Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2021-0009
35
2021
61
Urbane grüne Infrastruktur in und nach der Pandemie
35
2021
Fabian Dosch
Stephanie Haury
Grüne Städte sind ein Eckpfeiler der Neuen Leipzig Charta für die Stadtentwicklungspolitik. Die Pandemie zeigt, wie elementar öffentliche Nahräume und eine urbane grüne Infrastruktur für die Stadtgesellschaft sind. In der Krise dienen sie als Ausweichflächen zum begrenzten Wohnraum. Das stellt das Postulat der Nachverdichtung und kompakten Städte nicht in Frage, erfordert aber eine intelligente Gestaltung vielschichtiger Nutzungsansprüche auf engerem Raum. Auch nach der Pandemie macht eine qualitätsvolle grüne Infrastruktur Städte krisenresilienter, stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Gesundheitsvorsorge und Lebensqualität.
tc610022
22 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie Leitbild urbane grüne Infrastruktur In einer Welt zunehmender Urbanisierung mit mehr als der Hälfte städtischer Bevölkerung bildet die urbane grüne Infrastruktur 1 (UGI) ein zentrales Element für die Transformation, Nachhaltigkeit und Lebensqualität von Städten. Dies gilt auch für Deutschland, wo mehr als ein Drittel der Bevölkerung in Großstädten lebt. Die Bedeutung grüner Infrastruktur ist in verschiedenen politischen Grundsatzpapieren verankert. Die in 2020 verabschiedete Territoriale Agenda 2030 2 betont die „Entwicklung naturbasierter Lösungen sowie grüner und blauer Infrastrukturnetze“ und setzt auf eine Vernetzung grüner Infrastruktur zur Förderung von Frei- und öffentlichen Grünflächen. Die Neue Leipzig Charta 3 für die Stadtentwicklungspolitik in Europa stellt die Bedeutung der „Grünen Stadt“ als eine der drei Dimensionen europäischer Städte - gerecht, grün, produktiv - für die Transformation heraus. Dazu gehören ein entsprechender Zugang zu Grün- und Freizeitflächen, sowie gut gestaltete, unterhaltene, vernetzte grüne und blaue Infrastrukturen als Grundlage für ein gesundes Lebensumfeld. Zur Schaffung eines Ausgleichs für Flächeninanspruchnahme und städtische Dichte sind grüne und blaue Infrastrukturen zu fördern. Dies soll die Artenvielfalt in der Stadt erhöhen, eine klimaneutrale, widerstandsfähige und umweltfreundliche Stadtentwicklung fördern und die 1 Urbane grüne Infrastruktur bildet die Gesamtheit städtischen Grüns als Netzwerk aus naturnahen und gestalteten Flächen 2 www.territorialagenda.eu/ home.html 3 Vom 30.11.2020, www.bmi.bund.de/ SharedDocs/ downloads/ DE/ veroeffentlichungen/ themen/ bauen/ wohnen/ neue-leipzigcharta-2020.pdf Urbane grüne Infrastruktur in und nach der Pandemie Urbane grüne Infrastruktur, Pandemie, Shutdown, Nahraum, Ziele Fabian Dosch, Stephanie Haury Grüne Städte sind ein Eckpfeiler der Neuen Leipzig Charta für die Stadtentwicklungspolitik. Die Pandemie zeigt, wie elementar öffentliche Nahräume und eine urbane grüne Infrastruktur für die Stadtgesellschaft sind. In der Krise dienen sie als Ausweichflächen zum begrenzten Wohnraum. Das stellt das Postulat der Nachverdichtung und kompakten Städte nicht in Frage, erfordert aber eine intelligente Gestaltung vielschichtiger Nutzungsansprüche auf engerem Raum. Auch nach der Pandemie macht eine qualitätsvolle grüne Infrastruktur Städte krisenresilienter, stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Gesundheitsvorsorge und Lebensqualität. © hongwon jun auf pixabay 23 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie Luftqualität verbessern. Das Weißbuch Grün in der Stadt formuliert zudem den Anspruch, multifunktionale und multicodierte Freiflächen herzustellen: „Grün- und Freiräume müssen vielfältige, sich überlagernde Nutzungsansprüche erfüllen und unterschiedlichen Nutzungsintensitäten standhalten.