Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2020-0087
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40 Tonnen Tomaten von der Kläranlage
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Martin Schulwitz
Mario Reimer
Ann-Kristin Steines
In Zeiten des Klimawandels und zunehmender Urbanisierung bei gleichzeitiger Ressourcenverknappung unterliegt die Nahrungsmittelversorgung der global wachsenden Bevölkerung vielfältigen Herausforderungen. Wie kann die Bevölkerung möglichst umwelt- und ressourcenschonend mit nachhaltig produzierten Lebensmitteln versorgt werden? Diese Frage versucht das Forschungs- und Demonstrationsprojekt „SUSKULT“ mit einem auf häuslichem Abwasser basierenden Anbaukonzept für Kulturpflanzen zu beantworten.
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78 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtische Ressourcen Die Herausforderungen einer nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion und der Ressourcenrückgewinnung Um knapper werdende Ressourcen und Nutzflächen einsparen und die erhöhte Lebensmittelnachfrage der wachsenden Bevölkerung decken zu können, gilt es die Landwirtschaft und entsprechende Anbaumethoden weiterzuentwickeln [1, 2]. Dabei stellt sich die Frage, wie eine landwirtschaftliche Ertragsersteigerung bei begrenzten Ressourcen erreicht werden kann. Dieser Frage widmet sich auch das Wissenschaftsjahr 2020/ 21 - Bioökonomie. Ziel ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Innovationen zu vereinen, um Lösungsan- 40 Tonnen Tomaten von der Kläranlage Das Agrarsystem der Zukunft kommt ganz ohne Erde aus und nutzt im Sinne der Kreislaufwirtschaft die Nährstoffe aus häuslichem Abwasser Kreislaufwirtschaft, Siedlungswasserwirtschaft, urbane Landwirtschaft, Ressourcenrückgewinnung, Szenariotechnik Martin Schulwitz, Mario Reimer, Ann-Kristin Steines In Zeiten des Klimawandels und zunehmender Urbanisierung bei gleichzeitiger Ressourcenverknappung unterliegt die Nahrungsmittelversorgung der global wachsenden Bevölkerung vielfältigen Herausforderungen. Wie kann die Bevölkerung möglichst umwelt- und ressourcenschonend mit nachhaltig produzierten Lebensmitteln versorgt werden? Diese Frage versucht das Forschungs- und Demonstrationsprojekt „SUSKULT“ mit einem auf häuslichem Abwasser basierenden Anbaukonzept für Kulturpflanzen zu beantworten. THEMA Städtische Ressourcen © Schulwitz et al., 79 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtische Ressourcen sätze für eine schonende Ressourcennutzung und nachhaltige Erzeugung, Verarbeitung und Nutzung von Produkten bei gleichzeitiger Sicherung des Lebensstandards zu finden [3]. Das Bundeskabinett beschloss im Jahr 2017 die Novelle der Klärschlammverordnung, um den Zielen des nachhaltigen Umwelt- und Ressourcenschutzes verstärkt gerecht zu werden. Die Neuordnung der Klärschlammverwertung erlaubt demnach ab dem Jahr 2029 nur noch einen begrenzten Einsatz von Klärschlamm als Dünger in der Landwirtschaft. Zudem sollen laut der Neufassung wertgebende Klärschlammbestandteile wie Phosphor verstärkt zurückzugewonnen und in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführt werden [4]. Deshalb müssen neue Lösungen zum Nährstoffrecycling gefunden werden. Das BMBF-Verbundprojekt „SUSKULT - Entwicklung eines nachhaltigen Kultivierungssystems für Nahrungsmittel resilienter Metropolregionen“ erprobt einen innovativen Ansatz zur Kombination von Nährstoffrecycling aus Abwasser mit urbaner Landwirtschaft. Die SUSKULT-Vision aus Sicht der Stadtforschung In dem Projekt SUSKULT