Transforming cities
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2366-7281
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2019-0065
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Urbane Akupunktur
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Jessica Hemingway
Juliane Mathey
Peter Wirth
Hinter dem Konzept der städtischen Akupunktur steckt die Idee, mit kleinen gezielten Eingriffen in die Struktur von Städten große Auswirkungen auf deren Entwicklung auszulösen. Lässt sich dieser Ansatz auch auf das Stadtgrün übertragen? Grünflächen in Städten gewinnen zweifellos an Bedeutung. Egal ob es darum geht, den Zugang zu Parks und Spielplätzen zu verbessern oder die Auswirkungen des Klimawandels zu mindern [1, 2], stets werden damit Forderungen verbunden, den Anteil und die Qualität des Grünsystems in den Städten zu erhöhen. Der Wohnungsbedarf der Bevölkerung und das Wirtschaftswachstum machen die Neuausweisung großer Grünflächen aber fast unmöglich. Dagegen sind kleinere Flächen wie Innenhöfe, verlassene Parzellen, Fassaden, Dächer und Straßenränder oft untergenutzt und noch verfügbar. Aber haben sie auch das Potenzial, unsere Städte ökologisch aufzuwerten?
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76 3 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtisches Grün - städtisches Blau Was ist städtische Akupunktur und was hat sie mit der Transformation von Städten zu tun? Akupunktur ist die traditionelle Praxis der chinesischen Medizin, feine Nadeln an bestimmten Stellen durch die Haut zu führen, um Krankheiten zu heilen, Schmerzen zu lindern oder die Heilung zu fördern [3]. Das Konzept der städtischen oder urbanen Akupunktur knüpft daran an. Mit dem Ziel, die Funktion der Städte zu verbessern, wurde es schon in verschiedenen Teilen der Welt angewendet, hauptsächlich in Südamerika, Australien und einigen nordamerikanischen Städten. Jamie Lerner, Architekt und ehemaliger Bürgermeister von Curitiba, Brasilien, definiert städtische Akupunktur als eine Art Medizin, die auf Städte angewendet werden kann. Er schlägt, ähnlich wie in der traditionellen Medizin, vor, dass eine erfolgreiche Stadtplanung durch kleine Eingriffe, vergleichbar mit Nadelstichen, ausgelöst werden kann, was zu einer gesünderen Umwelt in den Städten führen soll [4]. Daran anknüpfend betrachtet der finnische Architekt Marco Casagrande die Stadt als einen multidimensionalen Organismus oder eine Lebensumwelt, in der bestimmte sensible Ströme innerhalb der gebauten menschlichen Umgebung existieren. Man müsse mit der Lebensumwelt der Stadt in Kontakt sein, um Akupunkturpunkte und die richtigen „Nadeln“ zu identifizieren um damit eine gewünschte Reaktion auszulösen [5]. Die Verfechter dieses Ansatzes versuchen, die „Akupunkturpunkte“ (also bestimmte sensible Orte) zu identifizieren, die Bedeutung für den Stadt-Organismus haben, um dort die „Nadeln“ Urbane Akupunktur Ein Ansatz zur städtischen Grünentwicklung? Grüne Infrastruktur, Ökosystemleistungen, Bürgerbeteiligung, Stadtnatur, Lebensqualität, Planung Jessica Hemingway, Juliane Mathey, Peter Wirth Hinter dem Konzept der städtischen Akupunktur steckt die Idee, mit kleinen gezielten Eingriffen in die Struktur von Städten große Auswirkungen auf deren Entwicklung auszulösen. Lässt sich dieser Ansatz auch auf das Stadtgrün übertragen? Grünflächen in Städten gewinnen zweifellos an