“ 4 Der Bund fördert Stadtgrün über verschiedene Programme. Die Städtebauförderung des Bundes und der Länder ist mit den drei neuen Programmen 5 ein Stück grüner geworden: Als neue Fördervoraussetzung kommen Maßnahmen zum Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel hinzu, insbesondere zur Verbesserung der grünen Infrastruktur, beispielsweise des Stadtgrüns. Die Finanzhilfen sind unter anderem für öffentliche oder private Maßnahmen zur Schaffung und zum Erhalt von Grünflächen und Freiräumen und zur Begrünung von Bauwerksflächen bestimmt. Zusätzlich sollen über Programme wie dem Investitionsprogramm „Modellprojekte zur Klimaanpassung und Modernisierung in urbanen Räumen“ aus dem Energie- und Klimafonds 109 Projekte im Kontext Stadtgrün und Klimaanpassung gefördert werden. 6 Als förderfähige Modellprojekte kommen die Neugestaltung von Parkanlagen und Gärten, klimaneutrale Wegbefestigungen, innovative Be- und Entwässerungsanlagen oder neue Nutzungsformen von bereits bestehenden Freiflächen in Betracht. 4 www.bmi.bund.de/ SharedDocs/ downloads/ DE/ publikationen/ themen/ bauen/ wohnen/ weissbuch-stadtgruen.pdf 5 www.staedtebaufoerderung.info/ StBauF/ DE/ Home/ _teaser/ aktuelleMeldungen/ 20191912_buehne_PM_NeueStBauF/ Programmstruktur_node.html 6 www.bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ startseite/ topmeldungen/ urbaneraeume-klimawandel.html Die Mittelausstattung dieser Programme ist im Wesentlichen in einer Zeit mit Haushaltsüberschüssen und guter Konjunktur beschlossen worden. Für 2020 und 2021 zeichnen sich bei den öffentlichen Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden erstmalig seit langem wieder hohe kassenmäßige Finanzierungsdefizite ab, die Ende 2020 bei 263,5 Mrd. Euro gelegen haben, 7 ganz überwiegend eine Folge der Sonderausgaben durch die COVID-19 Pandemie. Der Finanzierungsspielraum wird daher vermutlich wieder deutlich enger werden, obwohl Städte auf die Finanzierung von Maßnahmen für den Ausbau der grünen Infrastruktur angewiesen sind. Dabei erzeugen hohe Siedlungsdichten und die hohe Wertschöpfung bebauter Flächen einen anhaltenden Druck auf städtische Freiräume. Städte zeitweilig Hotspots der Pandemie Durch die hohe Bevölkerungsdichte und globale Vernetzung sind Großstädte bei Pandemien stärker gefährdet als deren Umland und ländliche Räume. Die Siedlungsdichte, definiert als Einwohner je m² Siedlungs- und Verkehrsfläche, ist in städtischen Kreisen schon heute um den Faktor 2,5, in Metropolen sogar um den Faktor 5 höher als beispielsweise in dünn besiedelten ländlichen Kreisen [1]. Für die Ausbreitung der Pandemie noch entscheidender als die Siedlungsdichte ist der Grad der physischen Vernetzung, vornehmlich der Reise- und Pendlerverflechtungen. Unter den Bedingungen des ersten vergleichsweise strengen Shutdowns - etwa vom 22. März bis zum 6. Mai 2020 - wiesen 7 www.bundesfinanzministerium.de/ Monatsberichte/ 2020/ 11/ Inhalte/ Kapitel-3-Analysen/ 3-4-mittelfristige-projektion-oeffentliche-haushalte-2020-2024.html Bild 1: 7-Tages- Inzidenzen gemeldeter COVID-19-Fälle je 100 000 Einwohner für die acht größten Städte in 2020. © BBSR, Wenxin Hu Kalenderwoche 24 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie bundesdeutsche