eJournals Transforming cities 3/3

Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2018-0067
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SpielRaum in der Stadt

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Ronny Kaiser
Ulrike Igel
Almut Krapf
Das Praxisprojekt SpielRaum in der Stadt haben Studierende der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig mit Schülerinnen und Schülern an zwei Leipziger Grundschulen realisiert. Im Projekt wird Grundschüler*innen die Möglichkeit gegeben, sich öffentliche Räume (wieder) anzueignen und aktiver zu nutzen. Ziel ist es, Kindern die Möglichkeiten der aktiven Raumnutzung aufzuzeigen und Bewegungsanlässe im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Dabei wird die Arbeit des Forschungsprojektes „Grünau bewegt sich“ bei der praktischen Umsetzung von Bewegungsförderung im öffentlichen Raum unterstützt.
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50 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Kinder in urbanen Räumen Urbane Strukturen wie Straßen, Wege, Gebäude, Parks und Plätze formen die öffentlichen Bewegungsräume von Kindern in der Großstadt. Neben den Einschränkungen durch großflächige Bebauung und Straßenverkehr fehlt es Kindern zunehmend an Gelegenheiten [1] aber auch Ideen, sich öffentliche Räume in ihrer Freizeit zu erschließen. Problematisch ist dabei die zunehmende „Funktionalisierung und Automatisierung“ der sozialräumlichen Umwelt, die die Möglichkeiten des spontanen und ungeplanten Spiels begrenzen [2]. Daneben wird auch das Phänomen der Verinselung beschrieben, das sich aus veränderten Mobilitätsmustern (Kinder fahren Orte mit ihren Eltern ab) ergibt. Der kindliche Lebensalltag findet „nicht überwiegend in einem als zusammenhängend erfahrbaren Raum statt, sondern wie auf einer Reihe von Inseln in einer unbekannten Weite“ [3]. Solche Inseln sind sowohl der eigene Wohnraum und die Schule als auch andere Institutionen, Sportstätten, Einkaufszentren, Freizeitstätten und weitere Stationen im kindlichen Alltag. „Der gesamte Raum, der zwischen den sogenannten Inseln liegt, bleibt für die Kinder unentdeckt“ [2]. Das birgt die Gefahr, dass Kinder unbeweglicher und transportbedürftiger werden [2]. Gemeinsam mit der zunehmenden Digitalisierung und dem vermehrten Medienkonsum kann dies negative Auswirkungen auf die motorische Entwicklung und das Bewegungsverhalten von Kindern haben. So zeigen die neuesten repräsentativen Ergebnisse der KiGGS-Studie zur körperlichen Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, dass die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene Vorgabe, von mindestens einer Stunde moderater körperlicher Aktivität am Tag von lediglich 26 % der 4bis 17-jährigen Kindern und Jugendlichen Deutschland erfüllt wird [4]. Sozial bedingte Unterschiede zeigen sich bezüglich der körperlichen Inaktivität (weniger als zweimal pro Woche 60 Minuten körperliche Aktivität). Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status sind fast dreimal so häufig inaktiv wie Kinder und Jugendliche aus sozial besser gestellten Familien [4]. SpielRaum in der Stadt Bewegung und Raum im Sportunterricht der Grundschule Öffentlicher Raum, Spielraum, Kindheit, Bewegungsräume, Informelles Lernen Ronny Kaiser, Ulrike Igel, Almut Krapf Das Praxisprojekt SpielRaum in der Stadt haben Studierende der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig mit Schülerinnen und Schülern an zwei Leipziger Grundschulen realisiert. Im Projekt wird Grundschüler*innen