Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2021-0012
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Verhäuslichung
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Antje Flade
Eine Grundstrategie der Pandemiebekämpfung ist die drastische Einschränkung von Begegnungen und Möglichkeiten des Zusammentreffens. Proklamiert wird in diesem Zusammenhang das Sichzurückziehen aus dem öffentlichen Raum. Die psychologischen Auswirkungen eines solchen Rückzugs sind immens. Weniger sozialer Austausch bewirkt, dass man einander fremd wird und vereinsamt, weniger Anregungen aus der Außenwelt sind einer sensorischen Deprivation vergleichbar, die eingeschränkten Möglichkeiten, sich zu erholen und zu bewegen, schwächen die Immunkräfte, mindern das Wohlbefinden und gefährden die physische und psychische Gesundheit.
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40 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie Der Begriff „Verhäuslichung“, der den Rückzug aus dem öffentliche Raum ins Haus verbildlicht, wurde in den 1980er Jahren geprägt, um die Reaktion auf den rapide zunehmenden Autoverkehr, der Außenräume unwirtlicher, verlärmter und gefährlicher macht, zu charakterisieren [1]. In vielen Untersuchungen wurden die negativen Auswirkungen der Verhäuslichung insbesondere auf Kinder nachgewiesen. Man stellte fest, dass Kinder, die in einem verkehrsbelasteten Gebiet wohnen, seltener und weniger lange draußen spielen, dass durch den Bewegungsmangel ihre motorische Entwicklung verzögert wird, Verhäuslichung Zum Verlust von Sozialkontakten und Handlungsräumen Verhäuslichung, Sozialkontakte, Anregungen, Erholung Antje Flade Eine Grundstrategie der Pandemiebekämpfung ist die drastische Einschränkung von Begegnungen und Möglichkeiten des Zusammentreffens. Proklamiert wird in diesem Zusammenhang das Sichzurückziehen aus dem öffentlichen Raum. Die psychologischen Auswirkungen eines solchen Rückzugs sind immens. Weniger sozialer Austausch bewirkt, dass man einander fremd wird und vereinsamt, weniger Anregungen aus der Außenwelt sind einer sensorischen Deprivation vergleichbar, die eingeschränkten Möglichkeiten, sich zu erholen und zu bewegen, schwächen die Immunkräfte, mindern das Wohlbefinden und gefährden die physische und psychische Gesundheit. dass sie weniger Kontakte mit Gleichaltrigen haben, was ihre soziale Entwicklung beeinträchtigt, und dass sie vergleichsweise unselbstständig sind [2,-3]. Man sprach von einer „verhäuslichten Kindheit“, die an die Stelle der früheren „Straßenkindheit“ getreten ist [4]. Die technologische Entwicklung in Form der Digitalisierung hat diese Entwicklung - die Verlagerung etlicher Aktivitäten nach drinnen - enorm beschleunigt. Die Zeit, die Kinder und Jugendliche am Bildschirm verbringen und Medien konsumieren, hat auf Kosten anderer Aktivitäten wie Spielen im Freien, sportlichen Betätigungen und Bild 1: Verlagerung von Aktivitäten nach drinnen. © Antje Flade 41 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie Zusammenkünften rapide zugenommen (Bild 1, [5]). Seit nunmehr einem Jahr ist die Pandemie als weiterer, die Verhäuslichung vorantreibender Faktor hinzugekommen: Eine Kernstrategie der Pandemiebekämpfung ist, die Ausbreitung des hoch infektiösen Virus zu blockieren, indem nicht zwingend notwendige Sozialkontakte vermieden werden sollen, was in eine Verhäuslichung mündet. Der Lebensraum, zu dem außer der Wohnung und dem Haus immer auch ein mehr oder weniger ausgedehnter Außenbereich gehört, wird dezimiert, um die Häufigkeit von Kontakten zu minimieren. Damit werden indessen zugleich auch Erfahrungs- und Handlungsräume beschnitten. Das Wohlbefinden, definiert als die positive subjektive Bewertung des eigenen Lebens [6], sowie die psychische Gesundheit sind gefährdet, wenn der soziale Austausch mit den Mitmenschen eingeschränkt wird, wenn sich die Bindungen an den eigenen Lebensraum lockern, wenn