Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2019-0090
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2019
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Wärmenetze der 5. Generation
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2019
Peter Remmen
Tobias Blacha
Michael Mans
Marco Wirtz
Dirk Müller
Mit Wärmenetzen der 5. Generation wird die netzgebundene Bereitstellung von Wärme und Kälte in Städten neu gedacht. Im Gegensatz zu üblichen Wärmenetzen bieten Wärmenetze der 5. Generation eine flexible Plattform für den Austausch von thermischer Energie zwischen Gebäuden. Für das Konzept Wärmenetze der 5. Generation sind statische Betriebsannahmen in der Netzplanung und im -betrieb nicht mehr ausreichend. Die RWTH Aachen entwickelt neue numerische Werkzeuge zur Planungs- und Betriebsoptimierung für Wärmenetze der 5. Generation.
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80 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze In der ersten Phase der Energiewende lag der Fokus auf der Erzeugung von erneuerbarem Strom. Nun werden Sektoren wie Strom, Wärme und Kälte miteinander gekoppelt, um ein systemisches Optimum zu erlangen. Der Bilanzgrenze rückt dabei von einzelnen Gebäuden immer mehr zu Gebäudegruppen und ganzen Quartieren. Für Gebäude wird eine zunehmende Elektrifizierung der Wärmeversorgung durch Wärmepumpen angestrebt. In dicht besiedelten urbanen Regionen ist der Einsatz von elektrischen Wärmepumpen mit herkömmlichen Quellen nicht immer realisierbar. Der Einsatz von Luft-Wasser-Wärmepumpen benötigt Platz für die Außenluftwärmeübertrager, welche auch das Erschei- Wärmenetze der 5. Generation Thermische Netze als Plattform für den Energieausgleich zwischen Gebäuden Wärmenetze der 5. Generation, Planungs- und Betriebsoptimierung, Integrale Planung Peter Remmen, Tobias Blacha, Michael Mans, Marco Wirtz, Dirk Müller Mit Wärmenetzen der 5. Generation wird die netzgebundene Bereitstellung von Wärme und Kälte in Städten neu gedacht. Im Gegensatz zu üblichen Wärmenetzen bieten Wärmenetze der 5. Generation eine flexible Plattform für den Austausch von thermischer Energie zwischen Gebäuden. Für das Konzept Wärmenetze der 5. Generation sind statische Betriebsannahmen in der Netzplanung und im -betrieb nicht mehr ausreichend. Die RWTH Aachen entwickelt neue numerische Werkzeuge zur Planungs- und Betriebsoptimierung für Wärmenetze der 5. Generation. © analogicus auf Pixabay 81 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze nungsbild einer Stadt prägen. Außerdem entstehen durch den Betrieb der Außenluftwärmeübertrager ungewollte Geräuschemissionen. Der Einsatz von Wasser-Wasser-Wärmepumpen ist durch die fehlenden Möglichkeiten zur Erschließung geothermisch nutzbarer Flächen begrenzt. Ein weiterer Trend ist der steigende Kältebedarf, insbesondere im Gewerbe (Rechenzentren, Logistik, Bürogebäude), aber zunehmend auch im Wohngebäudebereich. Die Versorgung von Gebäuden mit Kälte ist energieintensiv und muss nachhaltig und effizient realisiert werden. Wärmenetze der 5. Generation können zur Bewältigung dieser Herausforderungen einen wertvollen Beitrag leisten. Sie werden auf sehr niedrigen Temperaturniveaus betrieben und gleichzeitig für die Wärme- und Kältebereitstellung eingesetzt, sodass sie insbesondere in urbanen Regionen die Energiewende unterstützen, indem sie eine effiziente Verschiebung von thermischer Energie zwischen Gebäuden ermöglichen. Das Netz fungiert als Wärmequelle für Wärmepumpen und als Wärmesenke für Kompressionskältemaschinen. Im Vergleich zu einem konventionellen Wärme- oder Kältenetz besitzen Wärmenetze der 5. Generation keinen klassischen Vor- und Rücklauf. Vielmehr wird das Netz mit einem warmen und einem kalten Leiter betrieben. Diese Systemkonfiguration ermöglicht die Nutzung aller zur Verfügung stehenden Energieströme im Quartier, was einen entscheidenden Vorteil dieser Energiesysteme darstellt. Auf diese Weise kann die Abwärme aus Kühlprozessen als Wärmquelle für an das Netz angeschlossene dezentrale Wärmepumpen dienen. Das Konzept ist schematisch in Bild 1 dargestellt. Die Betriebstemperatur von Wärmenetzen der 5. Generation liegt mit 5 - 30 °C nahe an den Umgebungstemperaturen und damit deutlich niedriger als bei konventionellen Wärmenetzen. Dies verringert die Wärmeverluste der Rohrleitungen und senkt Investitionen durch den Verzicht auf Dämmung sowie durch die Verwendung von Kunststoffrohren. Durch die geringen Betriebstemperaturen ermöglichen diese