Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2021-0017
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Mobilität im Stadtgebiet
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Andreas Krämer
Robert Bongaerts
Die Entwicklungen hin zu einer Verkehrswende im Stadtgebiet wurden durch den Ausbruch der Corona-Pandemie jäh unterbrochen und teilweise konterkariert. So geht zunächst der öffentliche Personenverkehr als Verlierer der Krise hervor, während die Akzeptanz des PKW zunimmt. Gleichzeitig gewinnt der Radverkehr, der bisher nur wenig als Element der Verkehrswende betrachtet wurde, an Bedeutung. Diese Entwicklung wird wahrscheinlich nachhaltig, also nicht reversibel sein und damit die zukünftige Verkehrsplanung in Städten bestimmen.
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66 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie Mobilität im Stadtverkehr - was wird durch COVID-19 anders? Die Diskussion um die zukünftige Mobilität in deutschen Städten ist bereits vor Ausbruch der Corona- Krise sehr intensiviert worden. Zuvor standen Überlegungen zu einem grundsätzlich kostenlosen ÖPNV während der Koalitionsverhandlungen im Frühjahr 2018, ab Frühjahr 2019 die Rechtsprechung zu den Dieselfahrverboten im Vordergrund [1]. Insgesamt wurde dabei entweder auf den ÖPNV oder aber auf die Nutzung des PKW innerhalb der Stadtgebiete fokussiert, weniger auf das Fahrrad. Trotz der objektiv klaren Argumente für eine Verbesserung der Fahrrad-Infrastruktur - eine Studie von Greenpeace unterstrich die Auswirkungen der Ausgaben der öffentlichen Haushalte für den Radverkehr [2] genauso wie die Untersuchung von Buehler und Pucher (2011) - war (und ist) die Bereitschaft der Kommunen und der Öffentlichkeit eher begrenzt, der Nutzung des Fahrrads als wesentliches Element der Verkehrswende einen größeren Stellenwert einzuräumen [3]. Auf diesen Sachverhalt haben die Autoren in einer früheren Publikation hingewiesen [4]. Durch den Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020 haben sich allerdings die Rahmenbedingungen dramatisch verändert, wie Canzler treffend ausführt [5]: „Sobald Autofahrspuren reduziert werden oder Parkplätze verschwinden sollen, ist meistens Schluss mit der Radwegeplanung … Doch in der Corona- Krise ist alles anders. Social Distancing, präziser eigentlich: Physical Distancing macht es möglich. Temporäre Infrastrukturen entstehen. Weltweit werden Straßen für Autos gesperrt, Flaniermeilen für Zufußgehende eingerichtet und phantasievoll abgetrennte Fahrradspuren angelegt.“ Vor diesem Hintergrund wird untersucht, welche nachhaltigen Struktureffekte Covid-19 für die Mobilität in Städten mit sich bringt und speziell welchen Beitrag die Nutzung des Fahrrads zur Verkehrswende leisten kann. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Mobilität im Stadtgebiet aus und welche Veränderungen ergeben sich in Hinblick auf die relative Wettbewerbsfähigkeit der Verkehrsmittel? Wie ist die Akzeptanz der Fahrradnutzung für die Mobilität im Stadtgebiet seit Ausbruch der Corona-Krise? Wie wird die Eignung des Wohnorts zur Nutzung des Fahrrads bewertet und welche Abhängigkeiten bestehen zwischen dieser subjektiven Bewertung und dem Grad der Fahrradnutzung und -akzeptanz? Welche länderspezifischen Unterschiede ergeben sich dabei? Welche Perspektiven ergeben sich für einzelne Verkehrsmittel nach Ende der Pandemie und als Hebel für die weiter angestrebte Verkehrswende? Studiendesign und Methodik: Nutzung von zwei Erhebungen im Vergleich Die Bewertung aus Verbrauchersicht basiert auf einer repräsentativen Onlinebefragung in vier europäischen Ländern (über 2 500 Personen ab 18 Jahren in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Schweden