Anregungen aus der Außenwelt entfallen und wenn man sich nicht mehr wie bisher erholen und die gewohnte Tatkraft wieder gewinnen kann, was in Anbetracht vermehrter Belastungen umso wichtiger ist. Einschränkungen des sozialen Lebens Besonders schwer wiegt die verordnete Beschränkung sozialer Kontakte, denn der Mensch ist auch als eindeutig erkennbares Individuum (Einzelwesen) grundsätzlich zugleich auch ein Sozialwesen. Die Kernstrategie der Pandemiebekämpfung ist mit instrumentellen und emotionalen Verlusten verbunden: Weniger Kontakte bedeuten einen Schwund an Sozialkapital, das heißt weniger „emotional and practical support“ [7, 8]. Es ist keine neue Erkenntnis, dass Menschen Stress leichter bewältigen können, wenn ihnen jemand hilfreich zur Seite steht. Bei reduzierten Kontakten entfällt zum großen Teil die segensreiche emotionale und faktische Unterstützung. Verhäuslichung impliziert mehr als eine bloße Dezimierung physischen Raums. Es ist ein Verlust von Orten, mit denen sich Menschen emotional verbunden fühlen und die wichtig für sie sind. Der Unterschied wurde mit den Begriffen „Space“ (physischer Ort) und „Place“ (emotional wichtiger Ort) verdeutlicht [9]. Die gefühlsmäßige Anhänglichkeit an einen Ort tritt im Heimweh zutage. Man leidet darunter, wenn man nicht an dem geliebten Ort ist. Die Anhänglichkeit kann sich auf den Ort selbst als auch auf die Menschen, die man dort trifft, beziehen. Es ist individuell unterschiedlich, wie stark jeweils die örtliche Verbundenheit (rootedness) und die sozialen Bindungen (bondedness) sind [10]. Die verordnete Einschränkung der sozialen Kontakte schwächt vor allem die bondedness, damit aber auch die Ortsverbundenheit insgesamt. Man wird einander fremd, wenn man sich kaum mehr trifft. Das Gefühl sich auflösender und verloren gegangener Beziehungen ist niederdrückend und kann das Selbstwertgefühl schmälern [11]. An die Stelle einstmals enger sozialer Beziehungen treten vermehrt „weak social ties“, schwach ausgeprägte Beziehungen, die sich auf ein Zunicken und Grüßen und das Wissen, dass der Mensch, der einem begegnet, kein Fremder ist, beschränken [12, 13]. Die verordnete Meidung sozialer Kontakte wiegt auch deshalb schwer, weil es sich dabei um einen weitreichenden Kontrollverlust handelt: Man kann nicht mehr selbst bestimmen, ob man allein oder mit anderen zusammen ist. Der verhäuslichte Mensch kann sich zwar problemlos und ausgiebig zurückziehen, aber nur schwer nach außen hin öffnen. Es ist ein Verlust an Privatheit, wenn man Privatheit psychologisch als einen „interpersonal boundary control process“ definiert [14]. Das besagt: Über Privatheit verfügt derjenige, der selbst bestimmen kann, ob er eine Tür geschlossen hält oder offen lässt bzw. ob er Gesellschaft haben möchte oder ob man ihn in Ruhe lässt. Auch ein Zuviel an Alleinsein weist auf ein Defizit an Privatheit hin. Nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Gruppen leiden unter dem Kontrollverlust (Bild 2). Weniger Anregungen Dass sensorische Stimulation für das psychische Wohlbefinden, die Leistungsfähigkeit, Kreativität, Inspiration und Motivation, etwas in Angriff zu nehmen und zielgerichtet zu handeln, sowie auch für die Gehirnaktivität unverzichtbar ist, wurde in vielen Untersuchungen und Experimenten bestätigt. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Felduntersuchungen, die in den Forschungsstationen in den Polarregionen durchgeführt wurden, um herauszufinden, wie sich die Abschottung von einer extrem unwirtlichen Außenwelt auf die in den Bild 2: „...und niemand kommt“. © Antje Flade 42 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie Stationen tätigen Forscher auswirkt [15]. Die Annahme, dass man die Lern- und Arbeitsleistung dadurch steigern kann, indem man sämtliche Ablenkungen fern hält, ist längst widerlegt. Beispielsweise sind in Klassenräumen mit fehlenden Ausblicken auf eine anregende Umgebung