Wärmenetze die ganzjährige Nutzung erneuerbarer Wärmequellen wie Geothermie oder Abwärme. Zusätzlich benötigte Energie kann dem Netz auf unterschiedliche Weisen zugeführt werden (zum Beispiel: eigene Energiezentrale, Anbindung an Bestandsnetze) und ermöglicht so die Einbindung in bestehende Quartiere. Wärmenetze der 5. Generation unterstützen die flexible Elektrifizierung der thermischen Energieversorgung. Hierbei wird die Speicher- und Netztemperatur angehoben oder abgesenkt. Zu einem späteren Zeitpunkt kann der Einsatz von elektrischer Energie durch eine höhere Effizienz der Wärmepumpen oder Kältemaschinen verringert werden. Insbesondere die Energiezentrale leistet einen entscheidenden Beitrag, da hier Power-to- Heat-Technologien (zum Beispiel Wärmepumpen) in einem netzdienlichen Betrieb eingesetzt werden können, ohne dass hierdurch unmittelbar der thermische Komfort der einzelnen Gebäude betroffen ist. Dezentrale Speicher in Kombination mit den dezentralen Wärmepumpen in den Gebäuden können genutzt werden, um Bedarf und Angebot zeitlich voneinander zu trennen. Mit Wärmenetzen der 5. Generation wird die thermische Energieversorgung zu einem aktiven Teil des Energiesystems und kann systemdienlich betrieben werden. Wärmenetze der 5. Generation eignen sich insbesondere in urbanen, dicht besiedelten Regionen. In diesen Regionen ist der Einsatz von elektrischen Wärmepumpen mit herkömmlichen Wärmequellen nicht immer realisierbar. Gleichzeitig existiert gerade in urbanen Gebieten eine große Anzahl von Anwendungen, die ein Abwärmepotenzial auf nied- Bild 1: Schematischer Aufbau eines Wärmenetzes der 5. Generation mit zwei Gebäuden und der Energiezentrale. © Remmen et al. 82 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze rigen Temperaturniveaus aufweisen (siehe Bild 2). Beispiel hierfür ist die Kühlung von Supermärkten, Reche- oder Logistikzentren. Oft wird diese Abwärme nur im selben Gebäude oder aber gar nicht genutzt. Wärmenetze der 5. Generation sind flexibel und modular erweiterbar. Dies vermeidet nicht nur hohe Anfangsinvestitionen für große Energiezentralen, sondern unterstützt auch den langfristigen Umbau von urbanen Energiesystemen. Wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, bieten Wärmenetze der 5. Generation ein großes Potenzial für die Energiewende und die Energieversorgung der Zukunft. Dem stehen neue Herausforderungen in der Planung und dem Betrieb gegenüber. Der Betrieb der einzelnen Komponenten (Wärmepumpen, dezentrale Umwälzpumpen, Energiezentrale) muss miteinander abgestimmt werden. Hierbei müssen die komplexen hydraulischen Zustände berücksichtigt werden. Daraus folgt, dass für Wärmenetze der 5. Generation statische Betriebsannahmen in der Netzplanung und im Betrieb der Systeme ungeeignet sind. Vielmehr sind neue, dynamische Verfahren notwendig, die die hohe Systemkomplexität abbilden können. Der Lehrstuhl für Gebäude- und Raumklimatechnik der RWTH Aachen University forscht an neuen Methoden zur Planungs- und Betriebsoptimierung für Wärmenetze der 5. Generation. Dazu werden einerseits Methoden zur Auslegung entwickelt, die in einer sehr frühen Projektphase Entscheidungshilfe für oder gegen ein Wärmenetz der 5. Generation bieten können [1]. Diese Auslegungsmethoden basieren auf mathematischen Optimierungen. Anders als bei klassischen Auslegungsmethoden, wird bei mathematischen Optimierungsmodellen in der frühen Planungsphase der Betrieb des Energiesystems, insbesondere die Fahrweise jeder Anlage, zeitlich diskretisiert abgebildet (zum Beispiel: 8760 Stunden im Jahr). Innerhalb der Optimierungsrechnung werden in einem Berechnungsschritt die optimale Auswahl an Technologien, eine optimale Dimensionierung der gewählten Anlagen sowie eine optimale Betriebsweise ermittelt. Dabei werden die Anlagen so ausgewählt und dimensioniert, dass für eine gesamtheitliche Betrachtung aller Betriebspunkte minimale Gesamtkosten erzielt werden. Die Gesamtkosten umfassen neben den annualisierten Investitionen für Anlagen und Netzinfrastruktur auch Wartungs- und Instandhaltungskosten sowie Kosten für Energiebezug (zum Beispiel Strom und Gas). Darüber hinaus können auch öffentliche Förderungen für KWK- oder PV-Anlagen sowie weitere Investitionsförderungen berücksichtigt werden. Ein entscheidender Vorteil der Methodik ist, dass im Vorhinein nur einzelne Modellparameter, wie beispielsweise Strom- und Gaspreise, für den jeweiligen Anwendungsfall festgelegt werden müssen. Eine Vorauswahl der Technologien erfolgt