Transforming cities
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2366-7281
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2020-0010
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Das Schafsdach von München
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Gunter Mann
Täglich wird in Deutschland eine Fläche von etwa 60 Hektar Natur versiegelt. Die Hälfte dieser Flächen verschwindet langfristig aus dem natürlichen Wasserkreislauf. Neben dem Flächenverbrauch zwingen uns Klimawandel, Bevölkerungs- und Städtewachstum zum Umdenken und Handeln. Die „Stadtalm“ auf dem Dach des Werk3 im Werksviertel Mitte in München ist nicht nur ein außergewöhnliches Projekt innerhalb des sich neu entwickelnden Industrieareals. Das Urban Farming-Dach lehrt auch eindrucksvoll das Thema „Nachhaltiges Bauen“ und zeigt, dass „Green Building“ etwas mit Natur zu tun hat.
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24 1 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Rückblick Vor 70 Jahren eröffnete der Lebensmittelhersteller Pfanni seine erste Produktionsstätte am Münchner Ostbahnhof. Hier wurden bis 1996 die bekannten Kartoffel-Fertigprodukte hergestellt. Im „Werk 3“ waren Produktion und Verpackung untergebracht und in der Hochphase arbeiteten etwa 1 200 Beschäftigte im Münchner Pfanni-Werk. Die Firma gibt es immer noch, jedoch gehört Pfanni seit den Neunzigerjahren zum Unternehmen Unilever und produziert seine Produkte in Mecklenburg. Das damalige Gelände gehört heute dem Pfanni-Erben Werner Eckart und weiteren Besitzern. Es hat sich weiterentwickelt von Industrieareal über Kunstpark bis hin zum heutigen „Werksviertel“. Plan ist, dass in etwa 10 bis 15 Jahren alles fertig sein soll und das Areal dann 1 500 Wohnungen, eine Schule, zwei Kinder- Das Schafsdach von München Vielfacher Nutzen auf einem Dach vereint Urbanisierung, Dachbegrünung, Urban Farming, Biodiversität, Stadtklima Gunter Mann Täglich wird in Deutschland eine Fläche von etwa 60 Hektar Natur versiegelt. Die Hälfte dieser Flächen verschwindet langfristig aus dem natürlichen Wasserkreislauf. Neben dem Flächenverbrauch zwingen uns Klimawandel, Bevölkerungs- und Städtewachstum zum Umdenken und Handeln. Die „Stadtalm“ auf dem Dach des Werk3 im Werksviertel Mitte in München ist nicht nur ein außergewöhnliches Projekt innerhalb des sich neu entwickelnden Industrieareals. Das Urban Farming-Dach lehrt auch eindrucksvoll das Thema „Nachhaltiges Bauen“ und zeigt, dass „Green Building“ etwas mit Natur zu tun hat. Bild 1: Nikolas Fricke, Beauftragter für Nachhaltigkeit und Forschung, kümmert sich um die Schafe und viele andere Dinge. © BuGG 25 1 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum tagesstätten, Büros mit 7 000 Arbeitsplätzen, fünf Hotels und 30 000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche umfasst. „Werk 3“ wird zum Urban- Farming-Dach Mitten im Werksviertel unmittelbar am Münchner Ostbahnhof steht das „Werk 3“ und damit das heutige neue „Kreativquartier“ mit 22 000 Quadratmetern Fläche auf sechs Etagen: für Büros, Handel, Kunst und Entertainment. Dabei werden alt und neu, ehemaliges Industriegelände und -gebäude und deren großzügige Loftflächen mit moderner Architektur und Design einzigartig miteinander verbunden. Schon von Beginn an spielten bei der Entwicklung des Werksviertels nachhaltige Konzepte und ökologische Grundsätze eine wichtige Rolle. Unter anderem wurde aufgrund der Ökobilanz ein Großteil der alten Werke auf dem Pfanni- Gelände erhalten und kernsaniert und nicht abgerissen und neuaufgebaut. Beim Dach Werk 3 stand eine Photovoltaikanlage zur Energiegewinnung oder eine Dachbegrünung zur Diskussion. Letztendlich hat man sich entschieden, das Dach zu begrünen, nicht nur um ein eigenes Ökosystem zu etablieren, sondern damit auch ein modellhaftes Beispiel mit Lehrcharakter zu schaffen. Die Bauherren wollten durch Dachbegrünung wieder für mehr Natur in der Stadt sorgen, mit der konzipierten „Stadtalm“ Zeichen setzen und andere Städte zur Nachahmung anregen. So entstand im Jahr 2017 mit der Dachgartenalm das besondere Highlight und die Attraktion des Werk 3 mitten in der Stadt in 26 Metern Höhe. Auf etwa 2 500 Quadratmetern Dachfläche wurde ein bisher einzigartiges Urban-Farming-Dach mit Hochbeeten, Kräuterwiese, Obstbäumen, Insektenhotel, Bienenstock, Hasen, Hühnern und einer kleinen Schafherde geschaffen. Zum Start im Oktober 2017 wurden sieben Skudden-Schafe mit dem Lastenaufzug hinauf zum Dachgarten gebracht. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass eine andere Rasse, nämlich Walliser Schwarznasenschafe, für einen dauerhaften Aufenthalt auf der Dachgartenalm besser geeignet sind. Ursprünglich wurde diese Rasse mit etwa 70 bis 80 Zentimeter großen und 70 bis 100 Kilogramm schweren Schafen für die Berge im Oberwallis in der Südschweiz gezüchtet. Sie sind angepasst an das karge Leben in den Bergen, sind genügsam, lebhaft und zutraulich. Dass es der kleinen Herde, die zwischenzeitlich aus elf Tieren bestand, auf dem Dach gefällt, zeigt auch die Geburt von Drillingen im Februar letzten Jahres. Die Schafe sind Teil des neu entstandenen Dach-Ökosystems und wurden auch angeschafft, um die Wildkräuterwiesen zu „mähen“. Betreut werden die Schafe von Nikolas Fricke, dem Beauftragten für Nachhaltigkeit und Forschung im Werksviertel-Mitte. Er ist täglich vor Ort und kümmert sich mit viel Erfahrung und Herzblut um die Tiere. Die Schafwolle wird im Areal, unter anderem im Rahmen der Workshops der Almschule, verarbeitet. Dabei lassen sich alte Handwerkstechniken wie Filzen und Spinnen erleben. „Almschule“ - Urban-Farming-Konzept Für die „Stadtalm“ steht der gesamte Grünkomplex auf dem Dach des Werk 3 zur Verfügung, sie ist Teil der „Almschule“. Mit der Almschule als gemeinsamem Projekt der BayWa Stiftung und der Stiftung Otto Eckart sollen Kindern und Jugendlichen in Workshops die Themen Nachhaltigkeit, Umweltschutz, gesunde Ernährung und Naturwertschätzung nahe gebracht werden. Dabei wird viel Wert auf „Mitmachen“ und „Erleben“ gelegt, so dass die Kinder unter anderem Tiere beobachten, Obst und Gemüse anpflanzen und Wolle spinnen können. Das Programm der Almschule ergänzt den Lernstoff des bayerischen Lehrplans. Vegetations- und Verkehrsflächen Für die Planung des Urban- Farming-Daches wurde das Landschaftsarchitektenbüro Jühling & Bild 2: Die Dauerbewohner auf dem Dach: eine kleine Herde Walliser Schwarznasenschafe. © BuGG Bild 3: Muttertier mit Nachwuchs im Schatten der Technischen Einrichtungen. © BuGG 26 1 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Partner aus München beauftragt. Die Hauptrollen spielten dabei die Landschaftsarchitektin Stefanie Jühling und der Landschaftsarchitekt Christopher Hanuss. Ihnen oblag die Planung der Dachlandschaft in ihrer Vielseitigkeit. Bauherrenwünsche mussten mit den örtlichen Gegenheiten in Einklang gebracht werden, mit dem Ziel, die Dachgartenalm dauerhaft und nachhaltig zu etablieren. Das komplette Dach auf Werk 3 umfasst knapp 3000 Quadratmeter, der Urban-Farming-Dachgarten hat etwa 2 500 Quadratmeter. Die restliche Dachfläche ist Terrasse mit kleinem Pool des „München Hoch 5“ - einer Location für Events. Die Statik des Daches ist auf 5 KN/ m² ausgelegt, dabei sind neben Gründachaufbau und Schneelast auch zusätzliche Lasten durch Personen, Tiere und Punktlasten (Bäume, Holzhütte) berücksichtigt. Die Dachfläche wurde mit zwei Trichtergefällen ausgebildet, die jeweils ein Gefälle von zwei Prozent haben und in insgesamt 14- Dachabläufe münden. Das Überschusswasser wird in ein Rigolenversickerungssystem unter der Tiefgarage des angrenzenden Knödelplatzes geleitet. Der Abflussbeiwert des Gründachaufbaus beträgt nach den FLL-Dachbegrünungsrichtlinien Cs- =- 0,2, die Wasserrückhaltung liegt je nach Aufbauhöhe bei bis zu 150 Liter pro Quadratmeter. Auf dem Warmdach mit zweilagiger, nach FLL wurzelfester Bitumendachabdichtung folgt bei der „Schafweide“ nachfolgender Gründachaufbau (von unten nach oben): Bautenschutzmatte 6 cm Festkörperdränage FKD 60, verfüllt mit Blähschiefer 2/ 10 Filtervlies 105 20 - 29 cm Intensivsubstrat Saatgutmischung „Damwild/ Schafweide“ Der Gründachaufbau bei der „Kräuterwiese“ sieht