eJournals Transforming cities 5/3

Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2020-0047
94
2020
53

Online nach Mannheim

94
2020
Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt in Städten, wo 75 % der globalen CO2 -Emissionen entstehen. Aus diesem Grund müssen lokale und regionale Entscheidungsträger ihre Schlüsselrolle für die Erreichung globaler Ziele wahrnehmen, während sie gleichzeitig ihren Bürgern ein Zuhause bieten. Doch die Verantwortung für kollektive Gesundheit und das Wohlbefinden liegt nicht nur auf lokaler Ebene, sondern bei Entscheidungsträgern auf allen Regierungsebenen, der Wirtschaft, der Forschung und nicht zuletzt bei den Bürgern. Systeme, Wertschöpfungsketten, Gewohnheiten, Prozesse und die Menschen selbst müssen sich verändern. Seit 25 Jahren fordert und fördert die Konferenzreihe der „Europäischen Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden“ eine Beschleunigung des Handelns und des Wandels von unten nach oben, um letztlich die Ambition globaler Abkommen für Nachhaltigkeit und Klimawandel über den Status quo hinaus voranzutreiben und zu beschleunigen. Die diesjährige Konferenz in Mannheim betrachtet den EU Green Deal aus einer lokalen Perspektive, auch im Zusammenhang mit anderen Prozessen für integrierte Stadtplanung und -entwicklung wie der Leipzig Charta.
tc530004
4 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Online nach Mannheim 9. Europäische Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt in Städten, wo 75 % der globalen CO 2 -Emissionen entstehen. Aus diesem Grund müssen lokale und regionale Entscheidungsträger ihre Schlüsselrolle für die Erreichung globaler Ziele wahrnehmen, während sie gleichzeitig ihren Bürgern ein Zuhause bieten. Doch die Verantwortung für kollektive Gesundheit und das Wohlbefinden liegt nicht nur auf lokaler Ebene, sondern bei Entscheidungsträgern auf allen Regierungsebenen, der Wirtschaft, der Forschung und nicht zuletzt bei den Bürgern. Systeme, Wertschöpfungsketten, Gewohnheiten, Prozesse und die Menschen selbst müssen sich verändern. Seit 25 Jahren fordert und fördert die Konferenzreihe der „Europäischen Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden“ eine Beschleunigung des Handelns und des Wandels von unten nach oben, um letztlich die Ambition globaler Abkommen für Nachhaltigkeit und Klimawandel über den Status quo hinaus voranzutreiben und zu beschleunigen. Die diesjährige Konferenz in Mannheim betrachtet den EU Green Deal aus einer lokalen Perspektive, auch im Zusammenhang mit anderen Prozessen für integrierte Stadtplanung und -entwicklung wie der Leipzig Charta. Wolfgang Teubner ist der Regionaldirektor und Geschäftsführer des ICLEI Europasekretariats. Mit mehr als 25 Jahren beruflicher Erfahrung arbeitet er mit Kommunalverwaltungen in den Bereichen nachhaltige Stadtentwicklung, Anpassung an den Klimawandel und dessen Abmilderung, sowie Abfallwirtschaft und nachhaltige städtische Verkehrspolitik zusammen. Seit 1994 ist er an der Europäischen Plattform für nachhaltige Städte und Gemeinden (European Sustainable Cities and Towns Platform) beteiligt, in deren Rahmen er an der Ausarbeitung der Aalborg Charter und der Basque Declaration von 2016 mitgewirkt hat. Er war an mehr als 150 europäischen und internationalen Projekten beteiligt, darunter auch an mehreren Forschungsaktivitäten. WOLFGANG TEUBNER Herr Teubner, was steht im Fokus der 9. Europäischen Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden? Im Programm der Konferenz geht es vor allem um Fragen des gesellschaftlichen Wandels hin zur Klimaneutralität und Ressourcenschonung, so dass die Entwicklung mittelfristig wieder im Einklang mit den Grenzen unseres Planeten stattfinden kann. Dies betrifft sowohl den Umbau der Infrastruktur, als auch eine Veränderung der sozialen und ökonomischen Systeme inklusive des täglichen Handelns. Dabei soll insbesondere das Spannungsfeld zwischen begrenzten globalen Ressourcen und dem vorherrschenden Paradigma eines unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums diskutiert werden, sowie die Frage, wie diese Ressourcen verteilt werden. In diesem Sinne möchte die Konferenz auch lokale und regionale Antworten auf den sich in der Diskussion befindenden europäischen „Green Deal“ formulieren. Städte haben großes Potenzial für den Wandel Europas. Welches sind die größten