hingegen nicht: Ob eine bestimmte Technologie, wie beispielsweise ein thermischer Speicher, im Gesamtsystem installiert werden sollte, und falls ja, welche Nennkapazität dieser haben muss, wird innerhalb der Methodik bestimmt. Außerdem entwickelt der Lehrstuhl für Gebäude- und Raumklimatechnik in internationaler Kooperation dynamische, thermo-hydraulische Simulationsmodelle als unterstützendes Werkzeug für die technische Auslegung und Betriebsoptimierung Bild 2: Quellen-, Verteilungs- und Senkentemperatur in Wärmenetzen der 5. Generation. © Remmen et al. 83 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze [2, 3, 4]. Diese dynamischen Modelle bieten im Vergleich zu mathematischen Optimierungsmodellen den Vorteil, dass weniger Vereinfachungen hinsichtlich der Physik vorgenommen und die Dynamik des Systems detailliert abgebildet werden kann. Simulationsmodelle bieten die Möglichkeit, dynamische Effekte wie die Umkehr der Strömungsrichtung (durch einen Wechsel des vorherrschenden Bedarfs), die Speicherfähigkeit des Netzes sowie die Kopplung zwischen Netz und umliegendem Boden zu berücksichtigen. Diese detaillierte Abbildung hilft in der Planung zum Beispiel die Netzhydraulik unter Schwach- und Starklastfällen zu untersuchen. Außerdem helfen Simulationswerkzeuge neue Verfahren zur integralen Betriebsoptimierung zu entwickeln und zu validieren. Um das systemweite Optimum unter Berücksichtigung aller Einflussfaktoren und unterschiedlicher Zielfunktionen - wie minimale Kosten und minimale CO 2 -Emissionen - im realen Betrieb zu ermitteln, müssen zum einen neue Verfahren zur Betriebsoptimierung entwickelt und erprobt werden [3] und zum anderen alle Mess- und Stellgrößen dieser Betriebsoptimierung zur Verfügung stehen. Dazu müssen alle Komponenten des Systems in ein integrales Quartiersautomationssystem eingebunden und mit einer Betriebsoptimierung gekoppelt werden. Für das integrale Quartiersautomationssystem spielen cloudbasierte Systeme, die eine Kommunikation mit allen beteiligten Anlagen und eine Optimierung ermöglichen, eine besondere Rolle. Hierfür werden sektorenübergreifende IKT-Plattformen entwickelt, welche über geeignete Schnittstellen Daten sammeln, verarbeiten und Stellgrößen an die Systemkomponenten zurückgeben [5]. Die neuen Methoden zur Auslegung, Simulation und Betriebsoptimierung werden kontinuierlich in öffentlichen Projekten mit Stadtwerken und Energieversorgern weiterentwickelt. Hierbei reicht die Anwendung von Konzeptstudien für neue Stadtquartiere bis hin zur Unterstützung des realen Betriebes in bereits im Betrieb befindlichen Wärmenetzen der 5. Generation. LITERATUR [1] Wirtz, M., Kivilip, L., Remmen, P., Müller, D.: Bidirectional low temperature networks in urban districts: A novel design methodology based on mathematical optimization. CISBAT 2019 - International Scientific Conference. [2] Blacha, T., Mans, M., Remmen, P., Müller, D.: Dynamic Simulation Of Bidirectional Low-Temperature Networks - A Case Study To Facilitate The Integration Of Renewable Energies. Building Simulation Conference 2019. [3] Bünning, F., Wetter, M., Fuchs, M., Müller, D.: Bidirectional low temperature district energy systems with agent-based control: Performance comparison and operation optimization. Applied Energy, 209 (2017) S. 502-515. [4] Müller, D., Lauster, M., Constantin, A., Fuchs, M., Remmen, P.: AixLib - An Open-Source Modelica Library within the IEA-EBC Annex 60 Framework. BauSIM 2016. [5] https: / / n5geh.de/ Peter Remmen, M. Sc. Teamleiter Urbane Energiesysteme RWTH Aachen University, E.ON Energieforschungszentrum, Lehrstuhl f. Gebäude- und Raumklimatechnik Kontakt: premmen@eonerc.rwth-aachen.de Tobias Blacha, M. Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter RWTH Aachen University, E.ON Energieforschungszentrum, Lehrstuhl f. Gebäude- und Raumklimatechnik Kontakt: tblacha@eonerc.rwth-aachen.de Michael Mans, M. Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter RWTH Aachen University, E.ON Energieforschungszentrum, Lehrstuhl f. Gebäude- und Raumklimatechnik Kontakt: mmans@eonerc.rwth-aachen.de Marco Wirtz, M. Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter RWTH Aachen University, E.ON Energieforschungszentrum, Lehrstuhl f. Gebäude- und Raumklimatechnik Kontakt: marco.wirtz@eonerc.rwth-aachen.de Prof. Dr.-Ing. Dirk Müller Institutsleiter RWTH Aachen University, E.ON Energieforschungszentrum, Lehrstuhl f. Gebäude- und Raumklimatechnik Kontakt: dmueller@eonerc.rwth-aachen.de AUTOREN