Großstädte zunächst keine höheren Infektionszahlen im Vergleich zu Mittel- und Kleinstädten auf, schlicht weil Arbeitsstätten geschlossen waren und Großstadtfunktionen wie Veranstaltungen, Messen etc. fehlten. Die Mobilität nahm während der Pandemie durch Homeoffice und Kurzarbeit massiv ab, wochentags um rund 40 % gegenüber dem Vorjahr 8 , wobei der Rückgang an den Tagesrandzeiten wesentlich höher als in den Tagesstunden war. Nachdem die Bundesländer die Auflagen ab Anfang Mai lockerten, steigerte sich die Bewegungsfrequenz wieder. Bereits im Sommer (zum Beispiel: 17. Juni bis 15. August) wies der städtische Raum doppelt so hohe Fallzahlen wie der ländliche Raum auf. Mit dem starken Anstieg der Fallzahlen im Spätherbst 2020 nivellierten sich die Unterschiede zwischen den verschiedenen Stadttypen jedoch wieder. 9 Zwischen den Metropolen gab es im Zeitverlauf jedoch beträchtliche Unterschiede (vgl. Bild 1), die oft spezifische Ursachen haben und keinen erkennbaren Zusammenhang etwa mit Wirtschaftskraft oder Arbeitslosenquote aufweisen. Grüne Infrastruktur im Shutdown Physical oder Social Distancing, das kollektive Verbot größerer Menschenansammlungen, „Bleib-zu- Hause“-Appelle und die deutliche Zunahme von Homeoffice schränkten die Mobilität im Frühjahr 2020 und im Winter 2020/ 21 stark ein. Noch nie waren in Deutschland so viele Menschen kollektiv so lange an ihre Wohnung und das unmittelbare Wohnumfeld gebunden wie in den Phasen des verschärften Shutdowns. Im Dezember gab es nächtliche Ausgangssperren in einzelnen Bundesländern und Städten, wenn auch nicht so restriktiv wie in Südeuropa [2]. Die siedlungsnahe Erholung tagsüber blieb jedoch flächendeckend erlaubt. Die Mobilität ging insgesamt drastisch zurück und konzentrierte sich auf lokale und regionale Aktionsräume. Innenstädte 8 www.destatis.de/ DE/ Service/ EXDAT/ Datensaetze/ mobilitaetsindikatoren-mobilfunkdaten.html 9 tableau.bsh.de/ #/ views/ CoronaRegionalBBSR/ CoronaRegional- BBSR waren gespenstisch leer (vgl. Bild 2). Weniger drastisch, doch ähnlich sah es im zweiten Shutdown im Winter 2020/ 21 aus. Als Reaktion auf Bewegungsbeschränkungen suchten viele Menschen nach Alternativen für Erholung. Allerdings sperrten Städte vor allem beim ersten Shutdown Teile öffentlicher Plätze, Parkanlagen, Spielplätze, See- und Flussufer sowie Ausflugsorte, wie zum Beispiel Zürich (Parks) oder Bonn (Altstadt zur Zeit der Kirschblüte). Besonders attraktive Freiräume wie Aussichtspunkte wurden komplett abgeriegelt, Schulhöfe, Sportanlagen und sogar Bänke gesperrt. Etliche Stadtbewohner wichen auf wohnortnahe Grünflächen aus. Abstandregeln konnte die Bevölkerung an manchen Orten nur schwer einhalten, Grünflächen und Parks waren in verdichteten Lagen teilweise übernutzt. Parks und Plätze in dichten Großstädten erlebten und erleben eine noch intensivere Nutzung als sonst: Spaziergänger 10 , Jogger und andere Sportler mussten sich den knappen Freiraum teilen. Nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Initiative „Grün in die Stadt“ 11 halten knapp die Hälfte der Befragten städtische Grünanlagen seit der Pandemie für wichtiger, mehr als jeder Vierte sucht diese auch häufiger auf, insbesondere jüngere Menschen unter 30 Jahren sowie Eltern von Kindern unter zehn Jahren. Über die Nutzung entscheidet vor allem die Entfernung. Allerdings zeigte sich für die ältere und hochbetagte Bevölkerung ein Konflikt zwischen Gesundheits- und Sicherheitsziel: Freiräume wurden tendenziell weniger und zudem kürzer besucht. Eine im April 2020 durchgeführte Umfrage für die Kantone Genf und Zürich bestätigt das veränderte Freizeitverhalten auch in der Schweiz. 