Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2018-0069
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Grün auf engem Raum
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Stephanie Haury
Immer mehr Menschen ziehen in die Städte – mit erheblichen Auswirkungen auf das Wohnraumangebot. Mit zunehmender Nachverdichtung wachsen Interessenkonflikte und Handlungserfordernisse um das Stadtgrün. Diese betreffen soziale Fragen wie die ungleiche Verteilungung von Grün, klimatische Fragen wie Gesundheitsbeeinträchtigungen bei Grünmangel sowie Fragen der Pflege und Finanzierung.
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60 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Ausgangslage Durch Re-Urbanisierungsprozesse leben immer mehr Menschen in städtischen Räumen. Der Zuzug in die Großstädte hält an. In Deutschland sind derzeit die Innenstädte die großen Gewinner, während der Stadtrand eher stagniert und das periphere Umland Bevölkerungsverluste hinnehmen muss [1]. Bis 2035 wird die Bevölkerung in wachsenden Krei- Grün auf engem Raum Neue Ansätze urbaner grüner Infrastruktur Grünflächen, urbane grüne Infrastruktur, Umweltgerechtigkeit, Multicodierung, Innenentwicklung Stephanie Haury Immer mehr Menschen ziehen in die Städte - mit erheblichen Auswirkungen auf das Wohnraumangebot. Mit zunehmender Nachverdichtung wachsen Interessenkonflikte und Handlungserfordernisse um das Stadtgrün. Diese betreffen soziale Fragen wie die ungleiche Verteilungung von Grün, klimatische Fragen wie Gesundheitsbeeinträchtigungen bei Grünmangel sowie Fragen der Pflege und Finanzierung (Bild 2). Bild 1: Hofgarten in Bonn. © Stephanie Haury sen des Bundesgebietes noch weiter zunehmen, trotz abnehmender Gesamtbevölkerung [2]. Insbesondere in den großen Ballungsräumen wird es daher zu Nachverdichtungen kommen. Prognosen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) gehen von einem Bedarf von jährlich mindestens 350 000 Wohnungen deutschlandweit in den nächsten Jahren aus, vorwiegend in den 61 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen urbanen Kontext können alle Arten von Vegetation und wasserdominierten Gebieten sowie einzelne Elemente von (städtischen) grünen Infrastrukturen unabhängig von ihrer Nutzung, ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Besitzverhältnisse eine grüne Infrastruktur bilden oder werden. Die Bundesregierung hat 2013 einen gewaltigen Prozess gestartet und das Thema „Grüne Infrastruktur“ zum ersten Mal als umfassende, ressortübergreifende Frage auf die politische Agenda gesetzt. Übergeordnetes Ziel war es, die Grünflächen in der Stadtentwicklung zum Thema zu machen und Diskussionsprozesse anzustoßen. Das BBSR richtete dafür prozessorientiert ein Forschungscluster „Grün in der Stadt“ ein. Der Prozess wurde von parallelen Forschungsprojekten und Aktivitäten begleitet - wie Gartenstadt 21, Umweltgerechtigkeit in der Sozialen Stadt, Urbane Freiräume oder Ziele für Stadtgrün. Zudem wurde das ExWoSt-Forschungsfeld (ExWoSt = Experimenteller Wohnungs- und Städtebau) Green Urban Labs mit 12 Modellprojekten gestartet. Im Jahr 2015 haben sieben Bundesministerien gemeinsam das „Grünbuch Stadtgrün“ veröffentlicht, das den Stand der Forschung zu städtischen Grünflächen darstellt. Es wurde als Diskussionspapier konzipiert mit dem Ziel, einen breiten Dialog über die Bedeutung urbaner Grünräume in der integrierten