im November/ Dezember 2020 als Kooperationsprojekt der exeo Strategic Consulting AG und der Rogator AG). Als Vergleichsbasis dienen unter anderem Ergebnisse der Studie MobilitätsTRENDS 2018, um den Kontrast der Situation während und vor der Corona-Krisensituation herzustellen [6]. Mobilität im Stadtgebiet Gewinner und Verlierer in Zeiten der Pandemie und danach Corona-Krise, Stadtmobilität, Fahrrad, ÖPNV, Verkehrswende Andreas Krämer, Robert Bongaerts Die Entwicklungen hin zu einer Verkehrswende im Stadtgebiet wurden durch den Ausbruch der Corona- Pandemie jäh unterbrochen und teilweise konterkariert. So geht zunächst der öffentliche Personenverkehr als Verlierer der Krise hervor, während die Akzeptanz des PKW zunimmt. Gleichzeitig gewinnt der Radverkehr, der bisher nur wenig als Element der Verkehrswende betrachtet wurde, an Bedeutung. Diese Entwicklung wird wahrscheinlich nachhaltig, also nicht reversibel sein und damit die zukünftige Verkehrsplanung in Städten bestimmen. 67 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie Verkehrsmittelnutzung im Stadtgebiet in Zeiten der Corona-Pandemie Veränderte Mobilität im Stadtgebiet Bezüglich der Häufigkeit der Nutzung des Stadtverkehrs ergeben sich für die DACH-Länder relativ ähnliche Ergebnisse mit einer ausgewiesen hohen Relevanz des Stadtverkehrs für die Verbraucher: In 2020 geben rund 81 % der Befragten (2018: etwa 86 %) an, mindestens einmal pro Monat im Stadtverkehr unterwegs zu sein, rund 20 - 22 % sogar täglich oder fast täglich (2018: 35 - 47 %) [4]. Weniger stark ausgeprägt ist die Nutzung des Stadtverkehrs in Schweden. Bild 1 verdeutlicht die veränderte Mobilität im Stadtgebiet am Beispiel Deutschlands. Seit März 2020 hat sich der Anteil der Befragten mit täglicher Mobilität fast halbiert (22 % versus 42 %), der Anteil an Personen, die den Stadtverkehr gar nicht nutzen, gleichzeitig verdoppelt (9 % versus 4 %). Korrespondierend dazu weist eine Studie des ADAC (Nov. 2020) aus, dass der Anteil an Berufspendlern, die an fünf Tagen zum Arbeits- oder Ausbildungsplatz fahren, von 66 % vor der Krise auf 48 % gesunken ist (in der Messung im April 2020 zur Zeit des ersten harten Lockdowns betrug der Anteil sogar nur 32 %) [7]. Bei Bussen und Bahnen sind nicht nur sinkende Nutzerquoten bestimmbar, sondern der Grad der Ablehnung steigt gleichzeitig an. Verständlich ist daher, dass die sinkenden Fahrgastzahlen im öffentlichen Nahverkehr den kommunalen Verkehrsbetrieben ernste Zukunftssorgen bereiten [8]. Schließlich bedeutet dies für den ÖPNV in den Städten eine komplette Umkehr vom bestehenden Trend, berichten die Verkehrsbetriebe doch seit fast zwei Jahrzehnten von kontinuierlich steigenden Fahrgastzahlen. Die Gründe für den Nachfrageverlust sind einerseits direkt auf die Corona-Pandemie zurückzuführen (die Angst vor Ansteckungsgefahr ist aus Verbrauchersicht im ÖPNV besonders groß [9]), andererseits indirekt Folge einer verstärkten Tätigkeit im Homeoffice. So ist der ÖPNV gleich zweifach durch die Krise betroffen: Zum einen sinkt die Mobilität im Stadtgebiet, zum anderen findet eine Nachfrageverschiebung zu Lasten des ÖPNV statt [9]. Ein Gewinner unter den veränderten Rahmenbedingungen ist das Fahrrad: Der Anteil der Nutzer steigt in Deutschland auf 26 % an (2018: 19 %), der Anteil der Personen mit Fahrrad-Ablehnung sinkt (von 33 % in 2018 auf aktuell 25 %). Diese Strukturveränderungen werden auch in anderen Studien bestätigt. So weist der Mobilitätsmonitor 2020 des Instituts für Demoskopie Allensbach einen Anteil von 32 % der Studienteilnehmer (Okt. 2020) aus, die angeben, Corona-bedingt mehr Fahrrad zu fahren, 3 % geben eine geringere Fahrradnutzung