die Möglichkeit gegeben, sich öffentliche Räume (wieder) anzueignen und aktiver zu nutzen. Ziel ist es, Kindern die Möglichkeiten der aktiven Raumnutzung aufzuzeigen und Bewegungsanlässe im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Dabei wird die Arbeit des Forschungsprojektes „Grünau bewegt sich“ bei der praktischen Umsetzung von Bewegungsförderung im öffentlichen Raum unterstützt. Bild 1: Nur 26 % der 4bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen Deutschlands sind ausreichend körperlich aktiv. © Projekt Spiel- Raum Grünau 51 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Projektentwicklung Das Gesundheitsförderungsprojekt „Grünau bewegt sich“ setzt daran an. Über einen Zeitraum von fünf Jahren werden gemeinsam mit Akteur*innen und Praktiker*innen vor Ort, Interventionen zur Bewegungsförderung (und Ernährungsbildung) in einem sozial benachteiligten Stadtteil entwickelt und umgesetzt [5]. Im Rahmen einer umfassenden Bedarfsanalyse wurde deutlich, dass im Stadtgebiet Grünau (eine Großwohnsiedlung am Stadtrand von Leipzig) zwar eine Vielzahl von Grün-, Frei- und Spielflächen vorhanden sind, diese aber nur in geringem Maße genutzt werden. Ein wesentliches Ziel stellt daher die Belebung des öffentlichen Raumes dar. Dabei sollen einerseits Räume so gestaltet werden, dass sie zu mehr Aktivität anregen. Andererseits sollen Möglichkeiten des aktiven Spiels aufgezeigt und Rollenmodelle geschaffen werden, die soziale Normen hinsichtlich der Bewegung (im öffentlichen Raum) verändern und somit zu mehr Bewegung bei Kindern und Jugendlichen (sowie Bewohner*innen) führen [6]. In diesem Zusammenhang wurde unter der Federführung von Mitarbeiter*innen der Grundschuldidaktik Sport und des Projektes „Grünau bewegt sich“ gemeinsam mit Vertreter*innen des Sächsischen Landesamtes für Schule und Bildung (LaSuB) und des Gesundheitsamts der Stadt Leipzig das Projekt SpielRaum entwickelt. Rahmenbedingungen Im Sächsischen Lehrplan wird als zentraler didaktischer Grundsatz vorgeschlagen, Sportunterricht so oft wie möglich im Freien stattfinden zu lassen [7]. Der Schulsport hat somit erweitert die Aufgabe, die Lernenden dahingehend zu befähigen, selbstständig Räume auch außerhalb der normierten Sporthalle für Bewegung und Sport zu erschließen. Diese Kompetenz kann als Grundlage dazu dienen, ein bewegtes Leben außerhalb der Schule selbstbestimmt und aktiv zu gestalten. Mit wöchentlich drei Stunden Sportunterricht sollen die Lernenden eine positive Einstellung zur Bewegung im Lebensalltag erlangen und dabei weitestgehend eigene Interessen und Bedürfnisse mit einbeziehen können. Was ist das Besondere am informellen Lernen? Der Schulsport wird in der Praxis überwiegend als formelles Lernen organisiert. Bildungsprozesse sind verpflichtend, zielgerichtet und auf die Institution Schule beschränkt. Sie weisen einen hohen Grad der Normierung des Bildungsangebotes und der Leistungsmessung auf [8]. Dagegen stellen informelle Lernprozesse, welche ungeplant und nichtintendiert auftreten, an Schulen eher eine Ausnahme dar. Raum für und durch Bewegungen variabler zu nutzen, um informelle Lernprozesse zu begünstigen, erfordert didaktische Kompetenzen der Lehrpersonen. Informelle Lernprozesse können in der Schule das Potenzial entfalten, sowohl den traditionellen Sport um weitere Perspektiven, neue Haltungen und originelle Praktiken zu erweitern, als auch das Sporttreiben durch die Lernenden selbstorganisiert zu gestalten [9]. Ermöglicht ist dies beispielsweise, wenn von der