eJournals Transforming cities 3/3

Transforming cities
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2366-7281
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2018-0071
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Neue Perspektiven durch Vertikale Freiräume

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Isabel Zintl
Ferdinand Ludwig
Städtische Freiräume stehen unter Druck: Die zunehmende bauliche Verdichtung, der Klimawandel und sich verändernde gesellschaftliche Bedürfnisse legen es nahe, über die Zukunft von Freiräumen grundsätzlich nachzudenken. Hierbei gerät die dritte Dimension verstärkt in den Blick – denn wenn bislang zumeist horizontal konzipierte Freiräume in die Vertikale erweitert werden, eröffnen sich neue Perspektiven und räumliche Potenziale.
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70 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Gesellschaftliche und klimatische Veränderungen weltweit haben Städte und ihre Freiräume in den letzten Jahren vor enorme Herausforderungen gestellt. Die anhaltende Urbanisierung [1] bringt viele Städte nicht nur an ihre räumlichen Grenzen, sondern auch an die Grenzen ihrer gesellschaftlichen Belastbarkeit. Stadträume werden im Zuge strategischer Innenentwicklung massiv baulich nachverdichtet, um dem Bevölkerungszuwachs als Folge der „Renaissance der Stadt“ [2] begegnen zu können. Mit diesen Entwicklungen geht auch ein Anstieg von versiegelten Flächen einher, der in Verbindung mit den immer stärker spürbar werdenden Folgen des globalen Klimawandels zur Verschlechterung des lokalen Klimas (Hitzeinseln) und einer verminderten Luftqualität führt. Zusätzlich mindern die Folgen der baulichen Nachverdichtung - mit dem einhergehenden Verlust an Rückzugsmöglichkeiten ins Grüne - die Lebensqualität in vielen Städten erheblich [3]. Bei der Stadtbevölkerung lösen all diese Entwicklungen teils eine große Sehnsucht nach Natur und Freiräumen in der Stadt aus [4]. Denn Freiräume sind mehr denn je Sehnsuchtsorte und „grüne Oasen“ für die Stadtbevölkerung und somit von unschätzbarem Wert. Sie bieten in ihrer räumlichen Offenheit die Voraussetzung, das Zusammenleben immer wieder neu auszuhandeln und schaffen einen Rahmen für öffentlich sichtbare Stadtkultur [5]. Gerade in Zeiten gestiegener Integrationserfordernisse ist dies unerlässlich, da eine multikulturelle Stadtgesellschaft ganz besonders auf Begegnung und Austausch angewiesen ist. Den Freiräumen einer Stadt kommt also in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselrolle zu, da sie die räumliche Grundlage für viele zukünftige Herausforderungen darstellen. In Anbetracht all dieser - teils widersprüchlichen - Anforderungen werden sie zu einem begehrten und dadurch oft auch bedrohten Gut. Vielerorts steigt bereits der Druck auf Freiräume immens an und es stellt sich die Frage, ob ein „klassischer“ Freiraum - mit seiner begrenzten Fläche - all diesen Ansprüchen noch gerecht werden kann. Vertikalität Dass die Nutzfläche von Freiräumen gewöhnlich durch ihre Grundfläche definiert ist, liegt daran, dass wir sie bislang fast ausschließlich horizontal denken. Wenn wir jedoch den Blick nach oben - in die Vertikale - wenden, eröffnet sich nicht nur eine neue Perspektive, sondern es wird auch eine Vielzahl neuer Potenziale erkennbar. Dass dieser Blick durchaus ungewöhnlich ist, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass sich der Mensch Neue Perspektiven durch Vertikale Freiräume Vertikale Freiräume, dreidimensionale Parks, Freiraum Typologien, Baubotanik, Dichte, Klimawandelanpassung Isabel Zintl, Ferdinand Ludwig Städtische Freiräume stehen unter Druck: Die zunehmende bauliche Verdichtung, der Klimawandel und sich verändernde gesellschaftliche Bedürfnisse legen es nahe, über die Zukunft von Freiräumen grundsätzlich nachzudenken. Hierbei gerät die dritte Dimension verstärkt in den Blick - denn wenn bislang zumeist horizontal konzipierte Freiräume in die Vertikale erweitert werden, eröffnen sich neue Perspektiven und räumliche Potenziale. Bild 1: Vertikaler Freiraum, aus geschichteten Freiflächen. © Simon Wahlers 71 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen seit je her auf horizontaler Ebene bewegt und orientiert. „Aus diesem Grund hat sich die Kraft seiner Optik vorwiegend in die Breite orientiert, denn die Gefahrenzone lag hauptsächlich seitlich“ [6]. Diese urzeitliche Prägung der menschlichen Optik verlangt nach einem bewussten Blick nach „oben“. Doch gerade im Hinblick auf die bereits beschriebenen, sich immer weiter beschleunigenden Urbanisierungsprozesse und die damit einhergehende bauliche Verdichtung scheint es durchaus lohnend, den Blick zu wenden und auch über die Verdichtung von Freiräumen und somit auch über die verstärkte Nutzung der vertikalen Dimension nachzudenken. Freiraum neu denken Folglich gilt es, neue Freiraumtypologien und -arten zu entwickeln. Diese sollten nicht nur Antworten auf die skizzierten aktuellen Herausforderungen bieten, sondern auch die Ansprüche einer immer diverser werdenden Stadtgesellschaft befriedigen. In den letzten Jahren hat sich die Wahrnehmung von und Erwartungshaltung gegenüber Freiräumen teils stark gewandelt. Heute stehen nicht mehr unbedingt die bekannten Aspekte wie Kontemplation, Entspannung und Sicherheit im Vordergrund, sondern auch der Reiz, die Aufforderung und die maßvolle Verunsicherung spielen eine wichtige Rolle [5]. In letzter Konsequenz erfordert dies eine Neudefinition des Begriffs Freiraum, der bislang allgemein als „fließend existierendes Kontinuum unter freiem Himmel, das sich von seinem Umfeld durch geringe bauliche Überformung abhebt“ [7] beschrieben wird. Damit schließt man aber automatisch vertikale, architekturnahe Freiräume wie beispielsweise Balkone aus, die jedoch eine wichtige Rolle bei der Versorgung mit privatem Freiraum spielen. In der Realität ist der Freiraum einer Stadt bereits heute etwas viel Umfassenderes, Vielschichtigeres und Dreidimensionales. „So scheint es angemessener, Freiraum eher mit dem architektonischen Begriff „Außenraum“ zu definieren: Ein Raum also, der nur bedingt vor Witterungseinflüssen geschützt ist“ [8]. Vertikale Freiräume Wir sprechen dann von einem Vertikalen Freiraum, wenn Freiflächen geschichtet werden und dadurch ein begehbarer dreidimensionaler Außenraum entsteht [9] (Bild 1). In der Architekturgeschichte finden sich einige wichtige bauliche Zeugnisse und Visionen, die diesen Gedanken verkörpern, wie beispielsweise die mythischen hängenden Gärten der Semiramis in Babylon [10], oder aktuell die grünen Architekturen von Ken Yeang [11]. Eine derartige Stapelung findet sich auch im Projekt 1111 Lincoln Bild 2: Projekt 1111 Lincoln Road in Miami, Herzog & de Meuron. © Hufton + Crow Bild 3: Yoga im Parkhaus in Miami. © Erika Thomas Bild 4: MFO-Park auf dem Gelände der ehemaligen Maschinenfabrik Oerlikon im Stadtteil Neu-Oerlikon in Zürich. © Michael Freisager 72 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen Road in Miami von Herzog & de Meuron (Bild 2). Mit dem Parkhaus schufen die Architekten einen Vertikalen Freiraum, der durch die Komprimierung von Fläche neben Stellplätzen auch Raum für gemeinsames Yoga, Sport und Outdoor-Parties bietet (Bild 3). Von diesem Ansatz deutlich zu unterscheiden sind in die Vertikale gekippte, gewöhnlich horizontal ausgerichtete Objekte wie beispielsweise die Vertikalen Gärten von Patrick Blanc [12]. Hier können wir nicht von Vertikalen Freiräumen sprechen, da derartige Objekte nicht zugänglich und daher nicht in der dritten Dimension erlebbar sind. Dem stehen Ansätze gegenüber, die die Erlebbarkeit der Vertikalen bewusst zum Thema machen und diese inszenieren: Aussichtstürme, Baumwipfelpfade, temporäre Kunstinstallationen aus Gerüsten wie die „Schaustelle“ von Jürgen Mayer H. 2013 vor der Pinakothek der Moderne in München. Auch das wohl bekannteste Beispiel für einen Vertikalen Freiraum, der „MFO Park“ als dreidimensionaler Park von den Landschaftsarchitekten raderschallpartner ag und den Architekten Burckhardt+Partner AG in Zürich-Oerlikon, steht für diese bewusst entworfene Erlebbarkeit der Vertikalen. (Bild 4) Der Platanenkubus Ähnlich wie der „MFO Park“ weckt der Platanenkubus in Nagold den Entdeckergeist des Betrachters und die Hoffnung auf einen ungewöhnlichen Ausblick auf die Umgebung (Bild 5). Das baubotanische Bauwerk von ludwig.schönle erreicht dies, indem es das Betreten einer Baumkrone ermöglicht. Wer wollte nicht einmal oben in einer Baumkrone sein? Das Rauschen der Blätter und die tanzenden Schatten stehen im Kontrast zu der geometrischen Gestaltung der unterschiedlichen Ebenen und Treppen (Bild 6). Die hybride Bauweise aus Bäumen und Stahl macht dies möglich. Das experimentelle Bauwerk ist als „Vertikaler Quartiersplatz“ konzipiert und macht das Wachstum der Vegetation und den Wechsel der Jahreszeiten auf ganz besondere Weise erlebbar. Es dient der Erprobung und Weiterentwicklung baubotanischer Methoden und macht dies auch gleichzeitig als „Anschauungsobjekt“ einer breiten Bevölkerung zugänglich [13] (Bild 7). Das Forschungsprojekt veranschaulicht auch, wie wichtig bei der Planung von Vertikalen Freiräumen die Wahl eines passenden Vegetationskonzeptes ist. Eine große Herausforderung liegt hier insbesondre im Umgang mit dem Faktor Zeit. Bäume müssen wachsen und entfalten oft erst im hohen Alter ihre volle Pracht. Die Architektur verhält sich dazu oft konträr - sie fängt an zu altern und wird entweder renoviert oder abgerissen. Es ist demnach wichtig, Bilder 5 bis 8: Platanenkubus. © ludwig.schoenle 73 3 · 2018 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Räume und Flächen ein hybrides Bauwerk wie den Platanenkubus bewusst mit Blick auf den Faktor Zeit zu konzipieren (Bild 8). Das Projekt ist als eine erste städtebauliche Setzung entstanden, welche zeitlich weit vor der Entwicklung des Stadtviertels umgesetzt wurde. Parallel zu der baubotanischen Entwicklung der Bäume - die mit der Zeit zu einer Baumkrone verwachsen, wächst auch die Stadt um den „Kubus“. Ausblick Um die Chancen und Probleme von Vertikalen Freiräumen auszuloten, ist weitere Forschung nötig. Wichtig dabei ist, dass wir von den bereits bestehenden Projekten