arbeiten bis 2022 15- Verbundpartner aus Wissenschaft und Praxis an der Entwicklung eines hydroponischen (wasserbasierten) Agrarsystems zum Nährstoffrecycling aus häuslichem Abwasser. Aus dem Abwasser werden die für die Kultivierung benötigten Nährstoffe Kohlenstoffdioxid, Phosphor, Kalium und Stickstoff in reiner Form über ein neuartiges Membranfiltersystem extrahiert und in einer Nährstofflösung angereichert (Flüssigdünger). Die Wurzeln der angebauten Kulturpflanzen befinden sich dauerhaft in der Nährstofflösung und können die Nährstoffe so direkt aufnehmen. Überschüssige Nährstoffe werden dem Kreislauf wieder zugeführt und gehen nicht verloren [5]. Die optimalen Wachstumsbedingungen werden nicht nur durch die Nährstofflösung, sondern auch durch eine gezielte Lichtsteuerung mit einer speziellen LED-Technik sowie ein konstantes Raumklima in den Gewächshäusern generiert (siehe Bild 1). Somit können längere Vegetationsperioden erreicht und folglich ein höherer Jahresertrag erzielt werden. Die kontrollierbaren Umweltbedingungen erlauben zudem einen vertikalen Pflanzenanbau, wodurch die Flächeneffizienz erhöht wird [6]. Durch das Siedlungswachstum liegen Kläranlagen zudem meist nicht mehr in peripheren Lagen am Stadtrand, sondern sind vor allem in metropolitanen Räumen oftmals an Siedlungsbereiche angeschlossen oder in diese integriert, wodurch Lieferwege eingespart werden können. Der Vertrieb der erzeugten Nahrungsmittel kann so überwiegend vor Ort oder im umliegenden Lebensmitteleinzelhandel stattfinden. Gleichzeitig folgt der Ansatz dem Trend zu einer stärkeren Regionalität der Lebensmittelproduktion [7] und kann durch den lokalen Bezug eine stärkere Auseinandersetzung und Identifikation der Verbraucher mit den produzierten Lebensmitteln fördern. Eine wesentliche Innovation der SUSKULT-Vision liegt in der Zielsetzung, dass die Kläranlagen der Zukunft nicht mehr ausschließlich als Orte der Abwasserbehandlung wahrgenommen werden. Bis zum Jahr 2050 sollen sie sich als sogenannte „NEWtrient ® -Center“ zu Zentren der Nährstoffrückgewinnung entwickeln und in der Gesellschaft eher als „Marktplätze für Nährstoffe“ wahrgenommen werden. Dazu ist eine generell höhere gesellschaftliche Akzeptanz für die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft erforderlich. Dieser Herausforderung wird im Projekt über einen integrativen Ansatz mit breiter Einbindung unterschiedlicher Akteure sowie partizipativen Elementen begegnet. Die Verbraucher sind damit künftig nicht nur Konsumenten, sondern über die häuslichen Abwässer gleichzeitig auch Bestandteil des Nahrungsmittelproduktionsprozesses - sie werden daher als „Prosumenten“ betrachtet. Im Rahmen des Projektes erfolgt die beispielhafte Umsetzung über eine Demonstrationsanlage auf dem Gelände des Klärwerks Emschermündung an der Stadtgrenze zwischen Dinslaken, Oberhausen und Duisburg. Ziel ist es, dort pro Jahr bis zu 40 Tonnen Gemüse zu produzieren. Bild 1: Automatisierte Steuerung der Umweltbedingungen und der Nährstofflösung im vertikalen Pflanzenbau (rechts) in einer SUSKULT- Versuchsanlage. © Schulwitz et al., 2019 80 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtische Ressourcen Szenariostudien als methodischer Zugang In SUSKULT beschränkt sich die Forschung nicht nur auf die Entwicklung von abwasser- und agrartechnischen Lösungsmöglichkeiten, vielmehr wird ein integrierender Ansatz verfolgt. Ein Teilbereich des Projektes widmet sich demnach ganz konkret den möglichen Folgen der Umsetzung der SUSKULT-Vision für die Stadtentwicklung