Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2020-0070
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Wie die Energienetze Mittelrhein die Herausforderungen der Energiewende meistern
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Timo Beuth
Zur Umsetzung der Energiewende ist trotz der vielen dezentralen Einspeiser ein stabiles Stromnetz gefordert. Gemeinsam mit verschiedenen Partnern hat die Energienetze Mittelrhein deshalb ein innovatives Pilotprojekt aufgesetzt.
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4 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Welche Aussage ist „richtiger“: die technische Betrachtung, dass der elektrische Strom von Plus nach Minus fließt oder der physikalische Blickwinkel, der von einer umgekehrten Richtung - also von Minus nach Plus - ausgeht? Allgemein hat sich die technische Perspektive durchgesetzt, aber wie so oft im Leben kommt es auf den Standpunkt des Betrachters an. Unstrittig ist jedoch, dass die Richtung des Strom- oder auch Energieflusses zunehmend von den Stromnetzbetreibern berücksichtigt werden muss. Insbesondere in den Verteilnetzen der Mittel- und Niederspannung konnte in der Vergangenheit davon ausgegangen werden, dass der Strom von den Großkraftwerken bis zur Steckdose fließt. Es speisten folglich nur die großen Erzeuger ein und die Verbraucher konsumierten den Strom. Aufgrund des Ausbaus Erneuerbarer-Energien- Anlagen sowie des Aufkommens neuer Verbraucher - wie Wärmepumpen oder Ladestationen für Elektroautos - vergrößern letztere allerdings die Lastspitzen. Das führt dazu, dass sich die Energieflussrichtung von Ortsnetztransformatorstationen und Kabelverteilerschränken ebenfalls wandelt. Dort wird der von den dezentralen Erzeugungsanlagen generierte Strom in das Niederspannungsnetz eingespeist. Dadurch fluktuiert die Spannung bei den einzelnen Niederspannungsanschlüssen. Im Zuge dessen können die zulässigen Systemgrenzen, wie das Spannungsband oder der thermische Grenzstrom, verlassen werden, zu dessen Einhaltung der Stromnetzbetreiber verpflichtet ist. Messwerte als Grundlage für Lastfluss-Betrachtungen und Netzausbau Als weitere Herausforderung kommt hinzu, dass es im gesamten Niederspannungsnetz keine Transparenz hinsichtlich der Lastflüsse gibt. Die einzelnen Wie die Energienetze Mittelrhein die Herausforderungen der Energiewende meistern Smart-Grid-Projekt mit dem Messwert-Gateway Energy Control Interface (ECI) Timo Beuth Zur Umsetzung der Energiewende ist trotz der vielen dezentralen Einspeiser ein stabiles Stromnetz gefordert. Gemeinsam mit verschiedenen Partnern hat die Energienetze Mittelrhein deshalb ein innovatives Pilotprojekt aufgesetzt. © Phoenix Contact 5 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Lastflüsse können sich beeinflussen und haben im Netzleitsystem bisher keine Rolle gespielt. In der Regel wird in der Mittelspannung erst am Abgang gemessen. Ein Beispiel soll die Situation verdeutlichen. Am Sicherungsabgang 1 im Niederspannungsnetz koppeln zahlreiche dezentrale Einspeiser ein, wobei die Energie im Kabelabgang 2 bereits den Verbrauchern zugeführt wird. Ein solcher Lastfluss über das Niederspannungsgerüst in einem Kabelverteiler oder einer Transformatorstation kann vom Netzbetreiber in den ausgedehnten Niederspannungsnetzen ohne Messtechnik nicht transparent abgebildet werden. Die Problematik besteht somit zum einen darin, dass aus untergeordneten in übergeordnete Stromnetze eingespeist wird. Ein solches Vorgehen hat Auswirkungen auf die Spannung am Netzanschlusspunkt. Auf der anderen