Stadtentwicklung zu initiieren. Die wichtigste Tatsache war, dass städtische Grünflächen zwar eine wichtige Rolle bei der nachhaltigen Gestaltung von Städten spielen, aber viele Gemeinden benötigen hierbei Hilfe. Im nächsten Schritt galt es daher, ein Weißbuch mit konkreten Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung zu entwickeln. Soziale Fragen und Umweltgerechtigkeit − Urbane Grünflächen ungleich verteilt − Unterschiedliche Erreichbarkeit − Umweltbelastung divergieren zwischen Quartieren − Verdrängungsprozesse durch Grün-Aufwertung − Bürgerbeteiligung, Anforderungen ungleich Pflegeintensität und Qualität − Grünflächen werden nicht ausreichend gepflegt − Pflege und Qualität bedarf guter personeller und finanzieller Ausstattung − Verkehrssicherungspflichten gefährden Baumbestände − Potenziale vieler Brachflächen bleiben ungenutzt Gesundheit und Klimawandel − Luftschadstoffbelastung in Umweltzonen höher − Gesundheitsbeeinträchtigungen bei Grünmangel − Rückgang von Grünflächen erhöht Hitzestress − Jeder gefällte Baum fehlt beim Klimaschutz − Bewegungsparcours selten vernetzt − Funktionalisierung und Nutzung gefährdet Erholung Finanzierung, Organisation, Trägerschaft und Innovationspotenzial − Pflegekosten nicht tragbar für Nothaushaltskommunen − Bündelung der Grünkompetenzen erforderlich − Knappe Haushaltsmittel erfordern neue Finanzierungswege und Beteiligungsmöglichkeiten − Wert von Stadtgrün erfordert lnventarisierung im Kommunalhaushalt Bild 2: Konflikte und Handlungserfordernisse beim Stadtgrün. © BBSR, 2014 Großstädten. Die auch in den Innenstadtbereichen notwendige Nachverdichtung führt in Wachstumsregionen zu einem lokal deutlichen Rückgang von Brachen und Grünflächen und damit auch zu einer geringeren Vernetzung von Grünflächen [3]. Grüne Infrastruktur Grünflächen haben aufgrund ihrer vielfältigen Funktionen einen besonderen Stellenwert in Städten. Sie werden unter dem Begriff urbane grüne Infrastruktur zusammengefasst. Diese leistet wichtige Beiträge im Bereich Lebensqualität, Erholung, Imagesteigerung, ökologisch-klimatischem Ausgleich, Biodiversität und Gesundheit. Daneben ist sie stadtbildprägend und Teil der Baukultur. Grüne Infrastruktur leistet auch einen Beitrag zur Verbesserung der Resilienz der Städte, insbesondere gegenüber Umwelt-, Klima- und Gesundheitsrisiken. Eine zukunftsfähige grüne Infrastruktur ist gut vernetzt, damit sie dazu einlädt, auch längere Strecken zu Fuß oder mit dem Rad zurückzulegen. Dafür werden Grünverbindungen zwischen Parks, Kleingartenanlagen, Friedhöfen etc. benötigt. Leitvorstellung für die grüne Stadt der Zukunft ist eine grüne Infrastruktur, die die Gesamtheit und Vernetzung aller städtischen Grün- und Wasserflächen darstellt und als strategisch geplantes Netzwerk die Städte durchzieht. Die Grüne Stadt der Zukunft nutzt grüne Fassaden und Dächer, setzt auf Mehrfachnutzungen auf Freiflächen und bietet auch bei hoher Verdichtung ausreichend grüne und blaue Strukturen für die vielfältigen Funktions- und Nutzungsansprüche. Im Jahr 2013 hat die Europäische Union ihr Konzept der „Green Infrastructure“ veröffentlicht, das sich an ländliche und städtische Gebiete wendet. Im 62 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Das Weißbuch Das Weißbuch enthält zehn konkrete Handlungsfelder mit der Vorstellung von Maßnahmen, wie der Bund in den nächsten Jahren die urbane grüne