und den damit verbundenen Herausforderungen. Im Rahmen einer Szenariostudie, die durch das ILS - Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH durchgeführt wird, sollen die Wirkungsmechanismen zwischen den NEWtrient ® - Centern (Bild 2) und der Stadtentwicklung sowie Handlungsmöglichkeiten zur Umsetzung der SUS- KULT-Vision identifiziert werden. Dazu werden verschiedene Szenarien möglicher Entwicklungen bis zu den Jahren 2035 und 2050 für unterschiedliche Kläranlagenstandorte in der Fallstudienregion Ruhrgebiet erarbeitet. Die qualitativen Szenarien werden in Form kurzer Geschichten (Narrative) anschaulich aufbereitet und sollen so einem breiten Adressatenkreis Impulse für die Diskussion zur langfristigen Umsetzbarkeit der SUSKULT-Vision liefern. Für tiefergehend Interessierte werden die qualitativen Szenarien auch mit quantitativen Modellierungen einzelner Schlüsselfaktoren unterlegt. Als Grundlage für die Szenarienentwicklung wurden zunächst in einem Brainstorming mögliche Einflussfaktoren in einem Online-Fragebogen gesammelt. Aus den insgesamt 90 Nennungen konnten 37- unterschiedliche Einflussfaktoren kategorisiert werden, von denen 22 Faktoren Mehrfachnennungen aufweisen. Wie Bild 3 zeigt, können die Einflussfaktoren entsprechend ihrer Nennungen unterschiedlichen Themenfeldern zugeordnet werden. Es ist zu erkennen, dass die Themenbereiche „Nahrungsmittel (Nachfrage & Produktion)“, „Flächenentwicklung im Ruhrgebiet“ sowie „Umwelt & Klima“ als besonders relevant angesehen werden. Anhand möglicher Entwicklungen der Faktoren können unterschiedliche Szenarien entwickelt und später in anschauliche Narrative überführt werden. Zur Komplexitätsreduzierung für die weiteren Schritte der Szenariostudie ist allerdings eine Beschränkung auf eine Auswahl der Einflussfaktoren notwendig. Dazu wurden durch die beteiligten Stakeholder (unter anderem Wissenschaftler, Vertreter*innen der Abwasserverbände, der Regionalplanung und aus der kommunalen Praxis) jeweils zehn Punkte auf die 22 mehrfach genannten Einflussfaktoren verteilt. Aufgrund der neun höchsten Punktsummen werden folgende Faktoren in die Wirkungsanalyse aufgenommen (in absteigender Reihenfolge der Punktsummen): Ressourcenverfügbarkeit, Qualität der erzeugten Lebensmittel, Bewusstsein für Klima/ Umwelt in der Gesellschaft, Produktionskosten der erzeugten Lebensmittel, Akzeptanz der bzw. Nachfrage nach Produkten der Kreislaufwirtschaft, gesellschaftliche Bedeutung der Ressourcenrückgewinnung, Flächennutzung/ Flächenverfügbarkeit im Ruhrgebiet, städtebauliche Integrierbarkeit der SUSKULT-Anlagen sowie technische Entwicklungen in der Siedlungswasserwirtschaft. Die Auswahl und Bewertung der Einflussfaktoren verdeutlicht, dass die Verbraucherperspektive als wesentlicher Erfolgsfaktor der SUSKULT-Vision wahrgenommen wird (Bewusstsein für Klima/ Umwelt, Qualität der Lebensmittel, Akzeptanz usw.). Aber auch planerische Aspekte wie die Flächen- Bild 2: Schema des NEWtrient ® - Centers der SUSKULT Vision. © Fraunhofer UMSICHT 81 4 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Städtische Ressourcen verfügbarkeit und die städtebauliche Integration werden als bedeutsam für die Umsetzbarkeit der SUSKULT-Vision angesehen. Im nächsten Schritt wird über den paarweisen Vergleich der Einflussfaktoren eine Wirkungsmatrix erstellt, die die Identifikation der Schlüsselfaktoren ermöglicht. Da sich anhand der Entwicklung der Schlüsselfaktoren zentrale Entwicklungspfade eines Szenarios sehr fokussiert ableiten lassen, stellen sie die zentrale Grundlage