Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2019-0086
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2019
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Stromversorgung und urbanes Kontinuitätsmanagement
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Sadeeb Simon Ottenburger
Neben den im Rahmen der Gewährleistung von Netzstabilität und Stromqualität viel diskutierten technischen und sozialen Herausforderungen einer dezentralen und erneuerbaren Stromversorgung existieren auch neue Risiken und Unsicherheiten: Diese entstehen als Folge der sich vergrößernden cyber-physikalischen Angriffsfläche smarter und dezentraler Systeme und der sich verändernden Rahmenbedingungen, welche unter anderem aus dem Klimawandel resultieren. Zudem wird in vielen Lösungsansätzen dem Verbraucher und seinem Verhalten eine größer werdende Teilverantwortung für die Netzstabilität zugeschrieben, was per se weitere Unsicherheiten erzeugt. Neue smarte Konzepte aus der Resilienzforschung können einen Großteil solcher Risiken und Unsicherheiten systematisch abfedern.
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60 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Stromversorgung und urbanes Kontinuitätsmanagement Versorgungssicherheit 2.0 - Smarte Konzepte zur Erhöhung der Resilienz moderner Städte in Zeiten dezentraler Strombereitstellung Stromversorgung, Urbane Resilienz, Kontinuitätsmanagement, Versorgungssicherheit, Kritikalität, Cyber-Security Sadeeb Simon Ottenburger Neben den im Rahmen der Gewährleistung von Netzstabilität und Stromqualität viel diskutierten technischen und sozialen Herausforderungen einer dezentralen und erneuerbaren Stromversorgung existieren auch neue Risiken und Unsicherheiten: Diese entstehen als Folge der sich vergrößernden cyber-physikalischen Angriffsfläche smarter und dezentraler Systeme und der sich verändernden Rahmenbedingungen, welche unter anderem aus dem Klimawandel resultieren. Zudem wird in vielen Lösungsansätzen dem Verbraucher und seinem Verhalten eine größer werdende Teilverantwortung für die Netzstabilität zugeschrieben, was per se weitere Unsicherheiten erzeugt. Neue smarte Konzepte aus der Resilienzforschung können einen Großteil solcher Risiken und Unsicherheiten systematisch abfedern. Photo by Alex on Unsplash THEMA Urbane Netze 61 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Resilienz Was ist Resilienz? Zunächst einmal hängt der Begriff Resilienz eines Systems von der Art des Schock- Ereignisses, den Eigenschaften des Systems und seinen Strategien zur Erholung ab. Die urbane Resilienz bezieht sich auf die Fähigkeit eines städtischen Systems, seine kritischen Funktionen angesichts erwarteter und unerwarteter Bedrohungslagen aufrechtzuerhalten oder schnell wiederherzustellen. Da eine Stadt ein komplexes System gegenseitig abhängiger Infrastrukturen ist, umfasst das Konzept der urbanen Resilienz unterschiedliche Resilienz-Dimensionen, welche soziale, wirtschaftliche, physikalische oder ingenieurtechnische Aspekte betreffen. Hierbei sind die Lebensadern moderner Gesellschaften, also kritische Verteil- und Transportsysteme, welche unter Anderem die Versorgung mit Strom oder Trinkwasser ermöglichen, von herausragender Bedeutung, da diese lebenswichtige Dienstleistungen für die Bevölkerung darstellen - Störungen oder Ausfälle dieser können zu Verletzungen oder sogar zu Todesfällen, Sachschäden, soziale und wirtschaftliche Beeinträchtigungen oder Umweltschäden führen. Kritische Infrastrukturen sind daher von zentraler Bedeutung bei Betrachtungen zur urbanen Resilienz: Sowohl die Erhöhung der Robustheit solcher Infrastrukturen als auch die Etablierung und Umsetzung neuer Kontinuitätsmanagementkonzepte in Bezug auf kritische Dienstleistungen können als wichtige Bausteine zur Erhaltung oder Verbesserung urbaner Resilienz angesehen werden (siehe Bild 1). Die Tatsache, dass das Funktionieren der meisten kritischen Infrastrukturen wie die Wasserversorgung, Krankenhäuser oder Verkehrs- und Transportsysteme auf eine kontinuierliche Versorgung mit Strom angewiesen ist, macht die Stromversorgung