Herausforderungen? Zum einen ist das sicherlich der Umbau wesentlicher Infrastrukturen, wie zum Beispiel in der Energieversorgung, im Verkehr und der Mobilität, der Gebäude, aber auch der sogenannten grünen und blauen Infrastruktur. Die Tatsache, dass wir es in den meisten europäischen Städten mit einem hohen Anteil älterer, teilweise historischer Infrastruktur zu tun haben, erschwert diesen Umbau, im Vergleich zum Neubau eines klimaneutralen und verkehrsarmen grünen Stadtteils. Infrastrukturen sind auch Ausdruck von Lebens- und Verhaltenskulturen, die sich parallel verändern müssen. Hierbei die wesentlichen Interessenvertreter und die breite Bevölkerung mitzunehmen und gestalterisch einzubinden, Wolfgang Teubner, Regionaldirektor und Geschäftsführer des ICLEI Europasekretariats. © ICLEI 5 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Blick auf das Stadtfest am Mannheimer Wasserturm. © Gundolf Frost - Best Blue Mode GmbH Dr. Peter Kurz ist seit dem Jahr 2007 Oberbürgermeister der Stadt Mannheim. Er hat zahlreiche Funktionen in städtischen Niederlassungen und verschiedene Ehrenämter in europäischen und internationalen Gremien inne. Er war Oberbürgermeister für Bildung, Kultur, Sport und Stadtmarketing der Stadt Mannheim. Er studierte Rechtswissenschaften und absolvierte sein Referendariat in Mannheim, Speyer, Heidelberg und in San Diego, USA. Seine politische Karriere in der SPD begann bereits während des Studiums. Des Weiteren vertrat er den Deutschen Städtetag im Europäischen Ausschuss der Regionen (AdR). Auf europäischer Ebene ist Peter Kurz seit 2010 auch stellvertretendes Mitglied des Hauptausschusses der deutschen Sektion des Rates der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE). Die internationale Arbeit des RGRE setzt sich in den Vereinigten Städten und Gemeinden (UCLG) fort. Darüber hinaus hat Peter Kurz aktiv an der Gründung des Globalen Parlaments der Bürgermeister (GPM) im Jahr 2016 mitgewirkt und wurde 2019 zum Vorsitzenden ernannt. ist eine eigene große Herausforderung, die zum Erhalt der sozialen und gesellschaftlichen Stabilität gemeistert werden muss. Wie können Städte diesen „grünen Wandel“ finanzieren? Aufgrund der bereits bestehenden Verschuldung und der begrenzten Einnahmemöglichkeiten von Städten und Kommunen kann davon ausgegangen werden, dass Städte die Aufgabe nicht alleine schultern können. Sicherlich werden entsprechende Mittel von Bund und Ländern und, soweit möglich, auch der europäischen Ebene hier eine wichtige Rolle spielen. Für einen beschleunigten Wandel werden aber auch private Investitionen erforderlich sein. Hier kommt es darauf an, welche Geschäftsmodelle zum Tragen kommen, welche Kosten und Lasten entstehen und wie diese verteilt werden, so dass negative soziale Auswirkungen vermieden werden. Es wäre wichtig, innovative, gemeinwohlwirtschaftliche Ansätze zu stärken und in den Vordergrund zu rücken. Damit könnte bürgerschaftliches Engagement für Gemeinschaftsaufgaben auch auf der wirtschaftlichen Ebene gestärkt werden. Denken Sie, dass die Digitalisierung eine zentrale Rolle spielen wird bei der Entwicklung Europas zum ersten klimaneutralen Kontinent bis 2050? Es ist ja schon heute so, dass digitale Lösungen eine wichtige Rolle in vielen Bereichen spielen, wie etwa beim Umbau der Energieversorgung oder bei der Mobilität. Wichtig ist hier vor allem, dass sich Innovationen und Lösungen an den gesellschaftlichen Herausforderungen orientieren, also nachfrageorientiert sind und nicht versucht wird, möglicherweise kontraproduktive Produkte in den Markt zu drücken, wie das teilweise bei Smart City-Ansätzen der Fall war. Denn auch bei der Digitalisierung gilt es, die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen im Blick zu behalten. Ein enger Austausch zwischen der öffentlichen Nachfrage und innovativen Unternehmen, auch bei der Beschaffung, kann helfen, digitale Lösungen zielgerecht zu entwickeln und einzusetzen. DR. PETER KURZ Dr. Peter Kurz, Oberbürgermeister der Stadt Mannheim. © Stadt Mannheim 6 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Herr Dr. Kurz, wie hat sich Mannheim in den letzten zehn Jahren verändert, um nachhaltiger und lebenswerter zu werden? Wir haben vor fast 12 Jahren einen Veränderungsprozess begonnen, um ein branchenübergreifendes Denken und eine wirkungs- und ergebnisorientierte Planung in der Mannheimer