Transforming cities
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2366-7281
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2020-0058
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Climate Smart Cities
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Marcus Jeutner
Das im Jahr 2015 veröffentlichte Stadtentwicklungsprogramm „Smart City Mission“ stellte in Indien den Versuch dar, drängende Herausforderungen der Stadtentwicklung mit Hilfe von smarten Technologien zu lösen. Die 100 beteiligten Städte setzten hierbei überwiegend auf Systemlösungen, deren Kern Informations- und Kommunikationstechnologien bildeten. Das Projekt „Climate Smart Cities“ unterstützt die drei indischen Großstädte Bhubaneswar, Coimbatore und Kochi bei der Umsetzung eines Entwicklungsansatzes, der nicht technologische Möglichkeiten an den Anfang von Entwicklungsprozessen stellt, sondern vielmehr dringende Notwendigkeiten zur Klimaanpassung.
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40 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Indische Städte haben innerhalb kürzester Zeit einen teils dramatischen Wandel vollzogen. 2018 lebten 461 Mio. Menschen in Städten, das sind rund 34-Prozent der Gesamtbevölkerung Indiens. Es wird erwartet, dass sich diese Zahl bis zum Jahr 2050 um weitere 416 Mio. Städter erhöhen wird. 1 Während das Augenmerk der (Fach-)Öffentlichkeit zumeist auf den großen Metropolen und Mega-Polis Neu- Delhi, Mumbai, Bangalore oder Hyderabad liegt, 1 United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division: World Urbanization Prospects - The 2018 Revision. New York, (2019) S. 43. konzentriert sich das Hauptwachstum insbesondere in den außerhalb Indiens eher unbekannten Mittel- und Großstädten. Hier übt die hohe Dynamik des Bevölkerungswachstums einen besonders großen Druck auf alle Systeme der Stadt aus, da die Ausgangssituation dort meist schlechter ist, als in Städten mit einer deutlich längeren Planungshistorie. Wo Mumbai und Delhi zumindest in Teilen auf dem kolonialen Erbe aufbauen und dieses erweitern konnten, sind die Ansätze hingegen in anderen Städten weitaus weniger ausgeprägt. Und so steigen die Herausforderungen in allen Bereichen - der Wohnraumversorgung, der sozialen Infrastruktur, dem Verkehrswesen, den grünen Infrastrukturen. Den strukturellen Entwicklungsstau der Jahrzehnte seit der Unabhängigkeit aufzuholen, ist ein Kraftakt, der kaum bewältigbar scheint. Und doch wird in vielen Teilen des Landes versucht, mit Hilfe neuer Denkansätze und Technologien Entwicklungsstufen zu überspringen und im Sinne des „Leapfroggings“ Antworten auf Herausforderungen der Stadtentwicklung zu finden. Diese Entwicklungssprünge zu erreichen, war erklärtes Ziel der „Smart Cities Mission“, einem nationalen Stadtentwicklungsprogramm, das die Entwicklung und Umsetzung von Projekten fördern sollte. In einem Wettbewerbsverfahren konnten sich Städte um Fördermittel bewerben. Hierzu mussten sie binnen kürzester Zeit einen gesamtstädtischen sowie einen lokalen, kleinräumigen Ansatz ausarbeiten. Letzterer konnte entweder die Neuentwicklung (Greenfield), die Umnutzung (Brownfield) oder aber die Aufwertung (Rejuvination) von Stadtgebieten betreffen. Eine Förderzusage erzeugte für die erfolgreichen Städte zumeist ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Attraktivität für internationale Geber und Anbieter von Systemlösungen. Für die Gesamtstadt ergaben sich Konzepte für Sicherheits- und Verkehrslenkungssysteme sowie für Datenzentren zur Verschneidung einer effizienteren Steuerung von Stadtsystemen. Auf der lokalen Ebene war die Bandbreite der vorgeschlagenen Lösungen größer. Jedoch ist auch hier auffällig, dass es