Seite lassen sich Lastflüsse an den Netzknoten in Niederspannungsnetzen wegen der fehlenden Messtechnik nicht ermitteln. Peter Wiacker, Leiter Asset Management bei der Energienetze Mittelrhein GmbH & Co. KG, ist mit einer weiteren Schwierigkeit konfrontiert: „Im Asset Management möchten wir in puncto Netzausbau gerne in die Zukunft schauen. Zu diesem Zweck benötigen wir unbedingt Messwerte aus den bislang nicht digitalisierten Netzbereichen. Nur so können wir feststellen, welche Auswirkungen beispielsweise der erhebliche Zubau von Photovoltaikanlagen auf Einfamilienhäuser hat und wie das Stromnetz durch die steigende Zahl von öffentlichen und privaten Ladepunkten sowie intelligenten Verbrauchern beeinflusst wird“ (Bild- 1). Als Netzgesellschaft der in Koblenz ansässigen Energieversorgung Mittelrhein AG sorgt die Energienetze Mittelrhein für den sicheren und zuverlässigen Betrieb des Stromnetzes in 227 Kommunen sowie des Erdgasnetzes in 255 Kommunen in Rheinland-Pfalz. Weitbereichsregelung sowie digitaler Zwilling des Assets Ein Ortsteil, in dem immer mehr Photovoltaikanlagen installiert werden, gehört zur Gemeinde Kadenbach im Westerwaldkreis, rund 17 Kilometer nordöstlich von Koblenz. Insgesamt gibt es im Netzgebiet einer Ortsnetzstation 27 Aufdachanlagen, die an besonders sonnenreichen Tagen mit 190 Kilowatt/ Peak mehr Strom in das übergeordnete Mittelspannungsnetz einkoppeln, als die 188 Wohneinheiten verbrauchen können. Es musste also eine intelligente Lösung gefunden werden. Die enm-Mitarbeiter kamen hier schnell zu dem Ergebnis, dass die Errichtung einer regelbaren Ortsnetztransformatorstation allein nicht ausreicht (Bild 2). Vielmehr müsste die Verstellung der Spannungsstufen automatisiert anhand der Spannungen an den Netzanschlussstellen oder den schlechtesten Punkten erfolgen. Zudem erweist sich die Ausstattung des kompletten Niederspannungsnetzes mit Messtechnik aktuell noch als unwirtschaftlich. Deshalb suchte das enm-Team nach einer Weitbereichsregelung sowie einem digitalen Zwilling des Assets in Kadenbach. Ziel ist, ein digitales und somit rechenbares knotenscharfes Abbild des Niederspannungsnetzes zu erhalten, ohne flächendeckend Messtechnik installieren zu müssen. Ein Rechenalgorithmus soll die fehlende Messtechnik mit Daten ergänzen (Bild 3). Mit dem Energy Control Interface (ECI) von Phoenix Contact sind die Anforderungen der Energienetze Mittelrhein nun in einem Smart-Grid-Projekt mit weiteren Herstellern umgesetzt worden. Bei ECI geht es um ein Aufbereitungssystem für Messwerte, das auf der SmartRTU-Plattform basiert und platzsparend in das Niederspannungsgerüst oder den Kabelverteiler eingebaut werden kann. Die Lösung, die den Abmessungen einer Bild 1: Photovoltaikanlagen leisten einen erheblichen Beitrag zur Stromversorgung in Deutschland. © Phoenix Contact Bild 2: In der begehbaren Ortnetzstation sind der regelbare Ortsnetztransformator sowie die SmartRTU-Zentrale des PSIngo- Systems installiert. © Phoenix Contact Bild 3: Im Inneren der Ortsnetzstation ist der Platz begrenzt. © Phoenix Contact 6 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie üblichen Sicherungsschaltleiste entspricht, wird auf der Sammelschiene montiert (Bild 4). ECI sammelt die Werte der Messsensoren der intelligenten Sicherungsleisten PLPlano des Herstellers Jean Müller GmbH ein, bereitet sie auf und leitet sie dann über das Fernwirkprotokoll IEC 60870-5-104 an die Ortsnetzstation weiter. Zur Übertragung des Kommunikationsprotokolls werden hier Powerline-Module von Eichhoff eingesetzt. Stromversorgung