zu einer besonders wichtigen kritischen Infrastruktur. Stromversorgung im Wandel Die Stromerzeugung und -versorgung wandelt sich derzeit grundlegend. Im Rahmen der Energiewende wird der klassische Verbraucher durch die Integration von intelligenten Zählern, sogenannter Smart Meter, auch in der Lage sein, selbst als Stromanbieter zur Versorgung beizutragen - beispielsweise durch den Besitz einer PV-Anlage. Die dafür notwendigen Smart Meter sind elektronische Geräte, die den Stromverbrauch und die Stromerzeugung messen und somit eine wechselseitige Kommunikation mit anderen Zählern und Managementeinheiten im Verteilnetz ermöglichen [1]. Der Einsatz von Smart Metern (und noch vieler anderer smarter Komponenten) in einem hoch dezentralen Versorgungssystem ist für eine stabile und zuverlässige Versorgung notwendig, um unter Anderem ein Gleichgewicht zwischen Einspeisung und Verbrauch zu gewährleisten. Für die Aufrechterhaltung einer hohen Stromqualität und Netzstabilität in einem dezentralen und über eine große Region verzweigten Stromversorgungssystem ist ein Energiemanagement notwendig, dessen Architektur eine Aufteilung in mehrere miteinander verbundene Betriebszentren vorsehen kann, die ihrerseits als lokale Energiemanagementeinheiten, sogenannte Microgrids, angesehen werden können. Neue Versorgungsrisiken Allerdings werden Instabilitäten in solchen smarten und dezentralen Versorgungssystemen systembedingt wahrscheinlicher. Viele Komponenten so eines Verteilnetzes befinden sich nicht auf dem Gelände des Versorgungsunternehmens und sind daher potenziell anfälliger für Sachschäden. Außerdem sind IT-Systeme relativ kurzlebig und Hardwarekomponenten genügen nicht immer den neuesten Anforderungen. Daher muss die Widerstandsfähigkeit dezentraler Systeme vor allem vor dem Hintergrund des Klimawandels und der damit einhergehenden Extremwetter kritisch betrachtet werden. So können auch ungünstige Großwetterlagen, welche mehrtägige großflächige Dunkelflauten mit sich bringen, in einem auf erneuerbare Energien basierenden Energiesystem eine zuverlässige Versorgung gefährden. Des Weiteren ist der präzise und zuverlässige Betrieb einer smarten Stromversorgung, welche aus den oben genannten Gründen automatisiert in Echtzeit arbeitet, stark vom Genauigkeitsgrad und der Vollständigkeit der übertragenen Strom-Daten Bild 1: Versorgungsqualität kritischer Dienstleistung während kritischer Phasen optimieren. © Ottenburger 100 Q ph (%) Time t 1 t 0 62 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze abhängig. Allerdings bildet die große Zahl eingesetzter Geräte potenzielle Einstiegspunkte für Cyberangriffe wie die Verbreitung von Schadsoftware, welche Smart Meter oder andere elektronische Vorrichtungen infizieren kann, was sich zum Beispiel dadurch ausdrückt, dass in Geräten Funktionen hinzugefügt oder ersetzt werden. Die Manipulation sensibler Smart Meter Daten bzw. das Verzögern der Übertragung dieser kann zu einer Destabilisierung der Stromversorgung führen, da solche Eingriffe zum Beispiel Energie-Ressourcen nicht verfügbar erscheinen lassen oder Erzeugungs- und Nachfragedaten verfälschen und somit das Energiemanagement dazu veranlassen, falsche Entscheidungen zu treffen. Trotz der aktuellen und zukünftigen Fortschritte im Bereich der Cyber-Security wächst aufgrund der Zunahme potenzieller Einstiegspunkte für Hacker-Angriffe die Wahrscheinlichkeit eintretender Störungen in der Stromversorgung, deren Auswirkungen auf das Gesamtstromsystem, je nach Systemarchitektur und Netztopologie, unterschiedliche Ausmaße erreichen können [2, 3]. Wie bereits angedeutet, hängen die meisten kritischen Infrastrukturen von einer kontinuierlichen Versorgung mit Strom ab! Über Wahrscheinlichkeiten hinsichtlich Störereignissen in zukünftigen Systemen, welche in einer Welt mit sich stets verändernden Rahmenbedingungen funktionieren sollen, lässt sich diskutieren, aber nichts eindeutiges sagen. Daher stellt sich die Frage, ob klassische Ansätze der Zuverlässigkeitsforschung um neue Resilienz-Ansätze in der Planung und im Management von Versorgungsnetzen ergänzt werden