Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2020-0077
124
2020
54
Städtische (Un-)Ordnung und urban takeover
124
2020
Susanne Heeg
Vermehrte Investitionen in Immobilien im städtischen Raum tragen gegenwärtig dazu bei, dass bezahlbarer Wohnraum nicht nur in Innenstädten sondern auch in Randlagen knapp wird. Bislang ungenutzte Flächen, selbst immobilienwirtschaftlich unattraktive Gebiete geraten inzwischen zunehmens ins Visier von Investoren. Die sozialen Folgen sind immens: Städte werden zu Refugien einkommensstarker Bevölkerungsgruppen, Kleinverdiener werden verdrängt. Freiräume, in denen gesellschaftliche Entwicklung sowie politische, soziale und wirtschaftliche Innovationen stattfinden können, verschwinden.
tc540026
26 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtische Ressourcen Nach Saskia Sassen sind wir Zeitzeug*innen eines Umbruchs in der sozialen Textur und Räumlichkeit von Städten aufgrund von umfangreichen Luxusinvestitionen [1]. Ihr Argument ist, dass diese Investitionen in die gebaute Umwelt mit Ansprüchen verbunden sind, die zur Herausbildung von exklusiven Räumen beitragen. Eine Folge besteht darin, dass jene ausgrenzt werden, die Städte in der Geschichte immer wieder zu interessanten, vielfältigen und dynamischen Orten gemacht haben. Saskia Sassen zufolge gilt diese Entwicklung insbesondere für Städte, die wichtige Wirtschaftsstandorte sind und deshalb Investments und Menschen anziehen. In der Tat lässt sich seit der Finanzkrise ein lebhaftes Interesse von Immobilieninvestor*innen an öffentlichen Räumen und Plätzen in europäischen Städtische (Un-)Ordnung und urban takeover Stadtentwicklung, Innenstädte, Stadtraum, Immobilien, Investoren, Gentrifikation Susanne Heeg Vermehrte Investitionen in Immobilien im städtischen Raum tragen gegenwärtig dazu bei, dass bezahlbarer Wohnraum nicht nur in Innenstädten sondern auch in Randlagen knapp wird. Bislang ungenutzte Flächen, selbst immobilienwirtschaftlich unattraktive Gebiete geraten inzwischen zunehmens ins Visier von Investoren. Die sozialen Folgen sind immens: Städte werden zu Refugien einkommensstarker Bevölkerungsgruppen, Kleinverdiener werden verdrängt. Freiräume, in denen gesellschaftliche Entwicklung sowie politische, soziale und wirtschaftliche Innovationen stattfinden können, verschwinden. Bild 1: Maintor in Frankfurt am Main. © S. Heeg 27 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtische Ressourcen Großstädten feststellen. Das Interesse gilt dabei aber weniger dem Erhalt einer vielfältigen Stadt als vielmehr der Suche nach vermarktbaren Räumen und Investitionsobjekten. Spätestens seit 2010 entstehen an vielen Ecken und Enden von Städten wie London, Paris, Barcelona, Frankfurt, Hamburg, Berlin etc. gehobene Wohnprojekte - aber auch einzelne Büroobjekte (vgl. Bild 1). Diese Bauvorhaben sind nicht mehr wie in der Vergangenheit überwiegend in den Innenstädten vorzufinden, sondern drängen auch in immobilienwirtschaftlich bislang vernachlässigte Lagen am Rande bzw. außerhalb der Innenstädte. Damit tragen sie dazu bei, dass in diesen Lagen günstiger Wohnraum verloren geht. Es stellt sich dann aber die Frage, was mit den in Corona-Zeiten als systemrelevant bezeichneten Fachkräften wie Kassierer*innen, Polizist*innen, Krankenpfleger*innen und anderen passiert, die in der Regel trotz aller Unterschiede ein Umstand einigt: Viele können mit ihren Einkommen kaum noch die immer weiter steigenden Mieten finanzieren. Bevor es allerdings in den folgenden Ausführungen um die sozialen und räumlichen Effekte der Luxusinvestitionen gehen soll, soll kurz der Umbruch in Städten erläutert werden, der dazu führte, dass Großstädte zum Fokus nationaler und internationaler Investor*innen werden konnten. Im darauffolgenden Abschnitt soll geklärt werden, welche Umstände es rechtfertigen, von einem Umbruch in der Stadtentwicklung zu reden, in der unsere Städte - und unser Denken über Städte - auf den Kopf gestellt werden. Abschließend sollen die sozialen Folgen thematisiert werden. Städtische Häutungen Städte sind schon immer Orte, wo eine Vielzahl