Infrastruktur stärken wird. Dabei müssen verschiedene Konfliktfelder, Nutzungskonkurrenzen und Entwicklungsziele beachtet werden - wie zum Beispiel das Flächensparziel mit dem Vorrang der Innenentwicklung oder die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums. Ziel ist eine bessere rechtliche Integration der städtischen grünen Infrastrukturen, die Einführung gezielter Unterstützungsmaßnahmen, die Entwicklung von Leitlinien und Instrumenten, die Durchführung von Pilot- und Forschungsprojekten sowie die Verbesserung der Kommunikation zu diesem Thema. Das Weißbuch „Stadtgrün“ enthält folgende 10 Handlungsfelder: 1. Integrierte Planung für das Stadtgrün Um städtische Grünflächen zu bewahren und zu entwickeln, sind integrierte Planungsprozesse erforderlich. Deshalb sind die Maßnahmen darauf ausgerichtet, die Bedeutung des öffentlichen Grüns im Planungsrecht und in der kommunalen Praxis zu stärken. 2. Grünräume qualifizieren und multifunktional gestalten Um auf den zunehmenden Nutzungsdruck zu reagieren, sind Grünräume zu qualifizieren. Die urbane grüne Infrastruktur soll durch Städtebauförderung und andere Förderprogramme gestärkt werden. Zudem sollen gemeinsam mit den Kommunen Grünstandards für eine qualitätsvolle Grün- und Freiraumversorgung erarbeitet werden. 3. Mit Stadtgrün Klimaschutz stärken und Klimafolgen mindern Urbanes Grün übernimmt vielfältige Funktionen für eine klimagerechte Stadtentwicklung. Vitales Grün dient der Hitzevorsorge und dem Klimaschutz, eine wassersensible Stadtentwicklung der Hochwasser- und Überflutungsvorsorge. Instrumente des Bundes sind unter anderem der Aktionsplan Anpassung oder die Nationale Klimaschutzinitiative. 4. Stadtgrün sozial verträglich und gesundheitsförderlich entwickeln Öffentliche Grün- und Freiflächen sind für die tägliche Erholung, die soziale Begegnung und die Nachbarschaftsidentität von großer Bedeutung. Die Maßnahmen zielen darauf ab, urbanes Grün für mehr Umweltgerechtigkeit zu qualifizieren, einen möglichst barrierefreien Zugang, qualitätsvolle und sichere Grün- und Freiflächen im Wohnumfeld zu entwickeln und urbane Gärten in ihren wichtigen gemeinnützigen, sozialen und ökologischen Funktionen zu stärken. 5. Bauwerke begrünen Das Potenzial zur Begrünung grauer Infrastruktur ist groß. Durch die Maßnahmen sollen Bauwerke und Verkehrsbegleitflächen in Städten und Gemeinden stärker begrünt und dabei unter anderem Dachflächen als nutzbare Freiräume und Gemeinschaftsgärten entwickelt werden. Ein Leitfaden des Bundes soll Möglichkeiten der Bauwerksbegrünung aufzeigen. 6. Vielfältige Grünflächen fachgerecht planen, anlegen und unterhalten Der fachgerechte Umgang mit Pflanzen ist die Voraussetzung für qualitativ hochwertige urbane Grünflächen. Der Bund als Partner der Kommunen wird verschiedene Empfehlungen für die nachhaltige Bewirtschaftung von Grünflächen, die Förderung der Biodiversität, oder das Monitoring der Standorteigenschaften von Pflanzen entwickeln. 7. Akteure gewinnen, Gesellschaft einbinden Urbanes Grün ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die Maßnahmen zielen darauf ab, durch Vernetzung, Aktivierung und Information von Akteuren, privatwirtschaftlichem und zivilgesellschaftlichem Engagement Raum zu geben. Argumentations- und Arbeitshilfen für das Stadtgrün sollen öffentliche und private Akteure dabei unterstützen. 