Bedeutung. Egal ob es darum geht, den Zugang zu Parks und Spielplätzen zu verbessern oder die Auswirkungen des Klimawandels zu mindern [1, 2], stets werden damit Forderungen verbunden, den Anteil und die Qualität des Grünsystems in den Städten zu erhöhen. Der Wohnungsbedarf der Bevölkerung und das Wirtschaftswachstum machen die Neuausweisung großer Grünflächen aber fast unmöglich. Dagegen sind kleinere Flächen wie Innenhöfe, verlassene Parzellen, Fassaden, Dächer und Straßenränder oft untergenutzt und noch verfügbar. Aber haben sie auch das Potenzial, unsere Städte ökologisch aufzuwerten? Bild 1 (links): Fläche nach Abriss eines Hochhauses im Jahr 2006. © R. Bendner Bild 2 (rechts): Dieselbe Fläche nach Umgestaltung zu einer Rasenfläche mit Wildblumenstreifen im Jahr 2013. © S. Eger 77 3 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtisches Grün - städtisches Blau (spezifische Maßnahmen) anzusetzen, die zur Lösung der jeweiligen Probleme erforderlich sind. In Brisbane (Australien) zum Beispiel haben Planer ungenutzte Räume gesucht, um die soziale Interaktion der Bewohner mit künstlerischen, musikalischen und sportlichen Aktivitäten zu reaktivieren. Dies geschah im Rahmen eines großen Festivals und führte zu langfristigen sozialen Interaktionen, die auch nach Ende des Festivals fortgeführt wurden [6]. In Melbourne (Australien) wurde eine Öko-Akupunktur umgesetzt, um nachhaltigere städtische Wegeverbindungen aufzuwerten. Zu den umgesetzten Maßnahmen zählten die Regenwasserableitung, die Schaffung von Feuchtgebieten und die Anlage von Gemeinschaftsgärten [7]. In allen Fällen wurden die Bewohner der Stadtteile intensiv einbezogen. Bei deren Aktivierung spielten die sozialen Medien eine große Rolle. Wie können solche Erfahrungen mit urbaner Akupunktur bei der Entwicklung von städtischem Grün in Deutschland genutzt werden? Das vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) herausgegebene „Weißbuch Stadtgrün“ zielt darauf ab, politische Impulse zur Unterstützung und Sicherung der sogenannten städtischen grünen Infrastruktur in deutschen Städten zu geben [8]. Darunter wird ein Netzwerk von naturnahen Gebieten und Elementen in Städten verstanden, die so geplant und gepflegt werden, dass sie zusammen eine hohe Qualität der Nutzbarkeit, der biologischen Vielfalt, der Ästhetik und eines breiten Spektrums an ökologischen Leistungen bieten [9]. Jegliche Art von Grünflächen und Gewässern kann Teil dieser städtischen grünen Infrastruktur sein oder werden, unabhängig von Eigentumsform und Entstehung. Versiegelte und bebaute Flächen (graue Infrastruktur) können in grüne Infrastruktur umgewandelt werden. Städtische grüne Infrastruktur kann auf verschiedenen Ebenen geplant und entwickelt werden, von der ganzen Stadt, über einzelne Bezirke bis in die Wohnquartiere hinein. Es wird erwartet, dass die grüne Infrastruktur zu einer besseren Lebensqualität, einer höheren Attraktivität der Städte und einer besseren Bereitstellung von Dienstleistungen beiträgt, die die Bewohner für ihr tägliches Leben benötigen (zum Beispiel Wasser, Energie, Mobilität). Die Gesundheit, das persönliche Wohlbefinden, die Anpassung an den Klimawandel und die biologische Vielfalt sollen gefördert werden. Eine Umsetzung dieser Ziele soll im Rahmen des „Masterplans Stadtnatur“ erfolgen. Dabei geht es auch um die Erprobung neuer Ansätze und um die Entwicklung von