12 Während des Shutdowns besuchte die dort ansässige Bevölkerung Frei- und Grünräume im Nächst- und Nahbereich häufiger und länger als sonst. Die 10 Aus Gründen der Lesbarkeit und Kürze des Beitrags wird eine geschlechtsneutrale Formulierung gewählt 11 www.gruen-in-die-stadt.de/ informieren/ vorteile-von-stadtgruen/ stadtgruen-ist-wichtiger-denn-je 12 ilf.hsr.ch/ fileadmin/ user_upload/ ilf.hsr.ch/ Bilder/ Umfrage_Freizeit_Coronavirus_HSR _hepia.pdf Bild 2: Innenstädte und Grünflächen während des 1. Shutdowns Frühjahr 2020. © Kulik (Berlin), Dosch (Bonn); April 2020 25 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie Befragten nutzten, wenn möglich, zunächst die privaten Grünräume und dann erst öffentliche Grünflächen, vor allem für Spaziergänge und Ruhe. Für den Großraum Oslo ergaben Auswertungen mobilen Trackings, dass die Freizeitaktivität im Freien während des Shutdowns um Witterungseffekte bereinigt um 291 % im Vergleich zu einem 3-Jahres- Durchschnitt für den gleichen Tag zunahm [3]). Der Prozentsatz der Bevölkerung Oslos, die täglichen Freizeitaktivitäten nachging, stieg von 4,1 % auf 14,6 %. Die Aktivitäten wurden vor allem an der städtischen Peripherie intensiviert. Sowohl die Fußgänger- (Spazierengehen, Laufen, Wandern) als auch die Fahrradaktivität nahm auf städtischen Wegen mit mehr Grün und > 75 % Baumbedeckung um das Zweifache zu. Zudem stieg die Fußgängeraktivität in Stadtparks, im Stadtwald und in geschützten Gebieten, was die Bedeutung des Zugangs zu grünen Freiflächen unterstreicht, die mit der bebauten Infrastruktur verwoben sind. In Deutschland entstanden während des ersten Shutdowns temporär Pop-up- Radwege und ganze Straßenzüge wie beispielsweise die Friedrichstraße in Berlin wurden umgebaut. So schnell und unbürokratisch sie entstanden sind, mussten sie aufgrund rechtlicher Bedenken jedoch wieder zurückgebaut werden. In vielen Städten weltweit entstanden Experimente im Stadtraum wie Parklets, Stadtmöbel auf ehemaligen Parkplatzflächen, mobiles Grün im Straßenraum oder urbane Mikrogärten. 13 Dass der Nahbereich wichtiger wurde, zeigen auch Auswertungen der Mobilität für Deutschland. 14 Die Mobilität sank 2020 im Vergleich zur Vor-Corona Mobilität um 17 % innerhalb der Städte, Fahrten Richtung Stadtzentrum gingen dauerhaft stark zurück. Die wöchentlichen Passantenzahlen in den Innenstädten 15 schrumpften im Vergleich zur Prognose während der Shutdowns um 70 - 90 %. Die Bevölkerung nutzt seither das Fahrrad um 26 % häufiger als zuvor. Nachweislich besteht ein Zusammenhang zwischen Wohnsituation und Freizeitverhalten: Die urbane Wohnungsversorgung mit ihrem höheren Anteil an kleineren Wohnungen ohne Garten oder Balkon und einer geringeren Pro-Kopf-Wohnfläche 13 Vgl. Hanzl in www.tandfonline.com/ doi/ full/ 10.1080/ 23748834.2020.1791441 14 www.teralytics.net/ de/ ressourcen-zu-covid-19/ ? selected_ data=de 15 www.ifw-kiel.de/ de/ themendossiers/ corona-krise/ datenmonitorcorona-krise/ Bild 3: Grünanlagen und Subzentrum während des zweiten Shutdowns Jahreswechsel 2020/ 21. © Dosch, Haury (Bonn); Dezember 2020 Auswirkungen der Pandemie auf das Stadtgrün und öffentliche Freiräume Erhöhte Bedeutung von Nahräumen auch aufgrund von Homeoffice und flexiblen Arbeitszeiten Vermehrte Bewegung in und Nutzung städtischen Grüns vor allem in städtischen