zumeist Einzellösungen waren, deren Vernetzungsgedanke allzu schnell an nutzungsrechtlichen oder betriebswirtschaftlichen Fragen scheiterte. Durch die starke Fokussierung auf die Umsetzung von Einzelprojekten gelang es schließlich nur selten, die angestrebte integrierte Betrachtung von Stadtentwicklungsfragen umzusetzen. Zahlreiche Smart City-Initiativen lagen so brach oder wurden nach Ende der Pilotphasen nicht weiterverfolgt. Zudem wurde eine intensive Bürgerbeteiligung - eigentlich Teil der Zugangsbedingungen für Teilnehmerstädte - in der Realität Climate Smart Cities Klimawandelanpassung durch Ko-Kreation in indischen Großstädten Klimaanpassung, Urban Design Thinking, Ko-Kreation, Nachhaltigkeitsforschung, Integrierte Stadtentwicklung, Smart Cities Marcus Jeutner Das im Jahr 2015 veröffentlichte Stadtentwicklungsprogramm „Smart City Mission“ stellte in Indien den Versuch dar, drängende Herausforderungen der Stadtentwicklung mit Hilfe von smarten Technologien zu lösen. Die 100 beteiligten Städte setzten hierbei überwiegend auf Systemlösungen, deren Kern Informations- und Kommunikationstechnologien bildeten. Das Projekt „Climate Smart Cities“ unterstützt die drei indischen Großstädte Bhubaneswar, Coimbatore und Kochi bei der Umsetzung eines Entwicklungsansatzes, der nicht technologische Möglichkeiten an den Anfang von Entwicklungsprozessen stellt, sondern vielmehr dringende Notwendigkeiten zur Klimaanpassung. Bild 1: Power cut - Präsentation der Arbeitsergebnisse. © Marcus Jeutner, 2020 41 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt kaum gelebt. Hierdurch wurden zahlreiche Aktivitäten als reine Top-Down-Ansätze wahrgenommen und von den vorgesehenen Nutzer*innen nicht angenommen. Nicht selten verfehlten sie durch die fehlende Einbindung von Bürger*innen und lokalen Akteuren ihre angedachte Wirkung oder der Betrieb konnte nicht lange aufrechterhalten werden. Mit Fortschreiten der Smart City-Aktivitäten war zu beobachten, dass neben strukturellen Fragen der Nachhaltigkeit immer öfter auch Fragen von Lebensqualität und Teilhabe im Zentrum von Projekten stehen. Indien wird jährlich von Wetterextremen getroffen, welche durch ihr häufigeres und unberechenbareres Auftreten als klare Folge des voranschreitenden Klimawandels angesehen werden. Ob durch Hitzewellen, das Ausbleiben des Monsuns, Trockenperioden oder - nicht selten im direkten Wechsel - Starkregen und Überschwemmungen: Die Menschen spüren die Auswirkungen des Klimawandels auf das alltägliche Leben fast überall im Land. Städte werden global sowohl als Treiber als auch als Opfer von Klimaveränderungen angesehen. Wie an vielen Orten der Welt müssen sich auch indische Städte den heute und in Zukunft spürbaren Folgen des Klimawandels anpassen. Die klimatische Herausforderung in indischen Städten lässt sich in folgende fünf Aspekte zusammenfassen: 1. Steigende Durchschnittstemperaturen 2. Steigende Spitzentemperaturen 3. Steigende jährliche Niederschlagsmengen 4. Sinkende Zahl von Regentagen pro Jahr 5. Steigende Zahl von Trockenereignissen Betrachtet man diese Faktoren ganzheitlich bedeutet dies, dass Wasserknappheit und Hitzestress den Alltag der Menschen in Indien spürbar prägen werden. Städte wie Bhubaneswar wurden in den vergangenen Jahren wiederholt von schweren Tropenstürmen und damit einhergehenden Starkregenfällen getroffen. Die städtischen Infrastrukturen waren diesen immensen Anforderungen nicht gewachsen, sodass es zu starken Überflutungen kam. Jedoch genügt auch schon ein zweistündiger, regulärer Regen, um ganze Straßenzüge zumindest zeitweise unter Wasser zu setzen. Zu klein dimensionierte und durch Müll verstopfte Regenwasserkanäle vermögen es nicht, diese Wassermengen