und Absicherungen sind ebenfalls im ECI untergebracht. Die Hardwarelösung zur Digitalisierung von Niederspannungsabgängen lässt sich folglich per Plug-and-Play installieren. Kann die Parametrierung der SmartRTU nicht vor Ort stattfinden, ist dies auch per Offline-Tool oder aus der Ferne via HTTPS- Fernzugriff möglich (Bild 5). Verstellung der Spannungsstufen automatisiert Die Messsensoren sind in zwei Kabelverteilerschränken in den Sicherungsschaltleisten PLPlano verbaut und per Modbus-RTU- Protokoll über eine USB-Leitung an ECI angebunden. Pro Niederspannungsabgang erfolgt dreiphasig die Messung der aufgeführten Werte: Strom, Spannung (L-L, L-N), Leistungs- und Wirkleistungsfaktor, Blind- und Scheinleistung sowie Blind- und Wirkarbeit. Alle Messwerte werden an die Smart-Grid-Plattform Intelligent Grid Operator (PSIngo) des Softwareherstellers PSI Gridconnect GmbH weitergeleitet. Die Berechnung wird lokal vor Ort ausgeführt. Somit läuft die Weitbereichsregelung autark. Gleichzeitig werden die Messwerte in die Cloud übertragen und auch dort ausgewertet sowie anschließend abgespeichert, um die Netztransparenz zu erhöhen. Lassen sich Netzknotenpunkte nicht direkt messen, berechnet sie PSIngo. Auf diese Weise sind die Netzzustände in Kadenbach für die Netzführung transparent sichtbar. Der Stellwert zur Anpassung der Stufenstellung des regelbaren Ortsnetztransformators wird von PSIngo nach Auswertung aller Spannungen, Ströme und Leistungen im Netz ermittelt und in der SmartRTU umgesetzt. Kommt es zur Überschreitung eines Grenzwerts, sendet das System Benachrichtigungen an die zuständigen enm-Mitarbeiter, die bei Bedarf manuell eingreifen können. Im Normalfall funktioniert die Verstellung der Spannungsstufen völlig automatisch. „Die SmartRTU bietet uns die Möglichkeit, sowohl klassische Fernwirktechnik ebenso wie den Algorithmus zur Steuerung der regelbaren Ortsnetztransformatorstation zu realisieren. Das sorgt für eine innovative Digitalisierung des Stromnetzes und eine hohe Verfügbarkeit der Automatisierungskomponenten“, so Christoph Baumeister, Projektleiter bei SPIE, dem führenden Multitechnik-Dienstleister für Gebäude, Anlagen und Infrastruktur. „Für uns als Smart-Grid-Systemintegrator ist es immer wieder spannend, die neusten Entwicklungen verschiedener Hersteller in den unterschiedlichen Netzstrukturen zu einem Gesamtsystem zusammenzuführen.“ Beschleunigung der Fehlerbehebung „Mit smarten Lösungen wie der in Kadenbach installierten regelbaren Ortsnetztransformatorstation mit Weitbereichsregelung lassen sich die Herausforderungen derfortschreitenden Energiewende meistern“, erklärt Dr. Andreas Hoffknecht, Geschäftsführer der Energienetze Mittelrhein. „Durch den vollautomatischen Ausgleich Egal wo auf der Welt wir leben: Der Klimawandel trifft uns in mehr oder weniger ausgeprägter Form - Dürre, Hitze, Überschwemmungen, Stürme … Trotzdem möchten alle einen hohen, meist auf Energie basierenden Lebensstandard erreichen oder halten. Technik ist hier ein entscheidender Weg, um den Energiebedarf der Menschheit im 21. Jahrhundert nachhaltig und klimaneutral zu decken. Denn allein auf Basis der Sonne steht in der All Electric Society elektrischer Strom als zentraler Energieträger nahezu unbegrenzt zur Verfügung. Phoenix Contact sieht sich deshalb als Impulsgeber, der gemeinsam mit anderen Akteuren innovative Lösungen für die aktuellen Herausforderungen entwickelt und vorantreibt. Ein gutes Beispiel stellt die regelbare Ortsnetztransformatorstation mit Weitbereichsregelung der Energienetze Mittelrhein dar. Das