8. Forschung stärken und vernetzen Die Anforderungen an das Stadtgrün werden vielschichtiger. Neue Herausforderungen verlangen transdisziplinäre Forschung und einen fachlichen Austausch. Mit fundierten Kenntnissen lassen sich konkrete Maßnahmen und behördenübergreifende Zusammenarbeit besser umsetzen. Deshalb sollen die Innovationsplattform Zukunftsstadt um ein Forschungscluster „Grün in der Stadt“ erweitert und in Bundesforschungsprogrammen Forschungs- und Modellvorhaben zum urbanen Grün durchgeführt werden. 9. Vorbildfunktion des Bundes ausbauen Der Bund wird auf seinen Liegenschaften mit gutem Vorbild vorangehen, um die Ziele der integrierten Stadt- und Grünentwicklung zu unterstützen. Dafür sollen die bundeseigenen Grünflächen qualifiziert und die biologische Vielfalt gestärkt werden. Zudem soll eine Pflegestrategie für Bundesliegenschaften 63 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen entwickelt werden, die auch für öffentliche Flächen in den Kommunen anwendbar sein wird. 10. Öffentlichkeitsarbeit und Bildung Durch Öffentlichkeitsarbeit und Bildungsmaßnahmen soll mehr Bewusstsein für Stadtgrün geschaffen werden - sowohl für die vielfältigen Funktionen, als auch für die Wertschätzung des Grüns und derer, die sich für Grün engagieren, zum Beispiel durch einen neuen Bundeswettbewerb „Grün in der Stadtentwicklung“. Aufgabe der verschiedenen Bundeseinrichtungen wird es in den nächsten Jahren sein, die Maßnahmen sukzessive umzusetzen. Einige der Maßnahmen haben bereits begonnen - wie zum Beispiel das Städtebauförderprogramm „Zukunft Stadtgrün“ oder das Forschungsfeld „Green Urban Labs“. Das Forschungsfeld „Green Urban Labs“ Die Bedeutung grüner Freiräume für die Lebensqualität in unseren Städten ist unbestritten. Sie dienen als Orte der Erholung, der Begegnung und des Sports. Sie sind Teil der Identität von Stadt und Quartier und tragen zur ihrer Attraktivität bei. Gleichzeitig sind sie Lebensräume für Flora und Fauna und von enormer Bedeutung für die Anpassung an den Klimawandel als auch für die Biodiversität und deren Ökosystemleistungen. Erhaltung und Entwicklung urbanen Grüns gehören daher zu den zentralen Aufgaben und Voraussetzungen einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Die Kommunen stehen in Bezug auf ihre grünen Freiräume vor neuen Herausforderungen. Veränderte Arbeits-, Freizeit- und Wohnformen führen zu neuen Nutzungsansprüchen an grüne Freiräume. Zudem sind Grün- und Freiflächen in verdichteten städtischen Lagen einer sich verschärfenden Konkurrenzsituation ausgesetzt. Im Forschungsfeld „Green Urban Labs“ sollen in zwölf Modellvorhaben innovative Ansätze der Frei- und Grünraumentwicklung entwickelt und erprobt werden, die die Wohnbedingungen und die Lebensqualität in wachsenden Stadträumen verbessern. Ziel ist hierbei nicht, mehr Grünflächen zu schaffen. Vielmehr geht es darum, diese aufzuwerten, für die breite Bevölkerung zugänglich zu machen und ein attraktives Angebot anzubieten, das zu Begegnung, Bewegung und Sport einlädt. Durch das Forschungsfeld soll der Stellenwert von urbaner grüner Infrastruktur bei politischen Abwägungsprozessen gestärkt werden. Die Modellvorhaben decken eine Bandbreite virulenter Themen der grünen Stadtentwicklung ab, unter anderem Kleingartenanlagen im Kontext wachsender Flächenkonkurrenzen, grüne Klimaoasen in Innenstädten, Vernetzung von Stadtgrün, Bauwerksbegrünung, alternative Pflegekonzepte und neue