abzuleiten. Hinzu kommt, dass in die Kanäle nicht selten auch Schmutzwasser eingeleitet wird, und zusätzlich undichte Frischwasserrohre das Regenwassersystem an seine Grenzen bringen. Der Umgang mit temporären Überflutungen gehört also stellenweise zur wiederkehrenden Routine der Menschen vor Ort. Die hohe Dynamik der Bauaktivitäten für Wohn- und Geschäftsgebäude sowie für Infrastrukturen und das Verschwinden von Grünreserven und Wasserflächen verstärkt diese Effekte zusätzlich. Der Stadtentwicklung und insbesondere der Flächennutzungsplanung wird hierbei oft eine Schlüsselrolle zugeschrieben, da sie die Grundlagen für nachhaltigere Stadtstrukturen legen könnten. Ko-Kreation und Kollaboration Klimaanpassung, Steigerung der Resilienz, Digitalisierung - Transformationsaufgaben stellen Städte weltweit vor vielschichtige Herausforderungen. Das betrifft vor allem bereits existierende Stadtstrukturen, die nicht einfach entfernt und von Grund auf neu entwickelt werden können. Hinzu kommt, dass Transformationsprozesse nicht allein technokratische, politische oder technologische Aufgaben sind, da Städte nicht allein aus Stahl, Beton, Glas und Datenströmen geformt werden. Sie werden tagtäglich durch individuelle lokale Bedingungen und ihre Menschen mit ihren täglichen Routinen im Privat- und Arbeitsleben neu geprägt. Die „Sustainable Development Goals“ oder internationale Abkommen, wie die auf der „United Nations Conference on Housing and Sustainable Urban Development (Habitat III)“ beschlossene „New Urban Agenda“ oder das „Pariser Klimaabkommen“ zeigen verschiedene globale Handlungsrahmen auf, aus denen lokale Maßnahmen zur Bewältigung von Transformationsaufgaben abgeleitet werden sollen. Diese berühren früher oder später Bereiche des alltäglichen Handelns und Verhaltens von Individuen und deren Bereitschaft, sich diesen neuen Gegebenheiten anzupassen und sich neuen Lösungen gegenüber zu öffnen. Durch die schier unüberblickbare Zahl von zu berücksichtigenden Perspektiven steigt die scheinbare Komplexität der urbanen Herausforderungen. Somit zeigen heutige Entwicklungs- und Transformationsaufgaben einen eindeutigen Bedarf nach ko-kreativen Innovationsformaten auf, die Bild 2: Ist der Klimawandel wahrnehmbar? Umfrageergebnisse aus Coimbatore. © Marcus Jeutner, Alina Reuschling, Melanie Steinkemper 42 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Städte in die Lage versetzen, durch Kollaboration auf ihre individuellen Bedarfe zugeschnittene Lösungen zu entwickeln. Insbesondere die Aufstellung und Umsetzung von Klimaaktionsplänen oder Energieeffizienzstrategien berühren im hohen Maße das individuelle Verhalten von Bürger*innen und lokalen Akteuren. Ein kollaborativer Innovations- und Entwicklungsansatz kann hierbei Hebelwirkungen freisetzen, die Städten bei der Umsetzung von internationalen Entwicklungsaufgaben helfen könnten. Internationale Erfahrungen der letzten Dekade im Bereich Smart Cities zeigen klar, dass auch hier die Fokussierung auf allein technologische Fragen nicht unbedingt zum Erfolg führt. Durch die reine Umsetzung von standardisierten Kataloglösungen und Best Practice-Beispielen konnte selten eine wirkliche Vernetzung von verschiedenen Handlungsebenen einer Stadt erreicht werden. Insbesondere in diesem Bereich wuchs die Erkenntnis, dass es offene Innovationsprozesse braucht, in welchen konkrete lokale Herausforderungen identifiziert, definiert und gemeinschaftlich gelöst werden. Genau hier setzen die Überlegungen eines Teams an der TU Berlin an, welches kollaborative Ansätze und offene Innovationsformate erforscht und weiterentwickelt, um Städte in der Bewältigung ihrer Herausforderungen zu unterstützen. Kern dieser Formate stellen