lernen, die wie der „MFO-Park“ oder der Platanenkubus oft sehr aufwendige Pilotprojekte sind und somit wohl eher Einzelfälle bleiben werden. Es ist an der Zeit, Konzepte zu entwickeln, die eine größere Relevanz entfalten und das Spektrum an Einsatzmöglichkeiten verbreitern. Denn wie die beschriebenen Beispiele gezeigt haben, sind die Gründe für die „Vertikalität“ von Freiräumen so verschieden wie die Vielzahl wertvoller und ungewöhnlicher Treffpunkte für die Bevölkerung, die dadurch entstehen. So bieten Vertikale Freiräume beispielsweise auch einen interessanten Lösungsansatz im Kontext hoher baulicher Dichte, um auch nachträglich neue Freiräume zu schaffen (Bild 9). Die vertikalen Typologien lassen sich so nutzen, um bislang ungenutzte Raumpotenziale zu heben und beispielsweise Dachlandschaften für die breite Bevölkerung zugänglich zu machen. LITERATUR [1] Birch, E., Wachter, S.: Global Urbanization. University of Pennsylvania Press, Philadelphia, (2011), S. 4. [2] Läpple, D: Thesen zu einer Renaissance der Stadt in der Wissensgesellschaft. In: Gestring, N., Glasauer, H., Hannemann, C., Petrowsky, W., Pohlan, J. (Hrsg.): Jahrbuch StadtRegion 2003, Opladen, (2004), S. 61-77. [3] Stokman, A., Deister, L., Brenne, F., Henrichs, M., Jeskulke, M., Hoppe, H., Uhl, M.: Wassersensible Stadt- und Freiraumplanung Handlungsstrategien und Maßnahmenkonzepte zur Anpassung an Klimatrends und Extremwetter. Universität Stuttgart Institut für Landschaftsplanung und Ökologie, Stuttgart, (2016), S. 3. [4] Oswalt, P.: Entwerfen von Natur. In Thesis: wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar, Heft 5, Weimar, (1997), S. 75-79. [5] Lohrberg, F.: Freiraum in der Stadt, in: innerorts. Zukunftsfähige Stadterneuerung in Baden-Württemberg - Bauherrenpreis 2000-2006, Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg, Architektenkammer Baden-Württemberg, Stuttgart, (2007), S. 3, 4. [6] Frutiger, A.: Der Mensch und seine Zeichen. Matrix Verlag, Wiesbaden, (2004), S. 25-26. [7] Bernard, S., Sattler, P.: Vor der Tür: Aktuelle Landschaftsarchitektur aus Berlin. Callwey Verlag, München, 1997, S. 101. [8] Zintl, I., Wahlers, S., Ludwig, F.: Freiraum vertikal denken - Neue Perspektiven für „Vertikale Freiräume“, Verlag Technische Universität München, Fakultät für Architektur, München, (2018), S. 126. [9] Zintl, I., Ludwig, F.: Vertikale Freiräume - Chancen für die dritte Dimension in der Landschaftsarchitektur. In: Stadt+Grün, 02, (2018). [10] Rollinger, R.: Babylon in der antiken Tradition-Herodot, Ktesias, Semiramis und die Hängenden Gärten. In: Marzahn, J., Schauerte, G. (Hrsg.): Babylon. Wahrheit, Berlin, (2008), S. 487-502. [11] Yeang, K.: The green skyscraper: the basis for designing sustainable intensive buildings. Prestel, München, New York, 1999. [12] Lambertini, A., Leenhardt, J.: Vertikale Gärten. Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2009. [13] Ludwig, F.: Plane Tree Cube Nagold. Loft Publications, Barcelona, 2017. Bild 9: Freiräume in Baulücken. © Studio Vertikaler Freiraum AUTOR I NNEN Isabel Zintl, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Professur für Green Technologies in Landscape Architecture Technische Universität München, München Kontakt: isabel.zintl@tum.de Prof. Dr. Ferdinand Ludwig Professor Professur für Green Technologies in Landscape Architecture Technische Universität München, München Kontakt: ferdinand.ludwig@tum.de