeiliche Präsenz anzubieten. Generell sollte man nicht von einem „entweder-oder“ von sozialer Kontrolle und technischer Überwachung sprechen, sondern eher von einem „sowohl als auch“, und zwar in Abhängigkeit von den örtlichen Gegebenheiten und der Intensität von Problemen. Dysfunktionale Räume können erst einmal durch Videoüberwachung und Polizeipräsenz wieder in einen Bereich gewandelt werden, in dem Anwohner und Gewerbetreibende allmählich wieder die soziale Sicherheit übernehmen können. Behavior Setting Roger G. Barker [18] entwickelte in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine ökologische Psychologie, in der er den Begriff des „Behavior Setting“ einführte. Behavior Setting bedeutet, dass eine bestimmte Umweltinszenierung und -gestaltung dazu führt, ein bestimmtes Verhalten nahe zu legen. Offensichtlich verhält man sich auf einer Beerdigung ja anders als auf einem Volksfest. Füsser, Jacobs und Steinbrecher [19] nutzten diesen Ansatz, um Gestaltungsempfehlungen für Querungshilfen zu entwickeln, die im Begegnungsfall von Autofahrern und Fußgängern zugleich die Autofahrer vorsichtiger und langsamer fahren, als auch die Fußgänger vorsichtig und aufmerksam bleiben lassen. Die Gestaltung öffentlicher Räume (als Kommunikationsangebot) sollte eine Klarheit erhalten, die einen Nutzer informiert, wie er sich im Großen und Ganzen zu verhalten hat. Dies funktioniert in homogenen Gemeinschaften in aller Regel gut, kann in städtischen Räumen, die durch den Zuzug von Fremden geprägt werden, jedoch auch zu Verhaltensirritationen führen, wenn Gestaltungen nicht verstanden werden. Deshalb ist es wichtig, auf eine offene und gastfreundliche Art Fremde in die Nutzung und den Gebrauch öffentlicher Institutionen und Räume einzuführen. Schönheit Wolfgang Welsch beschreibt in „Zur universalen Schätzung des Schönen“ [20], dass unterschiedliche Milieus und Kulturen auch verschiedene Vorstellungen von Schönheit haben können. In der Selbstähnlichkeit des goldenen Schnittes findet er jedoch einen Ansatz, der universell zu gelten scheint. Er führt dies darauf zurück, dass der Schönheitssinn ein Detektor für Selbstorganisation ist, die sich in der Selbstähnlichkeit des goldenen Schnittes ausdrückt („Das Kleine verhält sich zum Großen wie das Große zum Ganzen“). Diese Selbstähnlichkeit weist auf ein Eingebundensein in ein großes Ganzes, da Selbstähnlichkeit ein grundlegendes Organisationsprinzip der Evolution und damit auch des menschlichen Entwicklungsganges ist. Schöne Gestaltung in diesem Sinne ist ein Kommunikationsangebot, das uns daran erinnert, integriert und eingebunden zu sein. (Bild 7) 42 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Fazit Die hier vorgestellten Ideen zu einer Theorie der Straßenraumgestaltung zeigen, dass empirische Untersuchungen zur Identifizierung von Raumbildern unterschiedlicher Nutzergruppen hilfreich sein können, um öffentliche Räume angemessener zu planen, zu gestalten und zu betreiben. An der Beuth Hochschule für Technik Berlin sind dazu Masterarbeiten geplant, die auch Gender- und Diversity- Aspekte vertieft betrachten. Ein guter, jedoch selten angewandter Leitfaden zur Auditierung des öffentlichen Raumes [21] kann dabei ebenso hilfreich sein wie wichtige Erkenntnisse aus der Praxis des Quartiersmanagements und der städtebaulichen Sozialarbeit [22]. LITERATUR [1] Trieb, M.: Stadtgestalt - Theorie und Praxis. Braunschweig, 1974. [2] Lynch, K.: Das Bild der Stadt. Berlin, 1965. [3] Bahrdt, H. P.: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Reinbek, 1969. [4] Goffman, E.: Verhalten in sozialen Situationen. Gütersloh, 1971. [5] Füsser, K., Rosenstein, D.: Funktionale und gestalterische Anforderungen spezifischer Benutzergruppen an städtische Straßenräume. Diplomarbeit. Lehrstuhl für Stadtbauwesen, RWTH Aachen, 1979. [6] FGSV (Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen): Empfehlungen zur Straßenraumgestaltung innerhalb bebauter Gebiete (ESG)“. Köln, 2011. [7] Heinz, H.: Schöne Straßen und Plätze. Funktion Sicherheit Gestaltung. Bonn, 2014. [8] Gehl, J. Svarre, B.: Leben in Städten. Wie man den öffentlichen Raum untersucht. Basel, 2016. [9] Löw, M.: Raumsoziologie. Frankfurt am Main, 2001. [10] Zimbardo, P. G.: Psychologie. Berlin, 1983, S. 318 - 327. [11] Lewin, K.: Feldtheorie. Werksausgabe Bd. 4 (Hrsg: Graumann, C.-F.). Bern und Stuttgart, 1982. [12] Luhmann, N.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main, 1998. [13] Klemens, J.: Entwicklung eines Indikatorensets zur Evaluierung der Aufenthaltsfunktion im Straßenraum. Masterarbeit. Beuth-Hochschule für Technik Berlin, 2018. [14] Watzlawick, P., Beavin, J. H., Jackson, D. D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern, 1969. [15] Keizer, K., Lindenberg, S., Steg, L.: The Spreading of Disorder. Universität Groningen, 2008. [16] Kara, S.: „Ist da jemand? “ Die Zeit, Nr. 50, 2016. [17] Jacobs, J.: Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Gütersloh, 1963. [18] Barker, R.: Ecological Psychology. Stanford, 1968. [19] Füsser, K., Jacobs, A., Steinbrecher, J.: Sicherheitsbewertung von Querungshilfen für den Fußgängerverkehr. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Verkehrstechnik, Bergisch Gladbach, 1993. [20] Welsch, W.: Zur universalen Schätzung des Schönen. In: Welsch, W.: Blickwechsel - Neue Wege der Ästhetik. Stuttgart, 2012. [21] Baier, R., Grunow, M., Schäfer, K. H.: Soziale Sicherheit im Straßenraum. Berlin, 2006. [22] Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin (Hrsg): AG Görlitzer Park. Handlungskonzept Görlitzer Park, 2016. Bauassessor Klaus Füsser Lehrbeauftragter Verkehrswesen Fachbereich III Bauingenieur- und Geoinformationswesen Beuth Hochschule für Technik Berlin Kontakt: kfuesser@beuth-hochschule.de AUTOR Bild 7: Goldener Schnitt, Altes Rathaus Leipzig. © Klaus Füsser www.transforming-cities.de