Parktypen. Neben dem Leitbegriff der urbanen grünen Infrastruktur spielen die Begriffe „Multicodierung“ und „Umweltgerechtigkeit“ eine zentrale Rolle. Multicodierung Grün- und Freiräume müssen nicht nur in ausreichender Zahl und Qualität gesichert werden, sondern auch Mehrfachnutzungen von Grünräumen müssen etabliert werden, um den verschiedenen Ansprüchen von Grünräumen gerecht zu werden. Neben der generellen Bedeutung von Grünflächen zur Begrenzung von Klimarisiken haben Ansätze einer Mehrfachnutzung und Multicodierung von Grünflächen für die Resilienz von Städten eine große Bedeutung. Diese umfasst eine Überlagerung der Interessen und Funktionen von Grünflächen bzw. die Bereitstellung verschiedener Ökosystemleistungen. Grünräume dienen damit beispielsweise der Wasserbewirtschaftung (Überflutungsgebiete) und sind gleichzeitig temporäre Sport- oder Erholungsflächen. Dadurch können auch Aspekte der Baukultur gestärkt werden, wenn zum Beispiel Regenrückhaltebecken keine reinen Betonbecken mehr sind, sondern gestaltete Lebensräume. In diesem Zusammenhang werden auch Ansätze der wassersensiblen Stadtaplanung berücksichtigt. Mehrfachnutzungen spielen nicht nur in wachsenden Regionen eine immer größer werdende Rolle. Auch in wirtschaftsschwachen Regionen mit Schrumpfungsprozessen können diese interessante Ansätze sein, um bei knappen Kassen verschiedene Nutzungen zu überlagern. Nutzungskonkurrenzen wie Erholung, Freizeit, Stadtgestaltung und Naturschutz können so sinnvoll miteinander verknüpft werden. Denn multifunktionale Ansätze führen Bild 3: Sportplatz Am Hausacker in Bochum. © Stadt Bochum, Presse- und Informationsamt 64 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen immer auch zu einer Flächen- und Kosteneinsparung und garantieren die bestmögliche Ausnutzung von Flächen. Urbane grüne Infrastruktur steht für einen Ansatz, der an lokale Bedürfnisse und Handlungsanlässe angepasst werden kann und Anliegen aus verschiedenen kommunalen Aufgabenfeldern zusammenführt. Dem liegt die Erfahrung zugrunde, dass die verschiedenen Akteure der Stadtentwicklung gemeinsam mehr erreichen als in sektoralen Vorhaben [4]. Bei der Umsetzung von Mehrfachnutzungen besteht die Herausforderung für Verwaltungen, eine kooperative Planungskultur aufzubauen und die Fachplanungen mit einzubeziehen. Denn es treffen ressortabhängige Zuständigkeiten und verschiedene rechtliche Grundlagen aufeinander, die es gilt zusammenzubringen und aufeinander abzustimmen. Umweltgerechtigkeit Eine lebenswerte Stadt muss nicht nur quantitative und qualitative Vorsorge für Grünräume treffen, sondern auch für eine Nutzbarkeit und Aneignung durch alle sozialen Gruppen sorgen [5]. In den letzten Jahren hat sich immer mehr der Begriff der Umweltgerechtigkeit durchgesetzt. Ziel ist eine sozial gerechte Verteilung der vorhandenen Umweltbelastungen. Der Begriff der Umweltgerchtigkeit bezieht sich auf die „Vermeidung und Verminderung der räumlichen Konzentration von gesundheitsrelevanten Umweltbelastungen sowie auf die Gewährleistung eines sozialräumlich gerechten Zugangs zu Umweltressourcen“ [6]. Was die Versorgung mit Grünflächen betrifft, bestehen große Diskrepanzen. Vor allem Innenstadtbereiche und Quartiere mit Block- und Blockrandbebauung weisen Gründefizite auf. Besonders gravierend ist die Lage in sozial benachteiligten Quartieren: Der Anteil der Grünflächen ist nach Berechnungen