an [10]. Zugewinne ergeben sich auch bei den Sharing- Anbietern, allerdings ist das niedrige Ausgangsniveau zu beachten. Das Beispiel Frankfurt am Main Die allgemein beschriebenen Verschiebungen in der Nutzung der Verkehrsmittel lassen sich auch am konkreten Beispiel der Stadt Frankfurt aufzeigen. Im Rahmen unterschiedlicher Studien wurde die Nutzung von Verkehrsmitteln vor der Corona-Krise (Erhebung im Februar/ März 2020, 12 Monate rückwirkend) und vor dem zweiten Lockdown (Oktober 2020, Perspektive ab März 2020) erforscht (Bild 2). In der Struktur der genutzten Hauptverkehrsmittel kommt eine eindeutige Nachfrageverschiebung zu 1) Frage in Nov./ Dez. 2020: Wie häufig sind Sie persönlich seit März 2020 im Stadtverkehr (eigener Wohnort oder andere Stadt) unterwegs? Identische Frage im Mai 2018 allerdings bezogen auf die letzten 12 Monate 2) Welche Verkehrsmittel nutzen Sie, wenn Sie innerhalb der Stadt unterwegs sind? - Geändert in 2020: Welche Verkehrsmittel nutzen Sie seit März 2020, wenn Sie innerhalb der Stadt unterwegs sind? Und: Welche dieser Verkehrsmittel kommen grundsätzlich nicht in Betracht, wenn Sie innerhalb der Stadt unterwegs sind? PKW (eigenes Auto) Bahn/ S-Bahn/ U- Bahn/ Straßenbahn Bus Fahrrad (eigenes) Mitfahrer im PKW CarSharing BikeSharing* Genutzt Kommt nicht in Frage Deutschland Mai 2018 Verkehrsmittel im Stadtverkehr 2) Deutschland Nov./ Dez. 2020 Jeden Tag Mehrmals pro Woche Monatlich oder seltener Nie Jeden Tag Monatlich oder seltener Nie Mai 2018 Nov./ Dez. 2020 Mehrmals pro Woche Mobilität im Stadtverkehr 1) * E-Roller wurden 2018 nicht einbezogen (im Vergleich nicht dargestellt) Bild 1: Mobilität in Städten sowie genutzte / nicht akzeptierte Verkehrsmittel (% der Befragten, D). © exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG 68 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie Lasten des ÖPNV (S-Bahnen, U-Bahnen, Straßenbahnen) und zugunsten des PKW, von Zu-Fuß-Wegen und des Fahrrads zum Ausdruck. Besondere Berücksichtigung sollte dabei finden, dass sich selbst bei Besitzern einer Zeitkarte (Stammkunden des ÖPNV) entsprechende Nachfrageverschiebungen manifestiert haben [11]. Die Gründe für die schlagartig angestiegene Attraktivität des Fahrrads als Fortbewegungsmittel sind leicht gefunden [12]. Das subjektive Ansteckungsrisiko ist nahe null, das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung ist nicht erforderlich, eine Bewegung an der „frischen Luft“ ist problemlos möglich. Der Boom bei den Absatzzahlen von Fahrrädern unterstreicht dies [13], deutet aber auch bereits darauf hin, dass es sich bei diesem kurzfristig eingetretenen Nachfrage-Shift möglicherweise nicht um eine vollständig reversible Reaktion handelt. Veränderte Wertschätzung für das Fahrrad Stadtverkehr aus der Perspektive der Radfahrer Aus den Fragen zur Nutzung des eigenen Fahrrads sowie der Akzeptanz des Fahrrads als Verkehrsmittel in der Stadt lassen sich drei Teilgruppen bilden (Bild 3): Die erste Gruppe (23 - 26 % der Befragten in der DACH-Region) nutzt das Fahrrad bereits aktuell. Die zweite Gruppe (48 - 52 %) nutzt das Fahrrad zwar nicht, es kommt als Verkehrsmittel in der Stadt Bild 2: Veränderte Verkehrsmittelnutzung im Stadtgebiet Frankfurt/ M. © exeo Strategic Consulting AG / traffiQ 1) Welche Verkehrsmittel nutzen Sie, wenn Sie innerhalb der Stadt unterwegs sind? Und: Welche dieser Verkehrsmittel kommen grundsätzlich nicht in Betracht, wenn Sie innerhalb der Stadt unterwegs sind? Segmentbildung Nutzung / Nichtakzeptanz Fahrrad. Fahrrad-Nutzung im Stadtverkehr Nov./ Dez. 2020 (seit Mrz. 20) Deutschland Österreich Schweiz Fahrrad genutzt 26% 23% 23% Fahrrad akzeptiert nicht genutzt 48% 52% 49% Fahrrad