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10.24053/TC-2020-0032
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Dezentrale Energieversorgung - wie die Umstellung gelingt

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Jürgen Germies
Angefangen vom Ausbau der regenerativen Energiequellen über die Entwicklung innovativer Speichertechnologien bis hin zur Schaffung eines Smart Grid – die Stadt Emden in Niedersachsen macht eindrucksvoll vor, womit derzeit noch viele Kommunen in Deutschland zu kämpfen haben: ein intelligentes Energiesystem auf Basis 100 Prozent Erneuerbarer zu entwickeln. Was die größte Stadt Ostfrieslands anders macht und warum ihr die Energiewende bislang so gut gelingt: eine Analyse.
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26 2 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Keine Frage - die Ökostromproduktion hat in Deutschland endlich an Fahrt aufgenommen. Allein innerhalb der ersten drei Monate dieses Jahres haben erneuerbare Energien mit insgesamt 77 Milliarden Kilowattstunden rund die Hälfte des erzeugten Stroms ausgemacht. Und: Aufgrund des Einspeisevorrangs kommen die regenerativen Energien damit erstmals auf einen Anteil von satten 52 Prozent am Bruttoinlandsstromverbrauch. Dies geht aus den aktuellen Berechnungen des Zentrums für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) sowie des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) hervor. Zum Vergleich: Im Vorjahreszeitraum lag der Wert der Erneuerbaren noch unter 45 Prozent. Verantwortlich für den starken Jahresauftakt waren vor allem die günstigen klimatischen Bedingungen - sprich: viel Wind und viel Sonne. Mit fast 43 Milliarden Kilowattstunden haben Dezentrale Energieversorgung - wie die Umstellung gelingt Von Jürgen Germies Angefangen vom Ausbau der regenerativen Energiequellen über die Entwicklung innovativer Speichertechnologien bis hin zur Schaffung eines Smart Grid - die Stadt Emden in Niedersachsen macht eindrucksvoll vor, womit derzeit noch viele Kommunen in Deutschland zu kämpfen haben: ein intelligentes Energiesystem auf Basis 100 Prozent Erneuerbarer zu entwickeln. Was die größte Stadt Ostfrieslands anders macht und warum ihr die Energiewende bislang so gut gelingt: eine Analyse. © Peter Wiegel auf Pixabay 27 2 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie die hiesigen Windräder dabei den größten Teil zur Grünstrom-Produktion beigetragen. Trotzdem: Der Erhebung zufolge ist das erste Quartal noch lange kein Garant für einen dauerhaft hohen Ökostromanteil - im Gegenteil. Mit ganzen 81 Milliarden Kilowattstunden erzeugen konventionelle Energieträger wie Braun- und Steinkohle noch immer rund die Hälfte der gesamten Strommenge hierzulande. Das Verhältnis macht deutlich: Will die Bundesregierung ihre Klimaschutz-Ziele bis 2030 tatsächlich erreichen, muss sie den Ausbau der regenerativen Energiequellen dringend weiter vorantreiben. Schließlich sollen die Erneuerbaren laut Klimaschutzprogramm bereits innerhalb der kommenden zehn Jahre knapp zwei Drittel des Bruttostromverbrauchs decken. Ausbau der Erneuerbaren von Land zu Land unterschiedlich Ob die Zielmarke bis dahin in allen Bundesländern erreicht werden kann, ist zum jetzigen Zeitpunkt jedoch fraglich. Noch immer hinken einige Länder beim Ausbau der erneuerbaren Energieerzeugung deutlich hinterher. Während etwa Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg bundesweit am meisten bestrebt sind, regenerative Energien nutzbar zu machen, liegen selbst sie stark unter ihren Möglichkeiten. Zu diesem Ergebnis kommt der aktuelle Bundesländervergleich des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) und des ZSW. Im Vergleich