des BBSR dort mit durchschnittlich 38 Quadratmetern pro Einwohner deutlich niedriger als der allgemeine Durchschnitt mit 50 Quadratmetern pro Einwohner [7]. Wenn in bereits benachteiligten Gebieten Grünflächen fehlen, kann es zu weiteren Problemen wie einer gesteigerten Kriminalitätsrate führen und in diesem Zusammenhang nimmt das Sicherheitsempfinden der Bewohner stetig ab. Mit Grün unterversorgte Gebiete müssen darum identifiziert und genau erfasst werden. Projektbeispiele: Stadt Bochum: „Vom Hausacker zum Urban Green“ Die Stadt Bochum verfolgt mit ihrem Green Urban Lab „Vom Hausacker zum Urban Green“ unter Federführung des Sport- und Bäderamts die Idee, eine ursprüngliche Sportfläche in ein „grünes Quartierszentrum“ weiter zu entwickeln. Die aufgegebene Sportplatzanlage „Am Hausacker“ enthält mit 20 000 m 2 Fläche Entwicklungspotenzial für Natur, Sport, Freizeit und Begegnung. Dem Anspruch der Umweltgerechtigkeit wird Rechnung getragen, indem die Maßnahme in einem perspektivisch sozial benachteiligten Wohngebiet installiert wird, um dort gezielt naturnahe Grünräume zu schaffen. Unter Beteiligung verschiedener Akteure soll eine multifunktionale und multisoziale Sport- und Freizeitfläche als Quartierstreffpunkt für das benachbarte Quartier „Riemke“ entstehen. Niederschwellige Bewegungs- und Mitmachangebote wie eine Boule-Anlage, Spielplätze, ein kleines Begegnungscafé sowie eine Fahrradwerkstatt sollen in den Stadtteil hineinwirken. Ein neuer „Bürgerpavillon“ soll gleichzeitig als multifunktionale Freilufthalle und überdachtes Kleinspielfeld fungieren. Ziel ist es, Vielfalt auf kleinem Raum zu erzeugen, um Räume für Kommunikation, Aktivitäten im Freien und Naturerfahrung sowie für einen offenen Austausch von Erfahrungen und Kompetenzen zu schaffen. Der Betrieb, die Unterhaltung und Pflege der Anlage soll in Form eines innovativen Betreibermodells durch einen freien Träger der Kinder- und Jugendarbeit gewährleistet werden. Stadt Halle (Saale): „Stadtgrüninseln“ Die Stadt Halle strebt in Kooperation mit Eigentümern und zivilgesellschaftlichen Akteuren eine Stärkung der Aufenthalts- und Erholungsqualität des Quartiers „Freiimfelde“ an. Es sollen drei unterschiedliche Formen urbanen Grüns entstehen: Ein „Bürgerpark“ aus einer gemeinschaftlich gestalteten Brachfläche, eine „Wildnis“-Fläche aus einer natur- Bild 4: Stadtgrüninseln in Halle. © Urbanizers 65 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen schutzrechtlichen Ausgleichsmaßnahme und „Urban LandArt“ als ein Zusammenschluss von Land- Art und Street-Art. Der Bürgerpark, eine Brache auf der Landsberger Straße ist schon seit vielen Jahren als Grün- und Spielbereich im Fokus der Bewohner. Langwierige und erfolglose Verhandlungen mit spekulierenden Eigentümern konnten 2016 durch den Erwerb der Fläche durch die Montag-Stiftung „Urbane Räume“ beendet werden. Nun steht die Brache den Bewohnern für eine gemeinschaftliche Entwicklung zum Bürgerpark zur Verfügung. Geplant ist ein biodynamischer essbarer „Wald“, dessen Dynamik eine Ausnutzung symbiotischer Beziehungen der Pflanzen untereinander erreicht. Gleichzeitig soll ein Erlebnisraum entwickelt werden. Unter Verwendung natürlicher Materialien entstehen kleinstrukturierte Räume bzw. ökologische Nischen als eine generationsübergreifende Stadtlandschaft mit Freizeit- und Erholungscharakter. Öffentlich zugängliche Gemeinschaftsgärten