Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2020-0065
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Gebäudeintegrierte Farmwirtschaft
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Nicole Pfoser
Die gebäudeintegrierte Farmwirtschaft nutzt Flächen von Gebäuden zum Anbau von Nutz-, Zierpflanzen oder Fisch (Aquaponik), die überwiegend innerhalb der Stadt verwendet oder vermarktet werden. Zur Anwendung stehen, unter Berücksichtigung der Bauphysik sowie der erhöhten Lasten für eine Farmwirtschaft, sonnen- und regenexponierte Flachdächer, Außenwände sowie Innenräume. Die primären Ziele einer gebäudeintegrierten Farmwirtschaft sind die Einsparung ökologisch wertvoller Bodenflächen, Klimabeitrag, Energie- und Ressourceneinsparung durch kurze Versorgungs- und Transportwege, Bildung (Bewusstsein schaffen) sowie die Förderung des sozialen Miteinanders und gemeinnütziger Projekte.
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77 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Funktion und Aufbau Die Zukunftsfähigkeit von Städten ist unter anderem abhängig von ihrer Energie- und Ressourceneffizienz, (siehe hierzu auch den Stadtentwicklungsplan Klima Berlin (StEP Kima) [1, 2, 3]. Ein sinnvoller Ansatz ist die Inwertsetzung ungenutzter Flächen. Anbauflächen unter freiem Himmel und Dachgewächshäuser können beispielsweise auf Flachdächern von Supermärkten, Kulturzentren, Schulen, Restaurants, Industrie- und Wohngebäuden errichtet werden. Deutschlands Städte bieten nach Einschätzung von Fraunhofer-Forschern rund 360 Mio. m 2 Flachdächer von Nicht-Wohngebäuden, die für den Anbau von Pflanzen in Gewächshäusern genutzt werden können. Das entspricht in etwa einem Viertel der Größe von Deutschlands Ackerflächen, die für den Gemüseanbau verwendet werden [4]. Zusätzlich stehen vertikale Gebäudeflächen für die Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung [5].Relevante Standortkriterien für eine gebäudeintegrierte Farmwirtschaft sind Flächengröße, Aufbau und Belastbarkeit der Primärkonstruktion, die Zugänglichkeit, die Belichtung sowie rechtliche Aspekte [6]. Anbauflächen auf dem Dach unterscheiden sich im Aufbau nicht von flächigen Intensivbegrünungen. Eine Schutzlage schützt den Dachaufbau vor mechanischer Einwirkung. Das Substrat sollte den Kriterien des Nahrungsmittelanbaus genügen. Pflanz- Bild 1: Gewächshaus Dachbegrünung wagnis 4, München. © Pfoser, Hf WU Gebäudeintegrierte Farmwirtschaft Lösungen und Vorteile Urban Farming, Dachbegrünung, Fassadenbegrünung, Stadtklima, Ressourcen, Bürgeraktivierung Nicole Pfoser Die gebäudeintegrierte Farmwirtschaft nutzt Flächen von Gebäuden zum Anbau von Nutz-, Zierpflanzen oder Fisch (Aquaponik), die überwiegend innerhalb der Stadt verwendet oder vermarktet werden. Zur Anwendung stehen, unter Berücksichtigung der Bauphysik sowie der erhöhten Lasten für eine Farmwirtschaft, sonnen- und regenexponierte Flachdächer, Außenwände sowie Innenräume. Die primären Ziele einer gebäudeintegrierten Farmwirtschaft sind die Einsparung ökologisch wertvoller Bodenflächen, Klimabeitrag, Energie- und Ressourceneinsparung durch kurze Versorgungs- und Transportwege, Bildung (Bewusstsein schaffen) sowie die Förderung des sozialen Miteinanders und gemeinnütziger Projekte. 