zur Entwicklung der Rohszenarien dar. Zudem können die Schlüsselfaktoren dazu verwendet werden, als Indikatoren die Identifikation von Meilensteinen oder Handlungsfenstern zu vereinfachen. Die in der Szenariostudie entwickelten Szenarien werden somit einen wichtigen Beitrag zur langfristigen Umsetzung der SUSKULT-Vision leisten. Die Identifikation von Handlungsoptionen und -notwendigkeiten sowie von zentralen Akteuren ist Voraussetzung für die frühzeitige Aufstellung von Umsetzungs- und Entwicklungspfaden. Zudem können die Szenarien eine Diskussion über die Umsetzung der SUSKULT-Vision initiieren, die über die (agrar-)technischen Aspekte hinaus auch die gesellschaftlichen und räumlichen Rahmenbedingungen sowie die Verbraucherperspektive berücksichtigt. Durch diesen multidisziplinären und integrativen Ansatz leistet SUSKULT einen Beitrag zum Transformationsprozess zu einer nachhaltigeren und ressourceneffizienteren Gesellschaft. Anmerkung Das Projekt wird in der Fördermaßnahme „Agrarsysteme der Zukunft“ im Rahmen der „Nationalen Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. LITERATUR [1] Tilman, D., Balzer, C., Hill, J., Befort , B. L.: Global food demand and the sustainable intensification of agriculture, 2011. Online abrufbar unter: www.pnas.org/ cgi/ doi/ 10.1073/ pnas.1116437108 (letzter Aufruf am 15.09.2020). [2] World Bank: Urban Agriculture: Findings from Four City Case Studies. Urban Development Series Knowledge Papers. July 2013, No. 18. [3] BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) 2020: Wissenschaftsjahr 2020/ 21: BioÖkonomie. Online abrufbar unter: https: / / www.wissenschaftsjahr.de/ 2020-21/ das-wissenschaftsjahr/ hintergrund (letzter Aufruf am 15.09.2020). [4] BMU (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Nukleare Sicherheit): Verordnung zur Neuordnung der Klärschlammverwertung, 2017. Online abrufbar unter: https: / / www.bmu.de/ gesetz/ verordnung-zur-neuordnung-der-klaerschlammverwertung/ (letzter Aufruf am 15.09.2020). [5] Richter, S., Kind, S.: Geschlossene hydroponische Agrarsysteme. Themenkurzprofil Nr. 17. TAB Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Berlin, 2017. [6] Kalantari, F., Mohd Tahir, O., Akbari Joni, R., Fatemi, E.: Opportunities and Challanges in Sustainability of Vertical Farming: A Review. Journal of Landscape Ecology, (2017). Online abrufbar unter: 10.1515/ jlecol-2017-0016 (letzter Aufruf am 15.09.2020). [7] Kögl, H., Tietze, J. (Hrsg.): Regionale Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz. Universität Rostock, 2010. Online abrufbar unter: http: / / rosdok.uni-rostock.de/ file/ rosdok _derivate_000000004324/ FB02_10.pdf (letzter Aufruf am 14.08.2020). 31% 18% 17% 9% 8% 7% 6% 4% Martin Schulwitz, M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter ILS - Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH Kontakt: martin.schulwitz@ils-forschung.de Dr. Mario Reimer Stellv. Forschungsgruppenleiter „Raumbezogene Planung und Städtebau“ ILS - Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH Kontakt: mario.reimer@ils-forschung.de Ann-Kristin Steines Studentische Hilfskraft ILS - Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH Kontakt: ann-kristin.steines@ils-forschung.de AUTOR*INNEN Bild 3: Themenfelder der Einflussfaktoren nach Nennungen. © Schulwitz et al. (n = 90) Nahrungsmittel (Nachfrage & Produktion) Flächenentwicklung Ruhrgebiet Umwelt & Klima Abwasseraufkommen/ -behandlung Image & Akzeptanz Kreislaufwirtschaft Politische/ Planerische Programme Bevölkerungsentwicklung Sonstiges