Randlagen, Renaissance des Spazierengehens Verstärkte Nutzung touristischer Hotspots (Parks, Fluss- und Seeufer, Wälder etc.) im Nahbereich, auch im Winter Höhere Multicodierung, also Mehrfachansprüche an Grünflächen, als zuvor Kreis der sozialen Schichten, der Parkanlagen nutzt, erweitert sich auf Personen aus Risikogruppen und Personen, die der häuslichen Enge entfliehen Absperren von Freiflächen: erhöht Druck auf die verbleibenden Grünflächen und ist sozial problematisch Neue Bestimmungen zu Aufenthalt und Bewegung wegen Abstandsregeln (Einbahnstraßen, Beschränkungen etc.) Höhere ordnungsrechtliche Kontrolle von Grünräumen zu Pandemiezeiten Grünanlagen als Ersatz-Wohnräume und Räume der Lebenskultur vorwiegend junger Leute Grünflächen als wichtige Orte für Begegnung und Austausch aufgrund von Angstzuständen und Vereinsamung Mobile kulinarische Einrichtungen wie Pop-up-Cafés entstehen in Parkanlagen aufgrund von Schließungen in der Gastronomie Probleme des Klimawandels und Pandemie überlagern sich - Trockenheit, Wassermangel und Übernutzung erfordern nachhaltige Pflegeansätze Tabelle 1: Auswirkungen der Pandemie auf Stadtgrün und öffentliche Freiräume. 26 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie erweist sich in Pandemien als nachteilig. Ärmere Bevölkerungsgruppen waren von beengten Wohnverhältnissen besonders stark betroffen. Neben dem eigenen Wohnort und Läden für den täglichen Bedarf waren während der Shutdowns Parks der einzige Bereich, den Menschen im Vergleich zur „Vor- Corona-Zeit“ verstärkt nutzten. (Bild 3). Der Nutzungsdruck auf innerstädtische Parks war bereits vor der Krise groß und wird angesichts des Wegfalls anderer Freizeitangebote deutlich verstärkt. Das Abstandsgebot erhöht den Grün- und Freiflächenbedarf noch einmal deutlich. Tabelle- 1 fasst einige Auswirkungen der Pandemie auf die urbane grüne Infrastruktur zusammen. Lehren aus der Pandemie Der Nahraum wird wichtiger Die Corona-Krise verdeutlicht, wie wichtig Grün- und Freiräume im direkten Wohnumfeld sind (Bild- 4). Bei höherer Wohndichte und weniger Fernreisen wird der Bedarf an lokalen Erholungsmöglichkeiten den Druck auf städtische Grünflächen erhöhen. Für viele ist der öffentliche Raum im Shutdown fast die einzige Möglichkeit, real und nicht nur virtuell andere Menschen zu sehen, sich zu bewegen und so etwas wie öffentliches Leben zu erfahren. Grüne Infrastruktur war vor der Pandemie nützlich, während der Pandemie für etliche aber unerlässlich [2]. Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie konstatiert, dass die Post-Corona-Stadt 16 „näher“, „öffentlicher“ und „agiler“ sein wird. 17 Die Freiräume müssen jedoch erreichbar und zugänglich sein. „Die Frage der Umweltgerechtigkeit, also nach dem gleichberechtigten Zugang zu Räumen, stellt sich in unmittelbarer Form neu: Wer Zugang zu privatem Freiraum und zu privaten Verkehrsmitteln hat, ist in der Zeit der Pandemie sicherer vor Infektionen, bzw. wer dies nicht hat, muss sich einem erhöhten Infektionsrisiko aussetzen“. 18 Ausgangsbeschränkungen schränken die Möglichkeiten zur körperlichen Betätigung für alle ein, haben aber einen größeren Effekt für gefährdete Bevölkerungsgruppen. 