78 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt tröge und Hochbeete auf dem Dach sind heute keine Seltenheit mehr. Die Größe der Anbaufläche ist abhängig vom Nutzungskonzept [5, 7]. Die Personensicherheit muss gegeben sein, die Ver- und Entsorgung mit Wasser und Nährstoffen ist sicherzustellen. Ressourcen- und Stoffkreisläufe (zum Beispiel: Speicherung und Einsatz von Regenwasser, Nutzung von Solarenergie, Kompostierung organischer Abfälle) sind sinnvolle Strategien. Dachgewächshäuser kommerzieller Projekte haben, abhängig von der Produktions- und Vertriebsplanung in der Regel eine Mindestfläche von rund 1 000 m 2 . Eine umweltgerechte Optimierung von Dachgewächshäusern kann beispielsweise durch den Einsatz von Kraft-Wärme- Kopplungen, Wärmepumpen, Solarenergie, adiabater Abluftkühlung, Abwasserwärmerückgewinnung und Betriebswassernutzung erfolgen [6, 8, 9]. Unterhalt und Pflege Abhängig von der Art gebäudeintegrierter Farmwirtschaft (Anbau auf Dächern bzw. in Dachgewächshäusern, Nutzung von Fassaden) ist die Bereitstellung und der Transport von Materialien für Pflege und Wartung zu klären, als auch der Abtransport von Erzeugnissen und nicht kompostierbarem Abfall. Details zur Wasserver- und Entsorgung sind festzulegen. Die Versorgung und Pflege der Anbauflächen sowie Produkte entspricht der in Klein-, Saisongärten und Gewächshäusern am Boden. Der saisonale Anbau von Produkten ist sinnvoll, um kostengünstig zu produzieren. Fruchtwechsel und Mischkulturen vermindern Anbauprobleme durch Nährstoffmangel, Parasiten und Krankheiten. Aussaat-, Anbau und Erntezeiträume sind zu berücksichtigen. Einzelne Produkte stellen unterschiedliche Ansprüche an den Aufbau. So benötigen beispielsweise Kräuter andere Substratdicken als Wurzelgemüse. Bienen- und Hummelvölker sorgen für eine gute Bestäubung [5, 7]. Auch ein gewerblicher Anbau ist insbesondere in Dachgewächshäusern möglich. Grundsätzlich muss abgewogen werden, welches Anbauverfahren (Anbau in Erde, in Substrat, Hydroponik, Aquaponik) und welcher Gewächshaustyp für die jeweilige Zielsetzung geeignet ist [6]. Massnahmenwirkung Innerstädtischer Obst- und Gemüseanbau auf, an oder in Gebäuden ist durch kurze Versorgungswege, Wasser-, Energie- und Stoffkreisläufe energie- und ressourcenschonend sowie CO 2 -reduzierend. Die Bild 2: Formen gebäudeintegrierter Farmwirtschaft. © Pfoser, Hf WU [5, 7] Kenndaten Parameter Werte Substratdicke ab 8 cm für Salate und Kräuter ab 20 cm u. a. Zucchini, Auberginen, Kürbis, Kohl, Melonen, Erdbeeren ab 40 cm u. a. Tomaten, Bohnen und Beerenfrüchte, Wurzelgemüse Traglast (wassergesättigt) extensiv: 90-180 kg/ m 2 zzgl. ggf. Auflast Gewächshausaufbau intensiv: ab 180 kg/ m 2 zzgl. ggf. Auflast Gewächshausaufbau zusätzlich sind Schnee-, Windsog- und Verkehrslasten zu berücksichtigen Höhe der Vegetation 10 - 90 cm im Sommer (ohne Kletterpflanzen, Sträucher und Bäume) Baumvegetation der Einsatz von Obstbäumen ist bei ausreichend durchwurzelbarem Substratvolumen möglich Richtlinien und Leitfäden Dachbegrünungsrichtlinie (FLL 2018), Leitfaden Gebäude, Begrünung, Energie (2013), Fachregel für Abdichtungen - Flachdachrichtlinie (2019), DIN 18531, Dachabdichtungen, Planungsgrundsätze (1991), DIN 18195, Teile 1 bis 10, Bauwerksabdichtungen, DIN 4102, Teil 7, Brandverhalten von Baustoffen und Bauteilen, Bedachungen / DIN V ENV 1187, Prüfverfahren zur Beanspruchung von Bedachungen durch Feuer von außen, Mustererlass der ARGEBAU „Brandverhalten begrünter Dächer”, Juni 1989, DIN EN 13031-1: 203-09 und DIN EN 1991-1: 2010-12 Dachfläche Fassadenbereich Gewächshaus Gebäudebegrünung Vertikale Farmwirtschaft Tabelle 1: Kenndaten Dachaufbau für Farmwirtschaft. © Pfoser, Hf WU 79 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt lokale Nahrungsmittelerzeugung (Obst-/ Gemüseanbau) stoppt den Landverbrauch (Monokultur/ Überdüngung) und leistet zudem einen stadtökologischen Beitrag durch die Verschattung und Verdunstungskühlung durch Pflanzen sowie eine erhöhte Artenvielfalt am Standort. Begrünungen zur Selbstversorgung in Form von intensiven Dachbegrünungen (Beete für den Anbau von Obst und Gemüse), Fassadenbegrünungen (zum Beispiel: Wein, Kiwi, Bohnen) fördern die Umweltbildung (Gartenbau, Ökologie, Handel, Nachhaltigkeit) und die soziale Stadtentwicklung (zum Beispiel: generationsübergreifende und interkulturelle Nachbarschaftsprojekte, Naherholung). Ob temporär oder dauerhaft, die Begrünungen bringen eine erhöhte Aufenthaltsqualität mit sich, schützen die Gebäudehülle vor UV-Strahlen und Witterungseinflüssen) und halten Regenwasser zurück (Einsparung Niederschlagswassergebühren) [5, 7]. Hydroponik und Aquaponik verknüpfen als gebäudeintegrierbare, wasserbasierte Farmingstrategien Abwasseraufbereitungstechnologien mit Nahrungsmittelproduktion und leisten aktiven Klimaschutz durch Regenwassermanagement im und am Gebäude-[10]. Multifunktionale, nachhaltige Infrastrukturentwicklung und urbane Resilienz sind wesentliche Zukunftsthemen. LITERATUR [1] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (Hrsg.): Stadtentwicklungsplan Klima. Urbane Lebensqualität im Klimawandel sichern. Berlin, 2011. https: / / www.stadtentwicklung.berlin.de/ planen/ stadtentwicklungsplanung/ download/ klima/ step_klima_broschuere.pdf (15.04.2020). [2] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (Hrsg.) Stadtentwicklungsplan Klima 2.0. Berlin, 2016. https: / / w w w.stadtent wicklung.berlin.de/ planen/ stadtentwicklungsplanung/ de/ klima/ (15.04.2020). [3] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (Hrsg.): Strategie Stadtlandschaft Berlin. natürlich urban produktiv. Berlin, 2012. https: / / www.berlin. de/ sen/ uvk/ natur-und-gruen/ landschaftsplanung/ strategie-stadtlandschaft/ (15.04.2020). [4] Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT: inFarming. Landwirtschaft auf dem Dach der Forschung, 2011. https: / / www.umsicht.fraunhofer.de/ de/ presse-medien/ pressemitteilungen/ 2011/ infarming.html (27.01.2020). [5] Pfoser, N.: Vertikale Begrünung. Stuttgart , 2018. [6] Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e. V., inter 3 GmbH Institut für Ressourcenmanagement, Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin (ISR), Fachgebiet Stadt- und Regionalökonomie: Es wächst etwas auf dem Dach. Dachgewächshäuser, Idee, Planung, Umsetzung. ZFarm, städtische Landwirtschaft der Zukunft, 2012. http: / / www. z alf.de / htmlsite s / z farm / D o cument s / leit faden / dachgewaechshaeuser_leitfaden.pdf (12.05.2020). Der Forschungsbericht wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. [7] Pfoser, N. et al.: Gebäude, Begrünung und Energie: Potenziale und Wechselwirkungen. Interdisziplinärer Leitfaden als Planungshilfe zur Nutzung energetischer, klimatischer und gestalterischer Potenziale sowie zu den Wechselwirkungen von Gebäude, Bauwerksbegrünung und Gebäudeumfeld. 2013. Der Forschungsbericht wurde mit Mitteln der Forschungsinitiative Zukunft Bau des Bundesministeriums für Bau-, Stadt- und Raumforschung gefördert. [8] FLL, Hrsg.: Dachbegrünungsrichtlinien - Richtlinien für die Planung, den Bau und die Instandhaltung von Dachbegrünungen. Bonn, 2018. [9] Philips, A.: Designing urban agriculture. A Complete Guide to the Planning, Design, Construction, Maintenance, and Management of Edible Landscapes. New Jersey, 2013. [10] Technische Universität Berlin, Fakultät VI Planen - Bauen - Umwelt, Institut für Stadt- und Regionalplanung (ISR), Fachgebiet Städtebau und Siedlungswesen: Roof Water Farm, www.roofwaterfarm.com (13.11.2019). Bild 3: Pflanzbeete auf dem Dach der Wohnanlage wagnis 4, Ackermannbogen, München. Wamsler Rohloff Wirzmüller Frei- RaumArchitekten. © Pfoser Prof. Dr.-Ing. Nicole Pfoser Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen, Studiengang Landschaftsarchitektur [www.hfwu. de], Geschäftsführerin Kompetenzzentrum Gebäudebegrünung und Stadtklima e.V. (kgs) [www.kgs-nt.de], Stellv. Direktorin Institut für Stadt und Immobilie (ISI), Stellv. Institutsleiterin der Akademie für Landschaftsbau und Vegetationsplanung (avela) [www.avela.de] Kontakt: mail@pfoser.de AUTORIN