zu den beiden Spitzenreitern sind die Schlusslichter Saarland und Berlin noch weit davon entfernt, überhaupt an den Erfolg der Energie- und Klimaschutzkonzepte Baden- Württembergs oder Schleswig- Holsteins anzuknüpfen. Es wird also klar: Obwohl die Energiewende hierzulande inzwischen ins Rollen kommt, bleibt es noch ein weiter Weg, bis Windenergie, Photovoltaik, Geothermie und Wasserkraft die Energieproduktion im ganzen Land dominieren. Doch wie kann die vollständige Umstellung auf eine klimaneutrale und dezentrale Energieversorgung gelingen? Das Mieterstrommodell ist gescheitert Die Antwort auf diese Frage ist vielschichtig und bedarf einer genauen Analyse der bisherigen Problempunkte. Denn: Mit dem Ausbau der Erneuerbaren allein ist es noch längst nicht getan. Vielmehr gilt es, die grünen Strom- und Wärmequellen endlich vor Ort nutzbar zu machen. Nur dann lässt sich eine Energiewende mit nachhaltigem Nutzen erzielen. Je nach Größe der Städte zeigen sich dabei unterschiedliche Herausforderungen. Während etwa die kleineren und mittleren Städte noch eher die Möglichkeit haben, für ihre grüne Strom- und Wärmeerzeugung auf das Umland zuzugreifen, haben die Metropolen mit größeren Hürden zu kämpfen. Sie müssen für die dezentrale Energieversorgung auf die bestehenden Flächen zugreifen - und beispielsweise die Dächer zur Stromproduktion nutzen. Konkret ist die Rede vom sogenannten Mieterstrommodell. Was vor gut zwei Jahren dank eines vielversprechenden Gesetzes möglich wurde, kann inzwischen mit Fug und Recht als Flop bezeichnet werden. Laut Bundeswirtschaftsministerium waren bis Juli vergangenen Jahres deutschlandweit lediglich 677- Photovoltaik-Anlagen erfasst, über die Mieterstrom generiert wurde - ein Minimum des möglichen Potenzials. Woran das liegt? Der bürokratische Aufwand steht für die Vermieter bislang in keinem Verhältnis zum Ertrag. Ein Beispiel: Im Sommer 2019 hat das Immobilienunternehmen Vonovia das sogenannte 1 000-Dächer-Programm ins Leben gerufen. Ziel ist, in den kommenden Jahren deutschlandweit 1 000 Dachflächen mit Photovoltaik-Modulen auszustatten. Gestartet ist das Projekt bislang in Dresden und München - dafür arbeitet das größte deutsche Wohnungsunternehmen mit regionalen Anbietern zusammen, wie beispielsweise Solarwatt in Dresden. Der Solarstrom wird zunächst größtenteils ins öffentliche Netz eingespeist; langfristig will Vonovia die Wohnquartiere jedoch mit dezentraler Energie versorgen. Bislang ist dies dem Konzern jedoch noch nicht möglich: Laut Vorstandsvorsitzendem Rolf Buch verhindern die zahlreichen Hemmnisse für Mieterstrommodelle bislang noch die lokale Energieversorgung. Der Fall zeigt: Nicht der Mangel an Ideen für die dezentrale Energieversorgung ist das Problem, sondern die Bürokratie, die die flächendeckende Verbreitung ausbremst. Soll der Grünstrom also auch in den Großstädten lokal nutzbar werden, müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen dringend gelockert und Mieter ausreichend über ihre Möglichkeiten informiert werden. Emden: 100 Prozent Windstrom Ein Muster-Beispiel dafür, wie die vollständige Ausrichtung auf eine dezentrale Energieversorgung hingegen gelingen kann, liefert die Stadt Emden. Mit rund 50 000 Einwohnern hat sich die Kommune im Nordwesten Niedersachsens schon seit vielen Jahren dem Ausbau der erneuerbaren 28 2 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Energien verschrieben - und im Sommer 2016 das Projekt „Intelligente Energiestadt Emden“ ins Leben gerufen. Das Ziel ist klar definiert: die Schaffung eines intelligenten und zunehmend flexiblen Energiesystems auf Basis ausschließlich regenerativer Energien. Bereits zu Beginn des Projekts befand sich Emden