eJournals Transforming cities 6/1

Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2021-0003
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Mit Mut und Weitsicht aus der Krise

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Farid Fambar
Die Corona-Pandemie beeinflusst seit ihrem Ausbruch weltweit alle Branchen – die meisten davon negativ. Auch der öffentliche Personennahverkehr ist betroffen und hat einen großen Rückgang der Fahrgastzahlen hinnehmen müssen. Anfang Januar 2021 stand sogar kurzzeitig der komplette Stillstand für den öffentlichen Verkehr im Raum. Die Idee, den Bus- und Bahnverkehr auszusetzen, wurde letztlich nicht umgesetzt. Ob und wie häufig sich Menschen tatsächlich im Nah- und Fernverkehr anstecken, lässt sich auch schwer nachvollziehen. Trotzdem nutzen seit dem Ausbruch des Virus weniger Personen den ÖPNV.
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6 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Starker Nutzungsrückgang seit Corona-Pandemie Der Rückgang der Fahrgastzahlen lässt sich zum einen auf die Angst vor einer Ansteckung zurückführen. Zum anderen auf die zumindest zu Beginn der Pandemie geäußerten Empfehlungen aus der Politik, den öffentlichen Personennahverkehr zu meiden und auf den Individualverkehr umzusteigen. Hinzu kommen Faktoren wie die Möglichkeit zum Homeoffice oder der Wegfall von Veranstaltungen. Während des sogenannten Lockdowns im Frühjahr 2020 ging die Mobilität in Deutschland dann auch innerhalb einer Woche um 40 % gegenüber dem Vorjahr zurück. Viele Verkehrsbetriebe reagierten da- Mit Mut und Weitsicht aus der Krise Schlüssel zur Steigerung der Fahrgastzahlen im ÖPNV ist Sicherheit Farid Fambar Die Corona-Pandemie beeinflusst seit ihrem Ausbruch weltweit alle Branchen - die meisten davon negativ. Auch der öffentliche Personennahverkehr ist betroffen und hat einen großen Rückgang der Fahrgastzahlen hinnehmen müssen. Anfang Januar 2021 stand sogar kurzzeitig der komplette Stillstand für den öffentlichen Verkehr im Raum. Die Idee, den Bus- und Bahnverkehr auszusetzen, wurde letztlich nicht umgesetzt. Ob und wie häufig sich Menschen tatsächlich im Nah- und Fernverkehr anstecken, lässt sich auch schwer nachvollziehen. Trotzdem nutzen seit dem Ausbruch des Virus weniger Personen den ÖPNV. mals schnell mit einer Reduktion der Fahrpläne. Obwohl zu den unmittelbaren Maßnahmen auch die Einführung einer Maskenpflicht und die Desinfizierung der Fahrzeuge gehörten, verzichtete ein Großteil der Bevölkerung auf die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs. In einer Studie, durchgeführt vom Marktforschungsinstitut nhi2 AG, gaben beispielsweise gerade einmal 30 % der 1 000 von Mitte bis Ende Juni 2020 befragten Personen an, den ÖPNV in ihrer Stadt im gleichen Umfang zu nutzen wie vor der Corona-Krise. Die restlichen 70 % reduzierten die Nutzung: 32 % fuhren nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn es nicht anders ging, 19 % fuhren seltener und ebenfalls 19 % verzichteten sogar komplett auf den ÖPNV. Dabei zeigte sich, dass vor allem Menschen auf alternative Verkehrsmittel setzten, die schon vor der Pandemie mit den Leistungen des ÖPNV-Angebotes ihrer Stadt unzufrieden waren. Für das Nutzungsverhalten des ÖPNV in der Pandemie war also weniger die Nutzungshäufigkeit vor der Krise entscheidend, sondern vielmehr die Zufriedenheit mit dem öffentlichen Nahverkehr vor dem Corona-Ausbruch. Verändertes Fahrgastverhalten zu erwarten Nach dem Frühjahrslockdown wurden die Fahrpläne im Sommer wieder weitgehend auf den Stand vor der Pandemie zurückgeführt - seitdem versucht der ÖPNV die ursprüngliche Anzahl der Fahrgäste wieder zu erreichen. Nach dem ersten Lockdown gab es in vielen Städten wieder gut gefüllte Busse und Bahnen. Millionen Menschen sind jeden Tag auf den ÖPNV angewiesen, um zur Arbeit zu gelangen. In der Branche geht man jedoch davon aus, dass es Spitzen des Fahrgastaufkommens, beispielsweise die Rush Hour, in der Form wie vor der Pandemie in Zukunft so nicht mehr geben wird. Es werden sich eher einzelne Tage herauskristallisieren, an denen die Fahrgastzahlen zu bestimmten Zeiten ansteigen. Hinsichtlich dieser zur erwartenden Entwicklung stehen Verkehrsbetriebe deshalb vor der Herausforderung, nicht nur ihr Tarif- und Ticketsystem neu zu gestalten, sondern auch mit weniger Einnahmen zu wirtschaften. Deshalb ist es auch an der Zeit, dass sich der öffentliche Nahverkehr neu definiert. Es geht nicht länger nur darum, den Kunden von A nach B zu bewegen. Verkehrs- © Achim Scholty auf Pixabay 7 