Instrumenten für lokale Akteure-[10]. Projekte, die als urbane Akupunktur gesehen werden können, wurden auch in der Vergangenheit schon umgesetzt. Ein Beispiel dafür sind die Neugestaltungsmaßnahmen in Dresden-Prohlis. Hier wurde unter anderem auf der Fläche eines im Zuge des Stadtumbaus Ost abgerissenen Hochhauses (Bild-1) eine Rasenfläche mit einem Wildblumenstreifen angelegt (Bild- 2). Diese kleine Grünfläche trägt zur wohnungsnahen Erholung, zur Klimaanpassung und zur Erhöhung der Biodiversität bei und ist über vorhandene Grünflächen in das städtische Grünsystem eingebunden [11]. Kann das Konzept der urbanen Akupunktur auch in Deutschland genutzt werden, um die Qualität des Stadtgrüns zu verbessern? Wie kann dies erfolgen? Und welche ökologischen Leistungen können damit verbessert werden? SALUTE4CE - ein EU-Projekt zur Verbindung von städtischer Akupunktur und Stadtgrün Das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) in Dresden arbeitet seit Kurzem mit dem Institut für die Ökologie von Industriegebieten in Katowice (Polen), weiteren Forschungseinrichtungen sowie den Städten Erfurt (Deutschland), Chorzow (Polen), Alessandria (Italien) und Liptovsky Mikulas (Slowakei) am EU-Projekt „SALUTE4CE“ (2019-2022). Im Rahmen des Projekts, das von der Europäischen Union im Rahmen des Programms Interreg CEN- TRAL EUROPE gefördert wird, geht es um die Verbesserung des Managements kleiner Grünflächen mit Hilfe des Konzepts der urbanen Akupunktur. Zu diesem Zweck wurden in den vier beteiligten Städten jeweils vier kleine Grünflächen ausgewählt. Bedingung war, dass diese Flächen nicht größer als 0,2 Hektar sind. Das entspricht etwa dem Viertel eines Fußballfeldes (Bild- 3). Mit kleinen gezielten Maßnahmen in diesen insgesamt 16 „Akupunkturpunkten“ sollen die biologische Vielfalt erhöht, die Anpassung an den Klimawandel verbessert und die Lebensqualität der Bewohner gefördert werden. Bild 3: Größenvergleich 0,2 Hektar in Relation zu einem Fußballplatz. © J. Hemingway 78 3 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtisches Grün - städtisches Blau Im Einzelnen handelt es sich um derzeit schlecht oder gar nicht genutzte Flächen wie Hinterhöfe, Wegeverbindungen, Brachflächen, Fassaden und Straßensäume. Im konkreten Beispiel der Stadt Erfurt wurden ein Mini-Park, das Freigelände einer Kindertagesstätte, eine Hausfassade sowie der Innenhof eines Plattenbauquartiers ausgewählt. Ideen für die Gestaltung sollen gemeinsam mit den potenziellen Nutzern (Anwohner, Kinder) im Rahmen von öffentlichen Workshops erarbeitet werden. Die Umsetzung soll bis zum Projektende 2022 erfolgen. Weitere geplante Ergebnisse des Projekts werden ein Handbuch und ein Leitfaden zur Erstellung von kommunalen Akupunktur-Konzepten für Praktiker sein. Letzterer wird eine allgemeine Methodik und Kriterien für die Auswahl von geeigneten Flächen und die Umsetzung von Projekten enthalten. Die in den Pilotstudien gewonnenen praktischen Erkenntnisse sollen dazu beitragen, das Wissen über die Aktionsplanung auf lokaler Ebene anhand kleiner Grünflächen zu erweitern, inklusive einer Schrittfolge zur Umwelt-Akupunktur in städtischen Gebieten. Durch die Zusammenarbeit mit Partnern in anderen Ländern können internationale Erfahrungen in den Leitfaden aufgenommen werden. Urbane Akupunktur und potenzielle Beiträge zur städtischen Grünentwicklung Alles in allem scheint