hinsichtlich der grünen Energieproduktion in einer komfortablen Ausgangssituation: Der Windpark am Larrelter Polder zählt mit inzwischen zwölf Windenergieanlagen zu einer der größten Windfarmen Europas; im Schnitt werden hier jährlich rund 70 000 MW Strom erzeugt. Damit deckt der Park etwa 80 Prozent des Energieverbrauchs aller Emder Haushalte ab. Daneben ist die Mittelstadt auch hinsichtlich weiterer regenerativer Energiequellen breit aufgestellt: Solar- und Photovoltaikanlagen auf privaten und städtischen Gebäuden sowie ein Biomasseheizkraftwerk ergänzen inzwischen den grünen Strom-Mix. Insgesamt erzeugt Emden aktuell sogar mehr Strom als dort verbraucht wird. Abbau von Regularien zwingend notwendig Anstatt die überschüssige Energie jedoch wie gewohnt an der Leipziger Strombörse zu verkaufen, wollen die Emder Stadtwerke langfristig einen anderen Weg einschlagen: Sie planen, den Grünstrom den lokalen Privatabnehmern und Unternehmen direkt zur Verfügung zur stellen. Auf diese Weise könnten sie der Industrie vor Ort einen echten Standortvorteil bieten: CO 2 -neutrale Produktionsbedingungen. Um das Vorhaben in die Realität umzusetzen, müssen jedoch einige regulatorische Hürden überwunden werden. Laut dem im Jahr 2000 in Kraft getretenen Erneuerbare - Energien - Geset z sind Stromnetzbetreiber dazu verpflichtet, regenerativ erzeugte Energien vorrangig ans Netz anzuschließen und den Grünstrom weiterzuleiten. Umgekehrt sind auch die Betreiber der Erneuerbare-Energie-Anlagen, die mehr als 100 kW grünen Strom erzeugen, dazu gezwungen, den Strom auf diese Weise direkt zu vermarkten. Dafür erhalten sie wiederum eine Einspeisevergütung und Marktprämie. Was das im Umkehrschluss bedeutet? Selbst wenn Emden in Zukunft dazu übergehen will, den Strom aus den regenerativen Energiequellen direkt an die lokale Industrie weiterzuleiten, müssen - um dies wirtschaftlich zu gestalten - dafür zunächst die entsprechenden Regularien angepasst und weitere notwendige Voraussetzungen geschaffen werden. Dezentral erzeugten Strom speichern Dazu zählt an zweiter Stelle die Fähigkeit, den Grünstrom auch vor Ort speichern zu können. Auch ein dezentral organisiertes Energienetz muss jederzeit dazu in der Lage sein, genau so viel Strom zur Verfügung zu stellen, wie auch verbraucht wird. Insbesondere bei Windflauten gilt es also, auf grüne Stromreserven in Form von Speicheranlagen zuzugreifen. Um dies zu gewährleisten, tüftelten die lokalen Stadtwerke gemeinsam mit der Hochschule Emden/ Leer unter anderem bereits intensiv an einer Power-to-Gas- Anlage. Die Forschung wurde im Rahmen eines EU-Pilotprojekts gefördert. Eine Strom-to-Gas-Anlage erzeugt aus überschüssigem Windstrom Wasserstoff. Dieser konvertiert in Kombination mit grünem CO 2 zu synthetischem Erdgas, das wiederum im nor- © Science in HD on Unsplash © Science in HD on Unsplash 29 2 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Jürgen Germies Geschäftsbereich Smart-City Partner bei der Starnberger Unternehmensberatung Haselhorst Associates Kontakt: j.germies@haselhorst-associates.com AUTOR malen Erdgasnetz gespeichert wird. Je nach Bedarf kann es zum Heizen genutzt oder im Gaskraftwerk rückverstromt werden. Zudem arbeitet die Kommune mit der Siemens AG an der Konzeption weiterer geeigneter Speichertechnologien. Smart Grids sind die Zukunft Daneben setzen die Emder Stadtwerke alles daran, die Stromverteilung flexibler zu gestalten und zu steuern. Die Rede ist vom Aufbau eines Smart Grid, eines intelligenten Stromnetzes. Als zentrale Bestandteile der Energiewende sind Smart Grids zwingend notwendig, um den unsteten Zufluss regenerativer Energien aufgrund wechselnder Witterungsbedingungen auszugleichen. Damit