ähnlich aus (von unten nach oben): Bautenschutzmatte 6 cm Festkörperdränage FKD 60, verfüllt mit Blähschiefer 2/ 10 Filtervlies 105 20 cm Intensivsubstrat Regiosaatgut, Sondermischung „Blumenwiese“ Unter den Wegflächen wurde folgender Aufbau gewählt (von unten nach oben): PE-Folie 0,2 als Gleitlage 1 cm Festkörperdränage FKD 12 Filtervlies 300 16-31 cm Tragschicht Optipor 10/ 50 Splitt-Bettung und Naturstein (Sellenberger Muschelkalk) bei den Plattenwegen bzw. 8 cm Kies 0/ 22 bei den Kieswegen Bild 5: „Streuobstwiese“ auf dem Dach © BuGG Bild 4: Der Urban Gardening- Bereich mit Hochbeeten. © BuGG 27 1 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Pflanzenzusammensetzung Auf dem größten Teil der Dachfläche wurde die Rasensaatmischung BSV „Damwild/ Schafweide“ der Bayerischen Futtersaatbau ausgesät. Der überwiegende Anteil (über 60- %) der Saatgutmischung besteht aus verschiedenen Gräserarten (Deutsches Weidelgras, Rotschwingel rubra, Welsches Weidelgras, Wiesenlieschgras, Wiesenrispe, Wiesenschwingel), ergänzt durch Leguminosen (Esparsette, Hornklee, Rotklee, Weißklee) und Kräutern (Chicorée, Fenchel, Kleiner Wiesenknopf, Ringelblume, Spitzwegerich, Wiesenkümmel, Wilde Möhre). Dazu kam in Teilbereichen eine artenreiche Wildblumenwiese aus dem Regiosaatgut „Sondermischung Blumenwiese“ der Firma Rieger Hofmann und ergänzt wurde die Weidevegetation mit verschiedenen Gehölzen wie Felsenbirne, Kiefern und Obstbäumen (Apfel, Birne, Kirsche, Zwetschge). Selbst die Technikaufbauten wurden teilweise noch mit Kletterhortensien begrünt. Bewässerungsstrategie Da das Dach ein Gefälle hat und die Wiesengräser und -kräuter unzureichend über eine Anstaubewässerung mit Wasser zu versorgen gewesen wären, wurde auf ein Bewässerungsvlies gesetzt. Das Tröpfenbewässerungsvlies wurde dabei im Intensivsubstrat in etwa zehn Zentimeter Substrattiefe verlegt. Somit kann das Substrat bei Bedarf feucht und Wasser für die Pflanzenwurzeln verfügbar gehalten werden. Erhöhungen der Biodiversität Mitten auf dem Wiesendach wurde eine Kiesrinne in ein Sumpfbeet umgewandelt, mit Lehmsubstrat und geeigneten Pflanzen, wie Schwertlilien und Bach-Ehrenpreis, ausgestattet. Damit wurde die Struktur- und damit die Artenvielfalt auf dem Gründach noch weiter erhöht. Blitzschutz Erwähnenswert auch die Umsetzung des Blitzschutzes. Der Blitzfang erfolgt mittels Stangen, die Verzweigung des Blitzschutz- V4A-Runddrahts der Stärke 8 mm ist auf dem Filtervlies, also unter dem Substrat verlegt. Die Erdung erfolgt an der Attika. Fazit Die „Dachgartenalm“ als Urban- Farming-Dach auf dem ehemaligen Pfanni-Werksgebäude im Osten Münchens zeigt eindrucksvoll und vorbildlich, was auf einem Dach alles möglich ist. Entscheidend dabei waren die Bauherren, die mit klaren Vorstellungen und Vorgaben ihrem gesellschaftlichen Engagement und ihrer Verantwortung gerecht wurden. Sie wollten und wollen Zeichen setzen für den zukünftigen Städtebau, für Nachhaltigkeit und für Natur in der Stadt. Erfahrene Landschaftsarchitekten haben diesen roten Faden aufgenommen und im Zusammenspiel mit Systemanbietern und Ausführungsbetrieben für eine vorausschauende Planung und fachgerechte Umsetzung gesorgt. Weitere Informationen: www.werksviertel-mitte.de www.almschule.de Dr. Gunter Mann Präsident Bundesverband GebäudeGrün e. V. (BuGG) Kontakt: gunter.mann@bugg.de AUTOR Bild 6: Birnbaum auf dem Dach, im Hintergrund wird gebaut. Dachbegrünung als Ausgleichsfläche. © BuGG OBJEKTSTECKBRIEF Dachgarten Werk 3, Werksviertel Mitte, Altes Pfanni- Gelände, München Baujahr: 2016 Bauherr: OTEC GmbH & Co. KG, München, www.werksviertel-mitte.de Architekt: Steidle Architekten, München, www.steidle-architekten.de Landschaftsarchitekt: Jühling & Partner Landschaftsarchitekten, München, www.juehling.net Größe Dachgarten: 2 500 m² Gründachaufbau: Optigrün- Systemlösungen „Gartendach“ und „Verkehrsdach“ Besonderheiten: Urban-Farming-Dach („Almschule“), unter anderem mit Schafen, www.almschule.de Ausführung Begrünung: Josef Saule GmbH, Augsburg, www. saule-augsburg.de Dachabdichtung: Bitumenbahn, 2-lagig, wurzelfest nach FLL