dienen dem Quartier als wichtige Orte für das Zusammenkommen der Bewohner aller Altersgruppen und Nationalitäten. In Zusammenarbeit mit Bildungs- und Sozialeinrichtungen vor Ort können Lehrgärten und Versuchsbeete wie zum Beispiel ein „Grünes Klassenzimmer“ angelegt werden. Die Stadtgärten lassen die ungenutzten Flächen wieder aufblühen und erhöhen die Biodiversität. Sie haben einen positiven Einfluss auf das Stadtklima und auf die Gesundheit der Anwohner. Ausblick Eine funktionierende Stadtgesellschaft braucht mehr denn je Grünflächen: als physische und psychische Kompensation der gebauten Infrastruktur. In Regionen mit Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Dynamik stehen Freiräume damit unter Entwicklungsdruck, denn rentierliche Nutzungen erhalten häufig den Vorzug. Beim Ausgleich verschiedener Anliegen in der Stadtentwicklung haben Grünflächen jedoch nach wie vor eine relativ schwache Position. Die kommunale Herausforderung besteht nun darin, in kompakten Gebieten ein hohes Maß baulicher Dichte und eine angemessene Durchgrünung in Einklang zu bringen. Dieser anspruchsvolle Prozess wird als doppelte Innenentwicklung deklariert. Es geht hierbei nicht um „mehr“ Grünflächen, sondern um eine qualitative Aufwertung des bestehenden Stadtgrüns. Vorhandene Flächen und Bauten sollen sinnvoll genutzt werden. Das ExWoSt-Forschungsfeld versucht, hierzu neue und smarte Lösungen zu finden. Die Green Urban Labs nehmen neue Nutzungen und Funktionen des Stadtgrüns sowie die Bedürfnisse der Stadtbewohner in den Blick. Thematisch sind sie breit angelegt. Was die Modellvorhaben eint, ist ihr experimenteller Ansatz. In den „grünen Stadtlaboren“ ist es ausdrücklich erwünscht, innovative Ansätze auszutesten. Die Ergebnisse werden Ende 2020 vorliegen. Mehr Informationen zum Forschungsfeld unter: www.bbsr.bund.de/ green-urban-labs LITERATUR [1] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) (Hrsg.): Divergenzen und Konvergenzen in Großstadtregionen - kleinräumige Analysen. Bonn. BBSR-Analysen KOMPAKT 07 (2015), S. 11. [2] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) (Hrsg.): (): Die Raumordnungsprognose 2035 nach dem Zensus. Bonn. BBSR-Analysen KOMPAKT 05 (2015), S. 11. [3] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) (Hrsg.): Grün in der Stadt - Für eine lebenswerte Zukunft. Grünbuch Stadtgrün, Berlin, 2015, S. 69. [4] Bundesamt für Naturschutz (BfN) (Hrsg.): Urbane grüne Infrastruktur - Grundlage für attraktive und zukunftsfähige Städte, Hinweise für die kommunale Praxis, Berlin, 2017, S.5. [5] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) (Hrsg.): Handlungsziele für Stadtgrün und deren empirische Evidenz. Indikatoren, Kenn- und Orientierungswerte., Bonn. 2017, S. 20. [6] C. Böhme, T. Preuß, A. Bunzel, B. Reimann, A. Seidel- Schulze, D. Landua: Umweltgerechtigkeit im städtischen Raum. Strategien und Maßnahmen zur Minderung sozial ungleich verteilter Umweltbelastungen, Berlin 2014, S. 5. [7] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) (Hrsg.): Grün in der Stadt - Für eine lebenswerte Zukunft. Grünbuch Stadtgrün, Berlin, 2015, S. 70. AUTORIN Dipl.-Ing. Stephanie Haury Architektin und Stadtplanerin Projektleiterin im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zu Bürgerengagement, Interventionen im öffentlichen Raum und neuen Impulsen für Grün- und Freiräume. Kontakt: stephanie.haury@bbr.bund.de