die Leistungen schlechter, anstatt dass die Konzentrationsfähigkeit gesteigert wird [16]. Längere Aufenthalte in reizarmen Umwelten führen mit großer Wahrscheinlichkeit zu negativer Gestimmtheit, Reizbarkeit, Müdigkeit und Leistungseinbußen sowie auch zu neurophysiologischen Veränderungen [17]. Sämtliche Sinnesmodalitäten, darunter nicht zuletzt auch die haptischen und die taktilen Sinne, werden weniger aktiviert, wenn der Lebensraum, in dem vielerlei Erfahrungen gemacht werden können und der vielerlei Aktivitäten - eine Vita activa - ermöglicht, verengt wird. Die Vielfalt an Orten im Zusammenhang mit kulturellen Events, möglichen Unternehmungen und Reisen, die den Erfahrungsraum erweitern, wird ersetzt durch das Haus, in dem man bleiben soll, um anderen Menschen so wenig wie möglich zu begegnen (Bild 3). Weniger Erholung Von der Beschaffenheit seines Lebensraums hängt nicht nur ab, was ein Mensch erlebt und erinnert und was er macht und machen kann, sondern auch welche Möglichkeiten er hat, um sich von den Belastungen des Alltags zu erholen und Stress abzubauen. Dass gerade der Außenraum eine unverzichtbare Erholumwelt (restorative environment) ist, zeigt ein Blick auf die vier maßgeblichen Erholfaktoren [18]: Restorative environments sind Umwelten, die sich deutlich von der Alltagswelt unterscheiden, die einem das Gefühl geben, psychisch weit weg zu sein (being away). Erholumwelten haben etwas Faszinierendes an sich, was die unwillkürliche Aufmerksamkeit weckt, sodass sich der durch längeres konzentriertes Arbeiten oder Lernen strapazierte Mechanismus der gerichteten Aufmerksamkeit erholen kann. Sie werden im Unterschied zur räumlich begrenzten und mitunter auch als beengend erlebten Wohnung als weit erlebt; man kann wieder frei atmen. Sie sind kompatibel, indem sie Gelegenheiten bieten, vieles zu machen und gewünschten Aktivitäten nachzugehen, beispielsweise sich sportlich zu betätigen oder spazieren zu gehen. Erholung wird durch Verhäuslichung erschwert. So ist ein being away nur sehr eingeschränkt möglich. Man soll zuhause bleiben. Die Wohnung ist einem zwar sehr vertraut, doch sie fasziniert nicht. Innenräumen fehlt die Weite. Und für viele Aktivitäten reicht der Platz in der Wohnung nicht aus. Ein erschöpfter erholungsbedürftiger Mensch ist anfälliger für Erkrankungen. Fehlende Erholung schwächt das Immunsystem. Bild 3: Es wird nicht mehr gereist. © Antje Flade 43 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie Die befreiende Wirkung des Draußen hat Goethe Faust in den Mund gelegt, während er einen Osterspaziergang mit Famulus Wagner macht. Nicht nur Strom und Bäche sind (vom Eise) befreit, sondern auch der Mensch atmet wieder frei: „Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, ... aus dem Druck von Giebeln und Dächern, aus der Straßen quetschender Enge ...., aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht sind sie alle ans Licht gebracht ... Hier ist des Volkes wahrer Himmel, zufrieden jauchzet groß und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein! “ [19]. Fazit Durch die verordnete Einschränkung sozialer Kontakte vor allem in Außenräumen hofft man, die Verbreitung eines infektiösen Virus zu stoppen. Die psychischen Folgen der Strategie der Verhäuslichung werden dabei jedoch zu wenig beachtet und zu wenig bei der Planung von Maßnahmen berücksichtigt, obwohl sie gravierend sind. Es ist ein destruktiver Eingriff in das soziale Leben, ein Abschneiden von Lebensraum und Lebensmöglichkeiten. Verhäuslichung bedeutet Unterstimulation, weniger Anregungen, weniger Erfahrungen, weniger Erholung, eine mangelnde Befriedigung der sozialen Bedürfnisse nach Kommunikation und Zugehörigkeit, eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten, fehlende faktische und emotionale Unterstützung, weniger Sozialkapital und weniger Gemeinschaftlichkeit. Die psychologischen Kosten der Strategie, Begegnungen und