von Menschen, Aktivitäten und Interessen zusammentrifft. Dieses Zusammentreffen stärkt Städte als Motor und Arena neuer Ideen, Visionen und ungeahnter Dynamiken, die nicht nur wirtschaftliche Ausrichtungen annehmen, sondern auch politische, soziale und kulturelle Neuerungen umfassen. So unterschiedliche Autor*innen wie Max Weber [2], Henri Lefèvbre [3], Jane Jacobs [4] oder Georg Simmel [5] haben darauf hingewiesen, dass Städte Orte sind, an und in denen gesellschaftliche Entwicklungen verhandelt werden, Möglichkeiten der Kommunikation und der Verständigung entstehen und sich politische, soziale und wirtschaftliche Innovationen durchsetzen. Insbesondere die öffentlichen und halb-öffentlichen Räume in Städten sind demnach ein Saatbeet für gesellschaftliche Auseinandersetzungen, aber auch ein Spiegel für die soziale und wirtschaftliche Verfasstheit von Gesellschaften. Diese Besonderheit gilt, seitdem Städte gegründet worden sind, aber der Anspruch im Folgenden ist nicht, die ganze Stadtgeschichte zu erfassen, sondern vielmehr die Phase in den Fokus zu nehmen, die sich seit der Deindustrialisierung der europäischen Städte seit den 1970er Jahren durchgesetzt hat und die David Harvey [6] in einem vielzitierten Artikel als „unternehmerische Stadt“ bezeichnet hat. Dieser Begriff und das damit verbundene Verständnis von Stadtentwicklung ist später von weiteren Autor*innen unter dem Begriff der neoliberalen Stadt präzisiert und aktualisiert worden [7, 8, 9]. Allerdings sollte man sich von der Idee verabschieden, dass wir gegenwärtig eine Fortführung bestehender Entwicklungen erleben. Das Argument ist vielmehr, dass sich dieser an unternehmerischen Interessen ausgerichtete Umbau in Städten verschärft. In einer Pervertierung und Intensivierung bestehender Entwicklungstendenzen kristallisiert sich eine neue urbane (Un-)Ordnung heraus, die in einer Gestaltungsmacht einkommensstarker Bevölkerungsgruppen in zentralen öffentlichen Räumen besteht. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, was die Qualitäten dieses Umbaus sind und welche Auswirkungen sie auf öffentliche Räume und soziale Strukturen haben. Neoliberalisierung des Städtischen Seit der Deindustrialisierung in den 1970er und 1980er Jahren richtet sich Stadtentwicklung und -politik an der oberen Mittelschicht aus. Viele Städte wurden seitdem zu Orten des Konsums und der Dienstleistungen umgebaut, um eine günstige Position im Wettbewerb um Kontroll- und Kommandofunktionen sowie um einkommensstarke Haushalte zu erhalten [10]. Im Zuge dessen wurde auf Bauprojekte gesetzt, die die Mittelschicht bewegen sollte, nach Jahren der Abwanderung in das suburbane Umland wieder in die Stadt zu ziehen. Tatsächlich erfreuten sich Städte als Standorte für vorrangig tertiäre Wirtschaftsfunktionen und als Orte, die Wohn- und Konsumbedürfnisse der Mittelschicht bedienten, spätestens im neuen Jahrtausend eines verstärkten Interesses. Seitdem wird unter dem Schlagwort „Reurbanisierung“ das Phänomen des gestiegenen Interesses an Städten als Wohnort diskutiert [11, 12]. Diese Veränderung ging damit einher, privatwirtschaftlichen Akteur*innen einen größeren Spielraum zu gewähren. Der soziale Wohnungsbau wurde massiv reduziert, öffentlicher Wohnungsbau privatisiert und zugleich wurden öffentliche Grundstücke an private Investor*innen vergeben. Manuel Aalbers betont den sozialen Aspekt, wenn er hervorhebt: 28 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtische Ressourcen „European revanchism makes the city safe for corporate investment and aims to restore social order as well as stimulating the development of a strong middle class.” [13]. Politische Strategien, die die Städte wieder für die Mittelschicht „zurückerobern” wollten, wurden aber nicht nur von Projektentwickler*innen und Investor*innen vorangetrieben, sondern auch von städtischen Verantwortlichen und Käufer*innen befördert. Diesen Entwicklungen liegt eine Stigmatisierung von Teilräumen zugrunde, die mit einer Dämonisierung von armen Nachbarschaften verbunden ist. Neue (Un-)Ordnung oder „more of the same“? Strategien der