die urbane Umweltakupunktur ein großes Potenzial zur Verbesserung der Grünstruktur in unseren Städten zu haben. Aber es gibt bisher nur weniger Belege dafür, wie das Konzept funktioniert, welche Wirkungen erzielt werden können und wie es in traditionelle Systeme der Stadtplanung einbezogen werden kann. Das Projekt SALUTE4CE soll zu dieser Diskussion beitragen, indem es Erfahrungen auswertet, die bei der Umgestaltung ganz konkreter kleiner Grünflächen gemeinsam mit Interessengruppen und Bewohnern gewonnen werden. LITERATUR [1] Endlicher, W., Scherer, D., Büttner, B., Kuttler, W., Mathey, J., Schneider, C.: Stadtnatur fördert gutes Stadtklima. In: Kowarik, I., Bartz, R., Brenck, M. (Hrsg.): Naturkapital Deutschland - TEEB DE. Ökosystemleistungen in der Stadt - Gesundheit in der Stadt - Gesundheit schützen und Lebensqualität erhöhen. Berlin, Leipzig: Technische Universität Berlin, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ, 2016,51-63; https: / / w w w.uf z .de / e xpor t / dat a / g lob al/ 19 0 5 0 8 _T E EB _ DE_Stadtbericht_Langfassung.pdf [letzter Zugriff: 22.07.2019]. [2] Mathey, J., Rößler, S., Lehmann, I., Bräuer, A., Wende, W.: Biodiversität, Klimawandel und Stadtentwicklung - Anforderungen an städtische Grün- und Freiräume. Denkströme Heft 18, (2017), S. 28-43; http: / / w w w.denk stroeme.de/ hef t-18/ s _ 28 - 43 _ matheyroessler-lehmann-braeuer-wende [letzter Zugriff: 22.07.2019]. [3] Merriam Webster Dictionary: https: / / www.merriamwebster.com/ dictionary/ acupuncture. July 1, 2019. [4] Lerner, J.: Urban Acupuncture. Celebrating pinpricks of Change that Enrich City Life. 2016, Washington, Covelo, New York. [5] Casagrande, M.: http: / / casagrandetext.blogspot. com/ 2010/ 04/ laurits-elkjr-marco-casagrande-urban. html, 2010. [6] Houghton, K., Foth, M., Miller, E.: Urban acupuncture: Hybrid social and technological practices for hyperlocal placemaking. 2015, Journal of Urban Technology, 22 (3), S. 3-19. [7] Ryan, C.: Eco-Acupuncture: designing and facilitating pathways for urban transformation, for a resilient low-carbon future. 2012, Journal of Cleaner Production, (50) S. 189-199. [8] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB): Weißbuch Stadtgrün. Grün in der Stadt - Für eine lebenswerte Zukunft, Berlin 2017. [9] Bundesamt für Naturschutz (BfN): Urbane Grüne Infrastruktur: Grundlage für attraktive und zukunftsfähige Städte. Hinweise für die kommunale Praxis, Bonn, 2017. [10] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU): Masterplan Stadtnatur - Maßnahmenprogramm der Bundesregierung für eine lebendige Stadt, Berlin 2019. [11] IÖR: Kleinbiotope - Wissenschaftliche Begleitstudie zum Projekt „Kleinbiotope - Lebensräume für wild lebende Tiere und Pflanzen im Gebiet Soziale Stadt Dresden-Prohlis/ Wohngebiet am Koitschgraben“. Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung, Dresden, 2015. https: / / www.ioer.de/ projekte/ aktuelle-projekte/ kleinbiotope/ [letzter Zugriff: 17.07.2019]. Dr.-Ing. Jessica Hemingway Wissenschaftliche Mitarbeiterin Leibniz Institut für ökologische Raumentwicklung Kontakt: j.hemingway@ioer.de Dr. rer. nat. Juliane Mathey Wissenschaftliche Mitarbeiterin Leibniz Institut für ökologische Raumentwicklung Kontakt: j.mathey@ioer.de Dr. rer. nat. Peter Wirth Projektleiter Leibniz Institut für ökologische Raumentwicklung Kontakt: P.Wirth@ioer.de AUTOR*INNEN