Engagement der Bevölkerung in puncto Photovoltaikanlagen und Elektromobilität soll nicht mit einer Verschlechterung der Spannungsqualität und damit der Akzeptanz neuer Energie- und Mobilitätsformen einhergehen. Mehr Informationen: www.phoenixcontact.de/ energie TECHNIK ALS ENABLER DER KLIMANEUTRALEN ENERGIEVERSORGUNG Bild 4: SmartRTU fungiert als Kleinfernwirksystem zur Anbindung an die Cloud-basierte Smart-Grid-Plattform Intelligent Grid Operator (PSIngo). © Phoenix Contact Bild 5: Christoph Baumeister von SPIE führt den letzten Feinschliff bei der Aufbereitung der Messwertdaten durch. © Phoenix Contact 7 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie von Spannungsschwankungen ist die zuverlässige Versorgung der Bevölkerung mit Energie auch in Zukunft sichergestellt.“ Dazu trägt ebenfalls bei, dass sich mit der neuen Technik Fehler im Fall einer Störung schneller beheben lassen. Insbesondere die enge Zusammenarbeit der Partner im Kontext neuer Technologien hat zu einer erfolgreichen Projektumsetzung geführt (Bild 6). Denn neben ECI ist auch PSIngo ein neues Produkt auf dem Smart- Grid-Markt. Die Lösung in Kadenbach verdeutlicht, dass sich ein intelligentes Softwarekonzept ohne passende Mess- und Übertragungstechnik sowie professionelle Projekt- und Montageausführung nicht zielführend realisieren lässt. Im weiteren Rollout entsprechender Ansätze Bild 6: Das Projektteam vor einem nun digitalen Kabelverteiler: Unten links Fabian Palm (Asset Manager enm), unten rechts Christoph Baumeister (Projektleiter SPIE), oben von links nach rechts Michael Löh (Leiter Elektronik Jean Müller), Timo Beuth ( Vertrieb Schutz- und Leittechnik Phoenix Contact), Julian Kemper (Projektleiter, PSI GridConnect) und Stefan Kämpfer ( Vertrieb Schutz- und Leittechnik Phoenix Contact). © Phoenix Contact WISSEN WAS MORGEN BEWEGT Schiene, Straße, Luft und Wasser, globale Verbindungen und urbane Mobilität: Viermal im Jahr bringt Internationales Verkehrswesen fundierte Experten-Beiträge zu Hintergründen, Entwicklungen und Perspektiven der gesamten Verkehrsbranche - verkehrsträgerübergreifend und zukunftsorientiert. Ergänzt werden die deutschen Ausgaben durch englischsprachige Specials mit dem Titel International Transportation. Mehr dazu im Web unter www.internationales-verkehrswesen.de Internationales Verkehrswesen gehört seit 1949 zu den führenden europäischen Verkehrsfachzeitschriften. Der wissenschaftliche Herausgeberkreis und ein Beirat aus Professoren, Vorständen, Geschäftsführern und Managern der ganzen Verkehrsbranche verankern das Magazin gleichermaßen in Wissenschaft und Praxis. Das technisch-wissenschaftliche Fachmagazin ist zudem Wissens-Partner des VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld. INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN - DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN »Internationales Verkehrswesen« erscheint bei der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach, www.trialog-publishers.de Timo Beuth Industry Management and Automation - Energy Phoenix Contact Deutschland GmbH Kontakt: info@phoenixcontact.de AUTOR geraten die Sekundärkosten solcher Systeme zunehmend in den Fokus. Abgesehen von der einfachen Vor-Ort-Installation der Messtechnik erweist sich ein zentrales, automatisiertes Patch- und Devicemanagement mit Passwortverwaltung zur Administrierung der digitalen Systeme daher ebenfalls als wichtig. PSI GridConnect und Phoenix Contact arbeiten an einer herstellerübergreifenden Lösung, um den Anforderungen der All Electric Society gerecht zu werden.