sollten, indem vor allem Symptome einer Systembeeinträchtigung und Flexibilitäten in der Nachfrage stärker berücksichtigt werden. Dies kann auf abstrakter Ebene bedeuten, dass Versorgungsnetze eine verbesserte Anpassungsfähigkeit hinsichtlich Störereignissen haben, welche sich beispielsweise durch einen mehrstündigen Strommangel manifestieren: statt eines Versorgungsausfalls, könnte eine smarte und kontinuierliche Verteilung zur Verfügung stehender Ressourcen erreicht werden. Falls es derartige Konzepte nicht gibt, laufen urbane Systeme tendenziell Gefahr, häufiger als bisher unter Stromausfällen und deren negativen Implikationen für die allgemeine Versorgungssicherheit zu leiden. Aber wie könnten solche Konzepte aussehen? Urbane resiliente Stromversorgung Hinsichtlich der Stromversorgung kann die sogenannte Kritikalität, welche Risiken bezüglich der negativen Konsequenzen eines Versorgungsausfalls für eine urbanen Bevölkerung vergleichbar macht [3 - 5], als ein wichtiges Kriterium in der Planung zukünftiger Netze wie auch in einem smarten Stromversorgungsmanagement angesehen werden. Kritikalität ist ein Attribut, das theoretisch jeder Infrastruktur anhaftet - wobei wir für eine bessere Lesbarkeit unter Infrastruktur alle Einrichtungen meinen, welche direkt an einem urbanen Verteilnetz hängen - also zum Beispiel Krankenhäuser, aber auch Haushalte. Die Relevanz einer Infrastruktur im Gesamtsystem und die zeitlich variable Nachfrage nach ihren Diensten beeinflussen ihre sogenannte globale Kritikalität innerhalb eines urbanen Versorgungsgebiets. Vereinfacht kann die globale Kritikalität einer Infrastruktur als Funktion ihrer Relevanz, weiterer globaler Systemvariablen, der Nachfragesituation und dem Grad der kritischen Situation, in der sie sich befindet, verstanden werden, wobei wir letzteres lokale Kritikalität nennen. Globale und lokale Kritikalität sind als zeitlich variabel anzusehen, da diese Größen vor allem durch das Strommangelszenario und die aktuelle Nachfrage bestimmt werden. In unkritischen bzw. normalen Situationen spiegelt die globale Kritikalität die unterschiedlichen statischen Relevanzen von Infrastrukturen in einem Versorgungsgebiet wider - diese nennen wir initiale Kritikalität. Mehr Details zu den beschriebenen Kritikalitätsfacetten finden sich in [3]. Die Operationalisierung des Kritikalitätskonzepts kann bereits in der Netzentwicklungsphase erfolgen. Hierbei sind zwei topologische Freiheitsgrade bei der Gestaltung von Smart Grids von besonderem Interesse. Der eine Freiheitsgrad bezieht sich auf die Zerlegung oder Untergliederung eines Versorgungsnetzes in Microgrids, welche vom Gesamtnetz entkoppelt werden und autonom im Inselbetrieb betrieben werden können, aber auch die stromphysikalischen Verbindungen untereinander. Ein in solch Microgrids unterteiltes Smart Grid hat das Potenzial, sich durch das System ausbreitende Störeffekte, aber auch den Wirkradius von Schadsoftware, räumlich zu begrenzen, indem die betroffenen Microgrids vom Gesamtnetz getrennt werden. Allerdings können aufgrund der Abhängigkeiten kritischer Infrastrukturen untereinander durch die Isolation gestörter oder dysfunktionaler Microgrids von einem urbanen Netz, Probleme und Versorgungsengpässe in anderen Teilen der Stadt entstehen - Kaskadeneffekte. Der zweite topologische Freiheitsgrad bezieht sich auf verschiedene Konfigurationsmöglichkeiten innerhalb eines Microgrids, zum Beispiel Überlagerung von Netzwerkstrukturen oder die Implementierung von Redundanzen. Die Operationalisierung der initialen Kritikalität von Infrastrukturen in der Netzentwicklung könnte darin bestehen, Infrastrukturen mit hoher initialer 63 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Kritikalität auf verschiedene Microgrids zu verteilen, um eine Konzentration hochrelevanter Infrastrukturen mit einem relativ großen Stromverbrauch in einem Microgrid zu vermeiden oder diese durch Versorgungsredundanzen systematisch auszustatten. Dieser Operationalisierungsansatz repräsentiert eine neue Klasse von Metriken, die kombiniert mit anderen graphtheoretischen oder topologischen