Begegnungsmöglichkeiten weitestgehend zu reduzieren, was auf eine Verhäuslichung hinausläuft, sind alles andere als gering: Es ist die Gefährdung der psychischen Gesundheit. Online- Kommunikation und digitale Angebote können die schädigenden Auswirkungen lediglich mildern, aber sicherlich nicht beseitigen. LITERATUR [1] Nokielsky, H.: Straße als Lebensraum? Funktionalisierung und Revitalisierung sozialer Räume. In: Krüger, J., Pankoke, E. (Hrsg.): Kommunale Sozialpolitik. München: R. Oldenbourg Verlag. (1985) S. 129 - 155. [2] Hüttenmoser, M.: Auswirkungen des Straßenverkehrs auf die Entwicklung der Kinder und den Alltag junger Familien. In Flade, A. (Hrsg.): Mobilitätsverhalten. Bedingungen und Veränderungsmöglichkeiten aus umweltpsychologischer Sicht. Weinheim: Psychologie Verlags Union. (1994) S. 171 - 181. [3] Villanueva, K., Giles-Corti, B., Bulsara, M. et al.: Where do children travel to and what local opportunities are available? The relationship between neighborhood destinations and children’s independent mobility. Environment and Behavior, 45, (2012) S. 679 - 705. [4] Zinnecker, J.: Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule. Weinheim: Juventa Verlag, 2001. [5] Christian, H., Zubrick, S. R., Knuiman, M. et al.: Nowhere to go and nothing to do but sit? Youth screen time and the association with access to neighborhood destinations. Environment and Behavior, 49, (2017) S. 84 - 108. [6] Diener, E., Oishi, S., Lucas, R. E.: Personality culture, and subjective well-being: emotional and cognitive evaluations of life. Annual Review of Psychology, (2003) 54, S. 403 - 425. [7] Mazumdar, S., Learnihan, V., Cochrane, T., Davey, R.: The built environment and social capital: A systematic review. Environment and Behavior, 50, (2018) S. 119 - 158. [8] Ross, A., Searle, M.: A conceptual model of leisure time physical activity, neighborhood environment, and sense of community. Environment and Behavior (online first), 2018. [9] Sime, J. D.: Creating places or designing spaces? Journal of Environmental Psychology, 6, (1986) S. 49 - 63. [10] Riger, S., Lavrakas, P. M.: Community ties: Patterns of attachment and social interaction in urban neighborhoods. American Journal of Community Psychology, 9, (1981) S. 55 - 56. [11] Karremans, J., Finkenauer, C.: Affiliation, zwischenmenschliche Anziehung und enge Beziehungen. In: Jonas, K., Stroebe, W., Hewstone, M. (Hrsg.): Sozialpsychologie, Berlin/ Heidelberg: Springer. 6. Aufl. (2014) S. 401 - 437). [12] Skjaeveland, O., Gärling, T.: Effects of interactional space on neighboring. Journal of Environmental Psychology, 17, (1997) S. 181 - 198. [13] Skjaeveland, O., Gärling, T.: Spatial-physical neighborhood attributes affecting social interactions among neighbors. In: Aragones, J. I., Francescato, G., Gärling, T. (Hrsg.): Residential environments. London: Bergin & Garvey. (2002) S. 183 - 203. [14] Altman, I.: Privacy: A conceptual analysis. Environment and Behavior, 8, (1976) S. 7 - 29. [15] Suedfeld, P.: Polar psychology. An Overview. Environment and Behavior, 23, (1991) S. 653 - 665. [16] Benfield, J. A., Nurse Rainbolt, G., Bell P. A., Donovan, G. H.: Classrooms with nature views: Evidence of differing student perceptions and behaviors. Environment and Behavior, 47, (2015) S. 140 - 157. [17] Suedfeld, P., Steel, G. D. et al.: Explaining the effects of stimulus restriction: Testing the dynamic hemispheric asymmetry hypothesis. Journal of Environmental Psychology, 14, (1994) S. 87 - 100. [18] Kaplan, S.: The restorative benefits of nature. Toward an integrative framework. Journal of Environmental Psychology, 15, (1995) S. 169 - 182. [19] von Goethe, J. W.: Faust. Der Tragödie erster Teil: Vor dem Tor, S. 31. Berlin/ Leipzig: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. Dr. Antje Flade Diplom-Psychologin Angewandte Wohn- und Mobilitätsforschung (AWMF), Hamburg Kontakt: awmf-hh@web.de AUTORIN