städtischen Regeneration als eine Form der räumlichen Restrukturierung von Stadtteilen bzw. Teilräumen, die von Vernachlässigung und Desinvestment geprägt sind, ist inzwischen ein geläufiges Thema [vgl. 14, 15, 16]. Seit der Finanzkrise lässt sich eine Intensivierung dieser Entwicklung erkennen, die zu einer anderen Stadt führt. Gegenwärtig sind Städte Zielorte internationaler und nationaler Investments, die die selektive und ausgrenzende Tendenz früherer Jahre verstärken. Zwar weisen sie Ähnlichkeiten mit vorherigen Strategien auf, aber durch die Summe der Investments nimmt das Stadtbild und der Stadtraum neue Qualitäten an. Dies ist ein Ergebnis der Privatisierung öffentlicher Flächen und Wohnungsunternehmen, so dass Räume verloren gingen, die offen in der Aneignung und Nutzung waren und damit dem Druck zum Konsum entgegenwirkten. So gab es noch bis zu diesem Jahrtausend städtische Teilräume, die wegen des Fehlens ertragreicher Aussichten marktfernen Nutzungen offen standen. In nicht wenigen dieser Teilräume wurden künstlerische und politische Zwischennutzungen zugelassen, die den Stadtraum spannender, interessanter und attraktiver gemacht haben. Inzwischen sind sie als Ergebnis intensiver Nutzung - und ihrer zunehmenden Bekanntheit als aufregende Orte - in den Fokus von Investoren gerutscht, die die gebaute Umwelt als scheinbar sicheren Hafen in global unruhigen Zeiten nutzen. Aufwertungen verselbständigen sich im Zuge dessen. Auch bislang schwierige Flächen entlang von Bahnstrecken, verkehrsreichen Straßen und in nicht unbedingt gut beleumundeten Stadtteilen werden inzwischen bebaut, aber nicht mit günstigem, sondern mit sehr teurem Wohnraum. Die schlechtere Lage, Anbindung und infrastrukturelle Ausstattung würden vermuten lassen, dass sich das Investmentinteresse in Grenzen hält, aber es ist zu erkennen, dass der Mangel an Wohnraum dazu führt, dass auch schwierige Lagen akzeptiert werden. Nahezu jede vermarktbare Fläche wird gegenwärtig genutzt, um Wohninvestments zu realisieren oder mit der Fläche zu spekulieren. Mit der Bebauung und dem Bezug von neuen Lagen ergeben sich nicht selten Konflikte um die Nutzung des öffentlichen Raums zwischen alten und neuen Nutzern. Um dem vorzubeugen, werden im öffentlichen Raum Maßnahmen realisiert, die bestimmte Nutzungen erschweren. So werden Bodenwellen oder Begrenzungen in Freiflächen eingefügt, um Fußball- und andere Spiele unattraktiv zu machen und größere Zusammenkünfte zu unterbinden. In neuen Großprojekten werden häufig Wegesituationen geschaffen, die ein Durchgehen nicht nahelegen bzw. sogar entmutigen (vgl. Bild 2). Insgesamt entwickeln sich Räume, in denen die Chancen zufälliger Begegnungen reduziert werden, auch weil räumliche Situationen geschaffen werden, die dazu beitragen, dass sich dort in der Tendenz kaum noch jemand aufhält, der oder die dort kein direktes Anliegen hat. Für die Bewohner*innen mag dies eine angenehme Wohnsituation schaffen, allerdings kommt es so zu einem Isolieren von sozialen Gruppen. Das Treffen auf Andere bzw. der Kontakt Bild 2: Europaviertel in Frankfurt am Main. © S. Heeg 29 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtische Ressourcen mit Ungewohntem wird minimiert. Es lässt sich mit einem gewissen Zynismus argumentieren, dass die Miet- und Kaufpreise in den neuen Projekten automatisch mit einer sozialen Selektivität einhergeht, und ein verändertes Verhalten in öffentlichen Räumen nach sich zieht. Dies trifft aber nicht ganz zu und lässt sich daran erkennen, dass in neu entwickelten Lagen Hausmeister-, Concierge- und Sicherheitsservice dafür sorgen, dass keine konfliktiven Situationen entstehen. Öffentlicher Raum wird rund um Gebäude - und mit einer Tendenz den Straßenraum einzubeziehen - kontrolliert. Dadurch gehen offene Räume verloren, die allgemeine Aufenthaltsqualitäten für viele hatten. Soziale Konsequenzen Es ist naheliegend, dass Haushalte mit niedrigem Einkommen tendenziell ausgeschlossen werden. Diese haben eine immer wiederkehrende soziale Textur: Es sind häufig Migrant*innen, Alleinerziehende, Rentner*innen, Menschen