nicht akzeptiert 25% 25% 28% Summe 100% 100% 100% Fahrrad-Nutzung im Stadtverkehr Mai 2018 Deutschland Österreich Schweiz Fahrrad genutzt 19% 24% 20% Fahrrad akzeptiert nicht genutzt 47% 43% 48% Fahrrad nicht akzeptiert 33% 33% 32% Summe 100% 100% 100% Nutzung des Fahrrads im Stadtgebiet nach Regionen / Städten 1) Nutzung des Fahrrads im Stadtgebiet nach Altersklasse A B C A B C Untersuchung im Nov./ Dez. 2020 (seit Mrz. 20) Untersuchung im Mai 2018 A B C A B C Bild 3: Fahrrad-Nutzung im Stadtverkehr im DACH-Gebiet 2020 und 2018 (% der Befragten). © exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG PKW als Fahrer S-Bahnen U-Bahnen Straßenbahnen Busse Zug PKW als Mitfahrer Zu Fuß Fahrrad Mofa / Moped / Motorrad Sonstige Verkehrsmittel Taxi Mobile Personen in Frankfurt/ M. Studie 2: Okt. 2020 mit Fokus auf Mobilität während der Coronakrise (Bezug: Seit Mrz. 2020) Studie 1: Feb./ Mrz. 2020 mit Fokus auf Kundenwert (Bezug: Letzte 12 Monate ) Studienansatz Grundgesamtheit: Personen, die im Stadtgebiet Frankfurt am Main mobil waren. Rekrutierung über ein Online Access Panel. Validierung der Ergebnisse über vorliegende Sekundärdaten (intern / extern). n=885 n=1.001 Verkehrsmittel Ranking Häufigkeit** Am häufigsten genutztes Verkehrsmittel: Delta %-Punkte mit/ vor Corona Zeitkarten- Inhaber* Bartarif-Nutzer ÖPNV-Nicht- Nutzer Zeitkarten- Inhaber* Bartarif-Nutzer ÖPNV- Nicht- Nutzer Vor 31% 39% 22% 13% 14% 7% 6% 4% 6% 4% 5% 5% 5% 8% 5% 10% 5% 9% 1% 2% 1% 0% 0% 1% Mit Corona Saldo Prozent- Punkte ** Ranking nach Relevanz vor Ausbruch der Corona-Krise * Jahres- oder Monatskarte, Semester- oder Schülerticket, Job-/ Landesticket 69 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie jedoch in Frage. Für die dritte Gruppe (25 - 28 %) kommt das Fahrrad nicht in Frage. Im Vergleich zu den Ergebnissen der Vorstudie ist eine Präferenzverschiebung zugunsten des Fahrrads erkennbar. Die Verteilung dieser Gruppen ist - wie bereits in 2018 gemessen - stark altersabhängig: Während 14 % in der Altersklasse unter 30 Jahren das Fahrrad ablehnen, sind dies bei den Senioren bereits 37 %. Bewertung der Fahrrad-Eignung des Wohnortes Neben der Nutzung und Akzeptanz des Fahrrads wurden die Studienteilnehmer in der Erhebung 2020 auch gebeten zu bewerten, wie gut der Wohnort für die Nutzung des Fahrrads ausgerichtet ist (Anzahl/ Qualität der Radwege). Auf einer Skala von 0 (gar nicht) bis 100 (sehr gut) liegen für Deutschland die Werte im Durchschnitt bei etwa 57 Punkten und damit leicht unter Österreich (61 Punkte), der Schweiz (61 Punkte) und Schweden (62 Punkte). Auch der Punktebereich mit einer guten Bewertung (67 - 100 Punkte) ist in Deutschland relativ schwächer vertreten (Bild 4). Bei Verknüpfung dieser Ergebnisse mit der Struktur der genutzten Verkehrsmittel wird deutlich: Erhält der Wohnort eine Bewertung hinsichtlich der Fahrradeignung im Bereich 0 - 33 Punkte, liegt die Quote der Fahrradnutzer bei 12 % und die der Fahrrad-Ablehner bei 30 %. Gleichzeitig ist die Nutzung von Bussen und Bahnen vergleichsweise gering und die des PKW überdurchschnittlich verbreitet. Erhält der Wohnort bezüglich der Fahrradeignung eine Bewertung von 67 - 100 Punkten, liegt die Quote der Fahrradnutzer mit 36 % etwa drei Mal höher und die der -ablehner mit 17 % nur etwa halb so hoch. Die Bewertung der Fahrradeignung des Wohnorts steigt in Deutschland mit zunehmender Zahl der Einwohner zunächst stark an (rund 42 Punkte bei kleineren Orten bis 62 Punkte in Städten mit 100 000 bis 500 000 Einwohnern). In Großstädten fällt die Bewertung demgegenüber wieder etwas ab (59 Punkte). Reversibilität der Corona-bedingten Mobilitätsveränderungen Fahrradnutzung nach Ende der Pandemie