Verwaltung zu fördern und die Bürgerbeteiligung zu stärken. Durch den Ausbau unserer internationalen Arbeit haben wir globale Programme verabschiedet und an deren Eingrenzung gearbeitet. So entwickelten wir in einem 18-monatigen Beteiligungsprozess ein Leitbild „Mannheim 2030“, um die globale Agenda 2030 umfassend zu reflektieren und umzusetzen. Sieben Ziele und sieben Handlungsfelder bilden eine kohärente und nachhaltige Strategie für die Stadt. Wir haben verschiedene Interessengruppen eingeladen, Aktionspläne auf der Grundlage des Leitbildes zu beschreiben und umzusetzen, denn die Verwirklichung der SDGs erfordert eine grundlegende Veränderung unserer Wirtschaft und unseres Lebensstils, wir müssen alle Interessengruppen und Bürger einbeziehen. Wie lauten die Pläne für die nächsten zehn Jahre, um dem akuten Klimanotstand zu begegnen? 2019 haben wir einen Dringlichkeitsplan zur Bekämpfung des Klimawandels aufgestellt. Wir versuchen, den Fortschritt in den langfristigen Strategien für Mobilität, Energie, Immobilien, Stadtbegrünung, Klimaschutz und Verwaltung zu beschleunigen. Innerhalb der nächsten 12 Jahre werden wir unser hauptsächlich auf Kohle basierendes Fernwärmesystem auf erneuerbare Energien umstellen und wir werden weitere Stadtteile einbinden. Gegenwärtig sind 70 % der Gebäude an das Netz angeschlossen. Bis 2027 werden wir unser Straßenbahnsystem ausbauen und den Fuhrpark erneuern. Viele Projekte verbessern unsere Radverkehrsinfrastruktur. Durch Anreize und verschiedene Aktionen wird das Fahrrad als bevorzugtes Verkehrsmittel gefördert; dies ist besonders wichtig in einer Stadt, in der das Auto von Carl Benz 1886 erfunden wurde. Die öffentlichen Grünflächen werden innerhalb der nächsten drei Jahre um einen Quadratkilometer erweitert. Wie bindet die Stadt ihre Bürger in diese Prozesse ein, insbesondere die jüngere Generation? Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist sehr vielseitig. Die Erstellung des Leitbildes selbst war ein Prozess unter Beteiligung hunderter Menschen und tausender Vorschläge unserer Bürgerinnen und Bürger. Viele Projekte sind per Definition Gemeinschaftsprojekte. Unsere Klimaschutzagentur richtet sich hauptsächlich an private Haushalte und entwickelt Kampagnen und Aktionen, die auf der Beteiligung von Schulen, Angestellten, Mitgliedern von Verbänden usw. beruhen. Aufklärungsprojekte über globalen, verantwortungsvollen Konsum sind der Schlüssel, um weitere Unterstützung für den Wandel zu erhalten. Warum haben Sie sich dafür entschieden, Gastgeber der 9. Europäischen Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden zu werden? Die Stadt Mannheim ist überzeugt, dass Nachhaltigkeit einen umfassenden Wandlungsprozess erfordert, der nur erfolgreich sein wird, wenn die zwei folgenden grundlegenden Erkenntnisse berücksichtigt werden: 1. Globale Programme werden ohne die kommunale Ebene nicht funktionieren. Alle globalen Herausforderungen konzentrieren sich in den Städten und müssen auch dort bewältigt werden. Aber in vielen Ländern fehlen die Mittel und Kompetenzen, um angemessen auf diese notwendigen Maßnahmen zu reagieren. Sie werden auf Gemeindeverwaltungen in einem nationalen System reduziert. Es fehlen die Mittel, um die urbane Komplexität zu verwalten. Sie sind gefangen in den unkontrollierten Prozessen globaler Märkte und des Wettbewerbs sowie nationaler Vorschriften. Und vor allem haben nationale und internationale Regierungen kein Verständnis für die städtische Welt. Globale Verhandlungen und Verträge bleiben in den Händen nationaler Führung. Ein Wandel im Sinne der Nachhaltigkeit erfordert auch einen Wandel der Führungsstrukturen und eine Übertragung von Befugnissen auf die regionale und lokale Ebene. 2. Die SDGs sind voneinander abhängig, und das SDG 11 ist als übergreifendes Ziel von zentraler Bedeutung für deren Verwirklichung. Die 9. Europäischen Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden ist eine günstige Gelegenheit, diese Ziele zu fördern und einen Schritt darin voranzukommen, Städte und Gemeinden zu unterstützen und direkt einzubeziehen, indem sie sich an die europäische Ebene und die europäischen Nationen wendet. Die Konferenz wird die Kompetenzen und das Know-how der ICLEI-Mitglieder besonders zur Geltung bringen. Sie wird eine inspirierende Veranstaltung sein und die Bewegung hin zu einer nachhaltigen Welt stärken.