ohne existenzsichernde Arbeit und weitere. Für diese Menschen besteht ein Druck, vor der Aufwertung in verbleibende städtische „Residualräume“ auszuweichen. Bislang betraf die Aufwertung vor allem innerstädtische Räume und inzwischen sind auch die angrenzenden Gebiete betroffen. Es ist zu vermuten, dass Räume, wenn die Aufwertungsentwicklung ungebremst weitergeht, auch zum städtischen Rand hin aufgewertet werden. Noch in den 1990er Jahren wurde Gentrifikation als eine Form der inselhaften Aufwertung in Städten verstanden. Inzwischen haben nicht oder noch nicht aufgewertete Räume fast einen Ausnahmestatus im städtischen Gewebe: die Räume, die offen in der Nutzung oder extensiv genutzt werden, werden weniger. Damit nimmt aber auch die Möglichkeit ab, Differenz zu erleben und Andersartigkeit als veränderliches Phänomen in Städten zu akzeptieren. Denn es geht nicht nur um Andersartigkeit als eine fest umrissene Kategorie, sondern um städtische Räume als Ausgangspunkt einer Verhandlung von Abweichung und der stetigen Veränderung von Wahrnehmungen. Damit sind Städte Orte, an denen ein Verständnis der Gesellschaft hergestellt und verändert wird. Das offene und dynamische Verständnis wird durch die Aufwertungstendenzen jedoch bedroht. LITERATUR [1] Sassen, S.: Who owns our cities - and why this urban takeover should concern us all, 2015. In: The Guardian, 24.11.2015. Online verfügbar unter www.theguardian.com/ cities/ 2015/ nov/ 24/ who-owns-our-citiesand-why-this-urban-takeover-should-concern-us-all, zuletzt geprüft am 30.12.2016. [2] Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen, 1972. J.C.B. Mohr. [3] Lefèbvre, H.: Die Produktion des städtischen Raums. In: AnArchitektur 01 (2002). [4] Jacobs, J.: The death and life of great American cities. Vintage Books ed. New York, 1992. [5] Simmel, G.: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Petermann, Th. (Hrsg.): Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Dresden: Suhrkamp ( Jahrbuch der Gehe-Stiftung, 9), (1903) S. 185 - 206. [6] Harvey, D.: From Managerialism to Entrepreneurialism: The Transformation in Urban Governance in Late Capitalism. In: Geographiska Annaler 71 (1), (1989) p. 3 - 17. [7] Peck, J., Theodore, N., Brenner, N.: Neoliberal urbanism: Models, moments, mutations. In: SAIS Review 29 (1), (2009) S. 49 - 66. [8] Belina, B., Heeg, S., Pütz, R., Vogelpohl, A.: Neuordnung des Städtischen im neoliberalen Zeitalter - Zur Einleitung. In: Geographische Zeitschrift 101 (3+4), (2013) S. 125 - 131, zuletzt geprüft am 17.08.2014. [9] Ong, A.: Neoliberalism as a mobile technology. In: Transactions of the Institute of British Geographers 32 (3), (2007) p. 3 - 8. [10] Heeg, S.: Building for Urban Success? Project Development and Social Exclusivity in Germany Frankfurt/ Main as a Case Study. In: Lehavi, A.: Private Communities and Urban Governance. Theoretical and Comparative Perspectives. (2016) p. 151 - 164. [11] Siedentop, S.: Die Rückkehr der Städte? Zur Plausibilität der Reurbanisierungshypothese. In: Informationen zur Raumentwicklung (3/ 4), (2008) S. 193 - 210, zuletzt geprüft am 30.12.2014. [12] Brake, K., Herfert, G. (Hrsg.): Reurbanisierung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2012. [13] Aalbers, M.- B.: The revanchist renewal of yesterday ’s City of Tomorrow. In: Antipode, 43 (5), (2011) p. 1696 - 1724. [14] Porter, L., Shaw, K. (Hg.): Whose Urban Renaissance? An International Comparison of Urban Regeneration Strategy. An International Comparison of Urban Regeneration Strategie. New York: Routledge, 2009. [15] Frank, S.: Mittelschichtfamilien als Adressaten und Motoren der Stadt- und Quartiersentwicklung. In: Informationen zur Raumentwicklung (4), (2014) S.-361 - 371, zuletzt geprüft am 11.01.2015. [16] Gray, N., Porter, L.: By Any Means Necessary: Urban Regeneration and the “State of Exception” in Glasgow ‘s Commonwealth Games 2014. In: Antipode, (2015) p. 380 - 400. AUTORIN Prof. Dr. Susanne Heeg Goethe Universität Institut für Humangeographie Fachbereich Geowissenschaften/ Geographie Kontakt: heeg@geo.uni-frankfurt.de