Urban Labs dar, in denen gemeinsam mit Vertreter*innen aus unterschiedlichen Hintergründen (sozial, institutionell, professionell, privat) zusammengearbeitet wird. Dabei wird die Methode des „Urban Design Thinking“ eingesetzt, die Ansätze privatwirtschaftlicher Innovationsprozesse in urbane Kontexte weltweit überträgt. Kern sind dabei zum einen die engen Bezüge zum jeweiligen Raum und den Menschen und Akteuren in ihm sowie der experimentelle Ansatz, der das frühe Scheitern als positiven Schritt zur Lösung eines Problems ansieht. Als Teil der „Indo-German Smart Initiative (IGSI)“ transferiert das Team der TU Berlin diesen Innovationsansatz seit 2017 in verschiedene Kontexte der indischen Stadt- und Smart City-Entwicklung. Im Rahmen des Projekts „Climate Smart Cities“ fördert es die Entwicklung von smarten, lokalen Lösungen zur Bewältigung des Klimawandels in indischen Städten. Initiiert und begleitet werden Innovationsprozesse in drei Städten und Bundesstaaten. Dabei stehen in jeder der drei Städte verschiedene Kernthemen im Mittelpunkt. Während in Kochi (Kerala) Konzepte für Green Buildings entwickelt werden, sind dies in Bhubaneswar (Odisha) Stormwater Management und in Coimbatore (Tamil Nadu) Green City Networks. Ziel ist dabei jedoch nicht die isolierte Betrachtung von Einzelthemen, sondern auch die Förderung des vernetzten, integrierten Denkens und Planens, das insbesondere auf die Übertragbarkeit von Lösungen abzielt. Zur Eingrenzung der lokalen klimatischen Herausforderung führte das Projektteam im Sommer 2019 in den drei Projektstädten eine Onlinestudie durch. Via Social Media wurden Bewohner*innen und Akteure von drei Nachbarschaften zu ihrer Wahrnehmung von Veränderungen der lokalen klimatischen Bedingungen und deren Auswirkungen auf ihre persönliche Lebenssituation befragt. In jeder der drei Städte beteiligten sich jeweils mehr als 1 000 Individuen. Frei in ihrer Antwort nach Veränderungen, bestätigten je nach Stadt bis zu 90-% der Teilnehmenden einen deutlich spürbaren Wandel bei Hitze, ausbleibendem Monsunregen, Dürreperioden sowie auch bei immer wieder lokalen Überflutungen bei Regen. Als Folgen dieser Entwicklung wurden körperliche (Müdigkeit, Kopfschmerzen) und finanzielle Beeinträchtigungen (steigende Energiekosten durch Einsatz von Kühlgeräten, steigende Trinkwasserkosten) genannt. Lokale Gewerbetreibende benannten zudem das Ausbleiben von Kundschaft sowie wiederkehrende Reparaturkosten als direkte Folgen. Der Klimawandel wird also nicht nur von Expert*innen wahrgenommen, sondern auch von den Menschen vor Ort auf lokaler Ebene. In der Folge bildeten die Erkenntnisse den Ausgangspunkt für drei Innovationsworkshops mit Vertreter*innen der jeweiligen Stadtverwaltungen, von NGOs, Unternehmen und Verbänden. In allen Städten steht der Prozess im Mittelpunkt der Arbeit. Zusammen mit lokalen Akteuren werden spezifische Herausforderungen identifiziert und beschrieben, potenzielle Lösungsräume aufgespannt und Machbarkeitsstudien für eine prototypische Umsetzung und Skalierung von gefundenen Ansätzen geprüft. Begleitet wird dies durch die Erarbeitung eines Monitoring-Systems, welches nicht nur der Erfolgskontrolle, sondern städtischen Akteuren auch bei der Priorisierung von späteren Folgemaßnahmen dienen soll. Weitere Informationen: www.igsi.info Marcus Jeutner, M. Sc. Stadtplaner Technische Universität Berlin Institut für Stadt- und Regionalplanung Kontakt: m.jeutner@isr.tu-berlin.de AUTOR Climate Smart Cities wird koordiniert durch die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (giz) GmbH und wird gefördert durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) im Rahmen der Internationalen Klimaschutzinitiative (IKI).