die passgenaue Verteilung des Grünstroms gelingt, bedarf es einer Vielzahl an Daten, die in Echtzeit vorliegen: über die Erzeugung und den Verbrauch von Energien bis zu Daten über die Netze. Zur Gewinnung dieser Informationen muss wiederum eine intelligente Messtechnik in die Stromzähler eingebaut werden. Diese fungiert als Schnittstelle zum intelligenten Stromnetz und zeigt den Verbrauchern jederzeit die aktuellen Nutzungswerte an. Bis 2032 sieht die Bundesregierung einen flächendeckenden Einsatz der intelligenten Messgeräte in allen deutschen Haushalten und Gewerbebetrieben vor. In Emden statten die Stadtwerke bereits alle Kunden mit einem jährlichen Stromverbrauch von über 6 000 kWh mit der smarten Messtechnik aus. Zudem bauen die Stadtwerke Emden aktuell ein flächendeckendes LoRaWAN-Netz auf, das es ihnen möglich macht, noch deutlich mehr Sensorik insbesondere auch im Stromnetz zu erfassen und zu steuern. Der Vorteil dabei: Das LoRaWAN-Netz verfügt über eine hohe Reichweite, nutzt geringe Bandbreiten und ist vergleichsweise günstig. Ressourcenschonung dank Smart City Bereits 2017 hat Emden gemeinsam mit der Siemens AG und den Stadtwerken ein „Memorandum of Understanding“ unterzeichnet. Mit dem Digital-Vertrag stellt die Stadt die Weichen für eine digitale Zukunft: Mit Hilfe innovativer Netztechnologien und Netzbetriebskonzepte zur Schaffung klimaneutraler Produktionsbedingungen soll die „Smart-City- Vision“ der Kommune mit Leben gefüllt werden. Das Konzept sieht langfristig vor, zusätzlich zur intelligenten Energieversorgung auch die anderen Bereiche des städtischen Lebens effizienter und klimafreundlicher zu gestalten. Also etwa die Gebäudetechnik, den Verkehr und das Parksystem. Die Grundlage dafür bildet eine Internet-of-Things-Plattform, auf der sämtliche digitale Projekte und Daten der Stadt gebündelt zur Verfügung gestellt werden. Ein Beispiel: die Pläne des ansässigen VW-Werkes. In Zukunft will der Autobauer in Emden nur noch Elektroautos produzieren. Für die CO 2 -neutrale Produktion gilt es entsprechend, ausreichend Grünstrom zur Verfügung zu stellen. Und: Sollten auch die VW-Mitarbeiter langfristig nur noch mit E-Autos zur Arbeit fahren, muss das lokale Stromnetz die Spitzen abfangen. Unter den Top 20 der Smart- Cities Angesichts dieser Herausforderungen profitiert die Stadt aktuell enorm vom frühzeitigen Start der Smart-City-Roadmap. Kein Wunder also, dass es Emden auch im deutschlandweiten Vergleich mit ihrer Digitalisierungsstrategie auf einen der vordersten Plätze schafft: Laut einer Studie der Unternehmensberatung Haselhorst Associates zählt die Kommune beim Smart-City-Ranking zu den Top 20 (Stand 2019). Umgekehrt weist noch nicht einmal ein Viertel der 400 größten Städte hierzulande einen Digitalisierungsgrad von zwölf Prozent auf. Auf dem Erfolg ruht sich die ostfriesische Kommune jedoch keineswegs aus - im Gegenteil: Emden hat unlängst damit angefangen, ihre Digitalisierungsstrategie zu überarbeiten und auszubauen. Bereits im Sommer dieses Jahres soll die Digitalisierungs- Roadmap 2.0 fertig sein und in die konkrete Umsetzung gehen. Das Beispiel Emden macht deutlich: Ein digitales und fortschrittliches Stadtleben ist keine Frage der Einwohnerzahl. Vielmehr kommt es darauf an, alle beteiligten Akteure der Kommunen mit ins Boot zu holen und gemeinsam ein ganzheitliches Konzept für die Zukunft der Städte auszuarbeiten: von der Politik, der Industrie und den Versorgungswerken bis hin zu den Bewohnern. Gelingt dies, wird nicht nur die dezentrale Energieversorgung möglich; die Umstellung hat dann vor allem einen wirklich nachhaltigen Effekt auf die Umwelt. Emden macht es vor - andere sollten es nachmachen.