Kennzahlen, welche Robustheit oder Effizienz von Netzwerken beschreiben, eine integrierte Bewertung von Versorgungsnetzen hinsichtlich urbaner Resilienz erlauben. Eine ausgefeilte Topologie von intelligenten Stromnetzen erhöht die städtische Widerstandsfähigkeit! Operationalisierung im Versorgungsmanagement: Ein Smart Meter kann als eine Schnittstelle zwischen einer Infrastruktur und dem Versorgungsnetz interpretiert werden. Eine smarte und moderne Messinfrastruktur, welche einen Datenaustausch zwischen den Smart Metern und dem Energiemanagementsystem erlaubt, ermöglicht es einer Infrastruktur, ihre aktuelle lokale Kritikalität, aber auch ihre Nachfrageflexibilität in Form einer minimalen und idealen Leistungsanforderung jederzeit zu übertragen. Es gibt Infrastrukturen, welche über eine in diesem Sinne hohe Flexibilität verfügen, aber auch solche, welche keine Flexibilität zulassen, wie Einrichtungen des Gesundheitswesens, zum Beispiel Dialyseeinrichtungen. Ein Energiemanagementsystem, welches alle lokalen und initialen Kritikalitäten im Versorgungsgebiet und weitere relevante globale Systemvariablen kennt, ist in der Lage, die aktuellen globalen Kritikalitäten für jede Infrastruktur zu berechnen. Im Falle eines Strommangels, welcher zum Beispiel durch eine Dunkelflaute verursacht wird und heute zu flächendeckenden Stromausfällen führen würde, kann dieses Systemwissen über eine globale Kritikalitätsverteilung und den Nachfrageflexibilitäten für eine kontinuierliche, resiliente und faire Stromversorgung genutzt werden [3]. Allerdings ist eine solche Stromversorgung kein reines Allokationsproblem, sondern muss durch physikalisch valide Stromflüsse realisierbar sein. Die Bandbreite der Möglichkeiten eines resilienten Versorgungsmanagements, welches während oder vor erwarteten kritischen Phasen agiert, hängt stark von der Topologie der Smart Grids ab und hat einen erheblichen Einfluss auf die urbane Resilienz. Statt eines Stromausfalls können resiliente Stromflüsse realisiert werden, so dass die Schwere der Auswirkungen eines Strommangels auf die Gesamtversorgungslage in einem städtischen Gebiet minimiert wird. Fazit ... Versorgungssicherheit 2.0! Vor dem Hintergrund neuer Risiken in einem auf erneuerbaren Energien beruhenden und hoch dezentralen und digitalen Energiesystem befasst sich aktuelle Forschung mit Konzepten zum Erhalt einer hohen Versorgungssicherheit. Sich verändernde Rahmenbedingungen und der Trend zu mehr Automatisierung und Elektrifizierung geben Anlass, über Möglichkeiten eines datengetriebenen Smart Grids hinsichtlich Konzepten resilienter Stromversorgung und den möglicherweise dafür notwendigen Novellierungen regulatorischer Richtlinien nachzudenken, um zukünftig eine hohe Versorgungssicherheit zu bewerkstelligen oder zumindest eine Verschlechterung zu vermeiden. Dies erfordert keine groben Korrekturen energiewirtschaftlicher Richtlinien, aber möglicherweise, angepasst an die neuen technischen Möglichkeiten und vor dem Hintergrund neuer Versorgungsrisiken und Unsicherheiten, eine veränderte Auslegung. LITERATUR [1] BMWi/ Bundestag, Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende. [Online] Available: https: / / www. bmwi.de/ Redaktion/ DE/ Downloads/ Gesetz/ gesetzzur-digitalisierung-der-energiewende.html. [2] Ottenburger, S. S., Ufer, U.: „Quartierspeicher für mehr urbane Resilienz: Ein Blick über den Tellerrand technischer Risiken bei der Energiewende,” Transforming Cities - Städte im Krisenmodus? , Jg. 4, 2 (2019), S.-66 - 69. [3] Ottenburger, S. S., Münzberg, T. Strittmatter, M.: „Smart Grid Topologies Paving the Way for an Urban Resilient Continuity Management,” Int. J. of Inf. Syst. for Crisis Response and Manag., vol. 9, 4, (2018 ), pp. 1 - 22. [4] BBK - Susanne Lenz: Vulnerabilität Kritischer Infrastrukturen, 2009. [5] Katina, P. F., Hester, P. T.: „Systemic determination of infrastructure criticality,” IJCIS, vol. 9, 3, (2013), p. 211. Dr. Sadeeb Simon Ottenburger Senior Researcher Institut für Kern- und Energietechnik (IKET) Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Kontakt: ottenburger@kit.edu AUTOR