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität halten. Deshalb empfiehlt es sich für Verkehrsbetriebe hinsichtlich der Kundenzufriedenheit, die Anschlusssicherheit zu fokussieren. Fahrgäste, die trotz Verspätung ohne lange Wartezeiten an den Haltestellen ihr Ziel erreichen - auch über Umwege - sind zufrieden. Und selbst dann, wenn sowohl der Fahrplan als auch die Anschlüsse zusammenbrechen, gibt es ein Mittel, die Kundenzufriedenheit nicht vollständig zu verlieren: Information. Muss ein Fahrgast bei seinem Umstieg eine halbe Stunde warten, sollte ihm das zu Beginn dieser halben Stunde mitgeteilt werden. Die Einrichtung und Aufrechterhaltung eines umfassenden Informationssystems stellen für Verkehrsunternehmen auch eine relativ einfache und kostengünstige Möglichkeit zur Steigerung der Kundenzufriedenheit dar, denn dafür ist kein Eingriff in den Betrieb erforderlich. Um Kunden eine schnelle Übersicht zu ermöglichen, empfehlen sich zur Informationsweitergabe Messenger-Dienste. Zukünftige Entwicklungen im Blick Als zweiter Schlüssel zum Sicherheitsgefühl und damit zur Kundenzufriedenheit lässt sich die Sauberkeit nennen. Diese betrifft nicht nur die regelmäßige Reinigung der Fahrzeuge von innen und außen, sondern auch bei Zwischenfällen - zum Beispiel bei umgefallenen Flaschen - sowie an den Haltestellen und Bahnhöfen. Sauberkeit und zusätzliche helle Beleuchtung erhöhen das Sicherheitsgefühl, führen zu mehr Zufriedenheit und erhöhen auch die Loyalität des Kunden. Ebenso zählen ein als fair und angemessen empfundenes Tarifsystem und eine kundenorientierte Netztopographie zu den Schlüsseln zur Zufriedenheit. Wer aus einem zufriedenen Kunden schließlich einen begeisterten machen möchte, sollte außerdem zusätzliche Maßnahmen ergreifen, zum Beispiel an den Haltestellen Shared Bikes, E-Scooter und Ladesäulen zur Verfügung stellen. Die Einbeziehung alternativer Fortbewegungsmittel kann bei Unregelmäßigkeiten die Gäste an ihr Ziel bringen. Allerdings zeigen hier verschiedene Versuche aus den letzten Jahren, dass allein die Verfügbarkeit der Fahrräder oder E-Scooter nicht ausreicht. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe müssen diese Möglichkeiten aktiv anbieten und das bereits dann, wenn es um die Planung der Strecke geht. Das heißt: Der Kunde sollte in der genutzten ÖPNV-App auch die Möglichkeit erhalten, eine Teilstrecke mit dem Fahrrad oder E-Scooter zu planen beziehungsweise bei Verspätungen und Ausfällen sofort umsteigen zu können. Nur Verkehrsbetriebe, die sich auf zukünftige Verhaltens- und Reaktionsmodelle ihrer Kunden einstellen, werden auch nach der Pandemie die Fahrgastzahlen steigern können. Dafür müssen sie jedoch um die Zukunft des Homeoffice in ihrem jeweiligen Tarifgebiet wissen, alternative Verkehrsmittel und die Bereitschaft ihrer Kunden, diese zu nutzen, im Blick behalten sowie Positionen der Politik zur zukünftigen Förderung des ÖPNV nicht außer Acht lassen. Weitere Informationen: www.nhi2.de,-www.oepnvanalyse.de betriebe müssen Wege finden, Begeisterung für die Sache an sich bei ihren Kunden auszulösen - wie zum Beispiel Zalando oder McDonalds es schon länger vormachen. Zufriedenheit steigert Sicherheitsgefühl Unternehmen, die versuchen, allein durch pandemiebezogene Maßnahmen Kunden zurückzugewinnen, schöpfen deshalb nicht ihre vollen Möglichkeiten aus. Ergebnisse der nhi2-Studie zeigen beispielsweise, dass es bei Weitem nicht allein die pandemiebezogenen Maßnahmen sind, welche die Nutzungshäufigkeit stützen. So gaben beispielsweise Personen, die vor der Pandemie unzufrieden mit den ÖPNV-Angeboten ihrer Stadt waren, zu 48 % an, dass sie sich während der Nutzung in der Pandemie nicht sicher fühlten. Bei Menschen, die vor der Pandemie eher zufrieden waren, waren es nur 4 %. Je höher vor der Pandemie die Gesamtzufriedenheit war, desto größer war auch das Sicherheitsgefühl während der Corona-Krise. Jede Aktion zur Steigerung der Kundenzufriedenheit erhöht somit gleichzeitig auch das subjektiv empfundene Sicherheitsgefühl der Menschen und ihre Bereitschaft, den ÖPNV wieder zu nutzen. Aus den zur Studie zugehörigen Befragungen wissen wir, dass es hinsichtlich der Zufriedenheit vor allem auf die Zuverlässigkeit im Betrieb und auf die Sauberkeit ankommt. Maßnahmen zur Rückgewinnung Die Zuverlässigkeit des Verkehrsbetriebes zeigt sich vor allem anhand der Fahrplantreue und der Anschlusssicherheit. Aufgrund vieler externer Ereignisse, wie Unfälle oder Unwetter, lässt sich die Fahrplantreue oft nicht ein- Farid Gambar ÖPNV-Forscher und Vorstand nhi2 AG Kontakt: info@nhi2.de AUTOR