19 Für Kinder und Jugendliche ist besonders wichtig, sich auch in der Corona-Krise trotz Ausgangsbeschränkungen und Spielplatzsperrungen ausreichend draußen zu bewegen und zu 16 Das BMI/ BBSR untersucht im Programm „Post-Corona-Stadt “ in Pilotprojekten unter anderem auch die Gestaltung und Neunutzung von Grünflächen. https: / / www.bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ startseite/ topmeldungen/ pilotprojekte-post-corona-stadt.html 17 www.wupperinst.org/ a/ wi/ a/ s/ ad/ 5051/ , April 2020 18 Hennecke in freiraum-krise.de/ corona-pandemie-und-freiraumplanung/ 19 www.cdc.gov/ pcd/ issues/ 2020/ 20_0204.htm Tabelle 2: Einschätzung der relativen Bedeutung der Nutzung von Hausgärten und öffentlicher Grünflächen bestimmter Bevölkerungsgruppen - normal und im Shutdown. Anlagentyp Normalerweise ohne Pandemie Shutdown - light (ohne Absperrungen, aber Abstandsgebote und Geschäftsschließungen) Ausgangssperre (wie in Südeuropa) Bevölkerungsgruppe Alle Bevölkerungs gruppen Jugendliche Mittelalt, Kids Migrationshintergrund Hochbetagte Alle Bevölkerungsgruppen Hausgarten wenn vorhanden + ++ ++ ++ ++ Nur zur Eigennutzung Pocket Park im Wohnumfeld o ++ ++ + + Nur wohnungsnah Stadtbezirkspark + + ++ + o untersagt Regioparks besuchen/ E-Biken u. a. o - + o - untersagt Quelle: Eigene Einschätzung (ohne empirische Daten dazu). - Geringe Bedeutung bis ++ hohe Bedeutung bzw. sehr wichtig / gibt es nicht Bild 4: Aktivitäten im öffentlichen Freiraum vor (oben) und in (unten) der Pandemie. © Dosch, Haury 27 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie spielen. 20 Der Zugang zu Grünflächen sollte auch im Shutdown bei physischer Distanzierung ermöglicht werden [4]. Die Pandemie zeigt, die Bedeutung öffentlicher Grünflächen und Parks nimmt während der Pandemie für die meisten Bevölkerungsgruppen zu (vgl. Tabelle 2) - je näher desto stärker - auch für Spaziergänger, Sportler und zur Gesundheitsvorsorge. Die Bedeutung von wohnortnahen Pocket- und Quartierparks steigt. Auch für die ältere Bevölkerung, wenngleich diese weniger Nutzungsansprüche formuliert. Grünflächen müssen aber auch vorhanden sein, das ist in Stadträumen aber höchst unterschiedlich der Fall, was Satellitendaten und die daraus abgeleitete Grünausstattung einzelner Städte belegen. 21 Beispielsweise ist die innerstädtische Grünausstattung in Berliner Stadtbezirken vergleichsweise gering (vgl. Bild 5), die wenigen öffentlichen Grünflächen werden stark frequentiert. Neben den wohnungsnahen Grünflächen definiert sich Naherholung neu: Vermehrt werden etwa mit dem E-Bike erreichbare Regionalparks oder große Grünräume am Stadtrand genutzt, in denen zudem das Infektionsrisiko viel geringer ist als in der City. Das Freizeitverhalten zeigt neue Nutzungsarten wie Wildcampen und ausgeweitete Picknicks. Während des zweiten Shutdowns kam es im Winter 2020/ 21 zu Ausflugsfahrten in nahegelegene und somit stark überfüllte Mittelgebirgsregionen. Pandemie als Trigger für Stadtumbau Die Pandemie wirkt wie ein Trigger für längst überfällige Transformationen zum nachhaltigen Stadtumbau. Normative Orientierungen wie die „kompakte Stadt“ sind zu justieren. Es geht nicht um ein Ende der Verdichtung, aber um mehr Öffentlichkeit, Zugänglichkeit und Qualität von Freiräumen. Jetzt wird deutlich, wie wichtig ausreichend bemessene öffentliche Räume und grüne Oasen direkt vor der Haustür sind. Wo das nicht möglich ist, sollten wenigstens Balkone und attraktiv gestaltete Vorgärten und Mietergärten vorgesehen werden. Neue Formen der Straßenbegrünung wie begrünte Fahrradwege, Parklets oder Grünachsen sollen die Großstädte mit „sanfter Mobilität“ durchziehen. Wichtig ist hierbei eine durchgehende Vernetzung, die eine Renaissance des Spazierengehens und Radfahrens Raum bieten. 