konventionellen Nutzung der Sporthalle abgewichen wird und der Sportunterricht an schulfernen oder unbekannten Orten stattfindet. Den Schülerinnen und Schülern wird somit Bild 2: Der öffentiche Raum soll zu mehr Aktivität anregen. © Projekt Spiel- Raum Grünau Bild 3: Sportunterricht soll so oft wie möglich im Freien stattfinden. © Projekt Spiel- Raum Grünau 52 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen die Gelegenheit gegeben, sich kreativ mit Bewegung auseinanderzusetzen und vielfältige (Bewegungs-) Erfahrungen in öffentlichen Räumen im Einzugsgebiet der Schule zu sammeln. Betrachtet man die räumliche Umwelt von Kindern im Grundschulalter fällt auf, dass sich der eigene ökologische Nahraum oft mit Räumen aus dem schulischen Kontext (wie Spielplätze, Fußwege, Parks und andere Freiflächen im Quartier) überlagert. In diesen Räumen bewegen sich die Kinder bereits mit freizeittypischen Aktivitäten vorrangig informell. Findet der Sportunterricht in diesen Räumen statt, können die vorhandenen Erfahrungen einfließen. Umgekehrt betrachtet, gestattet der Sportunterricht in schulfernen und unbekannten Räumen eine weiterführende „Eroberung“ des Nahraums der Kinder. Um eine selbstbestimmte Raumnutzung für die Kinder zu ermöglichen, ist es notwendig, die Räume durch Interventionen nicht zu „Verpädagogisieren“, sondern sie den Kindern als eigenständig strukturierbare Erfahrungsräume zu überlassen [10]. Ziele des Projekts Das Projekt SpielRaum möchte im Rahmen des Sportunterrichts gemeinsam mit Kindern, Lehrpersonen und Studierenden Bewegungsräume im Umfeld der Schule entdecken und „beleben“. Durch den Spaß an neuen Bewegungserfahrungen in teils bekannten teils neuen Räumen, soll zum einen das Interesse der Grundschulkinder (und Lehrpersonen) für ihre eigene Lebenswelt geweckt werden. Zum anderen werden Bewegungsgelegenheiten im Quartier sichtbar gemacht, was wiederum Nachahmer motivieren kann, sich diese öffentlichen Räume aktiv zu erschließen. Sowohl die Studierenden als auch die Kinder entwickeln im Projekt SpielRaum Kompetenzen, die für die Lehr-Lernpraxis von großer Bedeutung sind. Durch die Lehrerfahrungen mit Grundschulkindern im öffentlichen Raum bekommen die Studierenden die Gelegenheit, theoretisches Wissen anzuwenden und ihren Blick auf die kindliche Lebenswelt zu erweitern. Die Kinder wiederum entdecken Räume, die sie mit ihrem Stadtteil und anderen Kindern in Verbindung bringen, was zu einer größeren Selbstständigkeit und Identifikation mit dem Stadtteil führt. Die Lehrpersonen begleiten die Kinder und Studierenden, unterstützen den Prozess und profitieren durch die Entlastung und durch neue Ideen ebenfalls vom Projekt. Derzeitige Umsetzung und Ausblick Im Projekt SpielRaum verlegen Studierende des Grundschullehramts und des Lehramts an Förderschulen im Rahmen ihrer Lehrveranstaltungen über einen Zeitraum von acht Wochen eine Sportstunde pro Woche in den öffentlichen Raum und entdecken gemeinsam mit den Kindern neue Räume und Bewegungsmöglichkeiten. Im zweiten Schulhalbjahr 2018 wurde das Projekt SpielRaum in einer Pilotphase an zwei Grünauer Schulen mit insgesamt neun 3. und 4. Klassen durchgeführt. Es nahmen 216 Kinder und 33 Studierende teil, die je fünf bis acht Sporteinheiten gemeinsam gestalteten. Nach einer Evaluation der Pilotphase soll das Projekt auf weitere Schulen ausgeweitet werden. LITERATUR [1] Kähler, R. S.: Städtische Freiräume für Sport, Spiel und Bewegung. Forum Wohnen und Stadtentwicklung (2014), H. 5, S. 267-270. [2] Behrens, M.: Entwicklung und Gesundheit in der Lebensspanne Kindheit. In: Behrens, M. (Hrsg.): Zur Bedeutung der Bewegung für die kindliche Gesundheit. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2016, S. 17-45. [3] Zeiher, H.: Organisation des Lebensraums bei Großstadtkindern — Einheitlichkeit oder Verinselung? In: Bertels, L., Herlyn, U. (Hrsg.): Lebenslauf und Raumerfahrung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Imprint, 1990, S. 35-57. [4] Finger, J. D., Varnaccia, G., Borrmann, A., Lange, C., Mensink, G. B. M.: Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland - Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring 3 (2018), H. 1, S. 24-31. [5] Gausche, R., Igel, U., Sergeyev, E., Neef, M., Adler, M., Hiemisch, A., Vogel, M., Molis, D., Schubert, K., Krause- Döring, R., Fabian, T., Kiess, W., Grande, G.: Stadtteilbezogene Gesundheitsförderung zur Reduktion der Adipositasprävalenz bei Kindern und Jugendlichen. Adipositas - Ursachen, Folgeerkrankungen, Therapie 08 (2014), H. 01, S. 18-24. Bild 4: Sportunterricht in schulfernen und unbekannten Räumen gestattet eine weiterführende „Eroberung“ des Nahraums. © Projekt Spiel- Raum Grünau 53 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen [6] Ball, K., Jeffery, R. W., Abbott, G., McNaughton, S. A., Crawford, D.: Is healthy behavior contagious: Associations of social norms with physical activity and healthy eating. The international journal of behavioral nutrition and physical activity 7 (2010), S. 86. [7] Lehrplan Grundschule Sport, 1.8.2004, https: / / www. schule.s achsen.de/ lpdb/ web/ downloads/ lp_ g s _ sport_2009.pdf ? v2 [8] Overwien, B.: Informelles Lernen - Zum Stand der internationalen Diskussion. In: Rauschenbach, T. (Hrsg.): Informelles Lernen im Jugendalter: Vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte. Weinheim, München: Juventa-Verl., 2006, S. 35-62. [9] Bindel, T., Balz, E.: Informeller Sport in der Schule: „Wie willst du Sport treiben? “. Sportpädagogik 38 (2014), H. 1, S. 2-6. [10] Erhorn, J.: Bewegungsräume im Quartier mit Kindern erkunden Spiel und Bewegung im Wohnumfeld fördern. In: Erhorn, J., Schwier, J. (Hrsg.): Die Eroberung urbaner Bewegungsräume. Bielefeld: transcript-Verlag, 2015. AUTOR I NNEN Weitere Informationen senden wir Ihnen gerne zu. Ihre Ansprechpartnerin: Vanessa Ledig Tel. +49 (0) 30 28 44 94-221 pmrexpo@ew-online.de • Fachmesse • Summit Sichere Kommunikation (inkl. Fokus auf Leitstellen am 3. Tag) • Sichere Kommunikation für die Energiewirtschaft • Täglich wechselnde Fachforen • PMRExpo Career Eine Veranstaltung von: 27. bis 29. November 2018 Koelnmesse 2018 Bubbles: Parris Cope/ Fotolia Mehr Infos unter: www.pmrexpo.de oder Dipl. Sportlehrer Ronny Kaiser Lehrbeauftragter in der Grundschuldidaktik Sport Institut für Pädagogik und Didaktik im Elementar- und Primarbereich der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig Kontakt: ronny.kaiser@uni-leipzig.de Dipl. Soz.arb./ Soz.päd. Ulrike Igel Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „GRÜNAU BEWEGT sich“ Forschungs- und Transferzentrum Leipzig an der Hochschule für Technik Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) Kontakt: ulrike.igel@htwk-leipzig.de Jun. Prof. Dr. Almut Krapf Juniorprofessur für Bewegung und Gesundheitsförderung im Primarbereich, Fachbereichsleiterin der Grundschuldidaktik Sport Institut für Pädagogik und Didaktik im Elementar- und Primarbereich der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig Kontakt: krapf@uni-leipzig.de