20 www.dji.de/ themen/ familie/ kindsein-in-zeiten-von-coronastudienergebnisse.html 21 www.bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ forschung/ programme/ refo/ staedtebau/ 2019/ gruenmonitoring/ 01-start.html Neue Kenn- und Orientierungswerte für Stadtgrün sind auszuhandeln 22 , gängige Versorgungsschlüssel nachzujustieren. 23 Stadtparks sollen wie alles Lebenswichtige - in Anlehnung an das Konzept von Paris 24 - innerhalb von 15 Minuten Fußweg erreichbar sein, kleine Parks in 300 m, große in 700 m Entfernung. Wichtig ist die Justierung übergeordneter Ziele mittels Masterplänen oder anderer informativer Planwerke. Der Senat Berlin hat sich zum Beispiel mit einer „Charta für das Berliner Stadtgrün“ verpflichtet, für mehr Grünflächen und bessere Parks zu sorgen, die für ihre Nutzer auch fußläufig zu erreichen sind. 25 Die Stadtplanung und -gestaltung sollte im Sinne einer „biophilen“ naturnahen Architektur graue und grüne Infrastruktur nahe zusammen bringen. 26 Eine vielfältige Mischung kleiner wohnortnaher Grünflächen, größerer Quartiersparks und großer Regionsparks, durchsetzt von öffentlichen Grünflächen und Korridoren in der Nähe von Wohngebieten macht die Stadtregion resilient. Zur Planung zählt auch der Bau und die Instandhaltung der grünen Infrastruktur. Zur Finanzierung schlägt zum Beispiel das Land Bremen einen Investitionsfonds für nichtöffent- 22 www.bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ veroeffentlichungen/ sonderveroeffentlichungen/ 2018/ handlungsziele-stadtgruen.html 23 difu.de/ publikationen/ 2020/ stadtentwicklung-in-coronazeiteneine-standortbestimmung 24 www.paris.fr/ dossiers/ paris-ville-du-quart-d-heure-ou-le-paride-la-proximite-37 25 meingruenes.berlin.de/ 26 www.mdpi.com/ 2413-8851/ 4/ 4/ 56 Bild 5. Grünfläche in m² pro Einwohner für die Stadtbezirke Berlins. Quelle: Berechnungen des Leibniz-Instituts für ökologische Raumentwicklung auf Basis von Klassifikationen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt aus dem Projekt „Monitoring des Stadtgrüns“ im Auftrag des BBSR Friedrichshain-Kreuzberg Mitte Neukölln Tempelhof-Schöneberg Lichtenberg Marzahn-Hellersdorf Charlottenburg-Wilmersdorf Pankow Reinickendorf Steglitz-Zehlendorf Spandau Treptow-Köpenick Berlin 12 24 47 48 71 87 96 123 190 193 200 385 119 0 50 100 150 200 250 300 350 400 Berlin 28 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie liche Parks und Grünanlagen vor. 27 Die Krise zeigt, dass Naherholungsgebiete und der Nahraum auch zur Gesundheitsvorsorge und Salutogenese essentiell sein können, sei es für soziale, physische oder psychische Belange. 28 Grünflächen erleichtern die soziale Distanzierung und schwächen indirekt die Ausbreitung von Pandemien. Grüne Infrastrukturnetzwerke, die die Offenheit und Durchlässigkeit einer Stadtstruktur erhöhen, können somit Strukturen stärken, die widerstandsfähiger gegen virale Pandemien sind. [5] Schon vor der Corona-Krise gab es Bedenken gegenüber einer allzu strikten investorengetriebenen, baulichen Innenentwicklung, die die Belange der Freiraumentwicklung nachrangig stellt. Ansätze wie die der doppelten Innenentwicklung oder der „intelligent kompakt-grünen Stadt“ 29 sind nun wichtiger denn je, da sie Freiräume bewahren, schaffen, vernetzen. Es gilt nun zu überprüfen, welches die Lehren aus der Pandemie sind. Wie lassen sich bestehende Freiräume und Grünflächen sichern, aufwerten und öffnen? Welche bisher ungenutzten Bereiche und Flächen lassen sich zur urbanen grünen Infrastruktur hinzufügen? Welche Rolle spielen bürgerschaftlich initiierte Projekte und an welchen Stellen muss die öffentliche Hand eingreifen? Die Krise hat sicher Grundlagen für neue Leitbilder, aber auch für die Überprüfung bestehender Leitbilder geliefert. Für ein neues Leitbild einer urbanen grünen Infrastruktur, dass auch unter und nach einer Pandemie wirkungsvoll ist, sind folgende Aspekte leitend [1]: UGI bietet Freiräume im direkten Wohn- und Arbeitsumfeld UGI offeriert ein System vernetzter Pocket-/ Mikroparks über Quartiersparks bis zu Regioparks UGI bietet einen höheren Anteil öffentlich zugänglicher Grünflächen UGI ist ausreichend quantitativ wie auch qualitativ ausgestattet UGI bietet in verdichteten Städten intelligente Lösungen für Grün auf knappem Raum UGI wird digital erschlossen, multicodiert gestaltet und multifunktional genutzt 27 www.gruenes-bremen.de/ ; www.bdla.de/ dokumente/ landesverbaende/ niedersachsen-bremen/ aktivitaeten-7/ 785-positionspapier-stadtgruen-konjunkturprogramm-2020/ file 28 Vgl. u.a. www.bfn.de/ fileadmin/ BfN/ service/ Dokumente/ skripten/ Skript371.pdf; www.euro.who.int/ en/ health-topics/ environment-and-health/ urban-health/ publications/ 2016/ urban-green-spaces-and-health-a-review-of-evidence-2016; difu.de/ arbeitsgruppe-gesundheitsfoerdernde-gemeinde-undstadtentwicklung; gesunde-staedte-netzwerk.de 29 des IÖR, vgl. www.sciencedirect.com/ science/ article/ abs/ pii/ S1470160X17304144 UGI schließt bürgerschaftlich initiierte Projekte ein UGI fördert den sozialen Zusammenhalt, die Lebensqualität und kreative Nutzung UGI ist ein Eckpfeiler resilienter Städte, insbesondere zur Klimafolgenvorsorge, Nahrungsmittelproduktion UGI ist umweltgerecht verteilt und umweltfreundlich erreichbar UGI bietet Begegnungsräume in Distanz und ermöglicht urbanes Gärtnern UGI ermöglicht und physische und mentale Gesundheitsvorsorge über das Stadtgebiet für Bewegung, Sport und Ruhe/ Kontemplation gleichermaßen LITERATUR [1] Dosch, F., Haury, S.: Städtisches Grün in Pandemiezeiten. Beobachtungen, Erkenntnisse und Herausforderungen für die Zukunft. IzR-Heft 04/ 2020 Corona und Stadtentwicklung - Neue Perspektiven in der Krise? , (2020) S. 69 - 81. [2] Ugolini, F. et al.: Effects of the COVID-19 pandemic on the use and perceptions of urban green space: An international exploratory study. Urban Forestry & Urban Greening 56 (2020). https: / / doi.org/ 10.1016/ j. ufug.2020.126888. [3] Venter, Z., Barton, D., Figari, H., Nowell, M.: Urban nature in a time of crisis: recreational use of green space increases during the COVID-19 outbreak in Oslo, Norway. Environmental Research Letters, Vol. 15, No. 10, (2020). https: / / doi.org/ 10.31235/ osf.io/ kbdum. [4] Slater, S., Christiana, R., Gustat, J.: Recommendations for Keeping Parks and Green Space Accessible for Mental and Physical Health During COVID-19 and Other Pandemics. Prev Chronic Dis (2020); 17: 200204. DOI: http: / / dx.doi.org/ 10.5888/ pcd17.200204. [5] Hanzl, M.: Urban forms and green infrastructure - the implications for public health during the COVID-19 pandemic, Cities & Health, (2020) DOI: 10.1080/ 23748834.2020.1791441 Dr. Fabian Dosch Referatsleiter Stadt-, Umwelt- und Raumbeobachtung Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung Kontakt: fabian.dosch@bbr.bund.de Stephanie Haury Projektleiterin im Referat Stadtentwicklung Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung Kontakt: stephanie.haury@bbr.bund.de AUTOR*INNEN