Eine zentrale Frage besteht darin, ob sich die Corona-bedingten Veränderungen nach einer Beendigung der Pandemie wieder komplett auf das Ausgangsniveau von vor der Krise zurückführen lassen. Für die Nutzung des Fahrrads scheint dies nicht zwingend der Fall zu sein (Bild 5). Unterschiedliche Erhebungen deuten darauf hin, dass die Corona- Krise einen nachhaltig positiven Effekt auf den Modalanteil des Fahrrads in Städten haben kann [10]. In der eigenen Studie ergeben die Antworten auf die Frage „Wie werden Sie das Fahrrad innerhalb der Stadt nutzen, wenn die Corona-Krise beendet ist (das heißt mit Verfügbarkeit eines Corona-Impfstoffs)? “ vor allem in Deutschland und Österreich im Saldo eine positive Tendenz. Studienergebnisse 1) Wie gut ist Ihr Wohnort für die Nutzung des Fahrrads ausgerichtet (Anzahl / Qualität der Radwege)? Bitte vergeben Sie Punkte von 0 (gar nicht) bis 100 (sehr gut). 2) Welche Verkehrsmittel nutzen Sie seit März 2020, wenn Sie innerhalb der Stadt unterwegs sind? Und: Welche dieser Verkehrsmittel kommen grundsätzlich nicht in Betracht, wenn Sie innerhalb der Stadt unterwegs sind? PKW (eigenes Auto) Bahn/ S-Bahn/ U-Bahn/ Straßenbahn Bus Fahrrad (eigenes) Mitfahrer im PKW CarSharing BikeSharing E-Roller Genutzt Kommt nicht in Frage Verkehrsmittel im Stadtverkehr 2) Fahrradeignung 0-33 Punkte Fahrradeignung 67-100 Punkte Fahrradeignung des Wohnorts (ø Punkte) 1) 67-100 Punkte 34-66 Punkte 0-33 Punkte Verteilung Punkteklassen in % Zusammenhang Fahrradeignung Wohnort und Verkehrsmittelwahl 0 te te te Ve V rteilung Punkteklassen in % Bild 4: Fahrrad-Nutzung im Stadtverkehr im DACH-Gebiet 2020 und 2018 (% der Befragten). © exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG Bild 5: Fahrrad-Stellplätze als feste Größe der Stadtplanung, Beispiel Bonn. © exeo Strategic Consulting AG 70 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie des VCÖ (Verkehrsclub Österreich) zufolge rechnen etwa 60 % der Bevölkerung Österreichs damit, längerfristig mehr Rad zu fahren [14]. Wiederbelebung des ÖPNV Wie dargestellt wurde, ist der ÖPNV im Stadtgebiet besonders stark von Nachfrageeinbrüchen betroffen. Nach massiven Rückgängen während des ersten harten Lockdowns (März/ April 2020) war aber eine Wiederbelebung zu verzeichnen. Vor dem im November einsetzenden zweiten Lockdown erreichten die Fahrgastzahlen bereits wieder etwa 80 % des Vor-Krisen-Niveaus [15]. Im oben beschriebenen Beispiel Frankfurt/ Main lag die Nachfrage im September 2020 bei etwa 68 % des Vorjahresniveaus [11]. Ein vollständiges Erreichen des Vor-Krisen-Szenarios erscheint grundsätzlich möglich. Dabei wird es einerseits darauf ankommen, die derzeit sehr hohen subjektiven Infektionsängste zu verringern, anderseits müssen Fahrten, die zukünftig aufgrund einer verstärkten Homeoffice-Tätigkeit entfallen, durch andere Reiseanlässe ausgeglichen werden [9]. Rückführung des PKW-Verkehrs Bezugnehmend auf die verstärkte Bedeutung des PKW als Verkehrsmittel während der Pandemie kommt Dörre zum Schluss [16]: „Offenbar steigert die Corona-Krise die Gefahr einer Schädigung von Sektoren, die für eine nachhaltige Verkehrswende unverzichtbar sind“. Ob das für eine Mobilität in der Stadt dauerhaft gelten wird, darf bezweifelt werden. Zu ungünstig sind die Aussichten für die Auto-Nutzung in der Stadt, wenn sich die Gesellschaft wieder in Richtung Normalisierung bewegt [17]. In einem Szenario, welches eine Nachfrageerholung bei Fahrten mit Bussen und Bahnen im Stadtgebiet und eine erhöhte Mobilität mit dem Fahrrad unterstellt (siehe dazu auch die Abschätzung vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club [18]), wird der PKW wieder an Bedeutung verlieren. Durch die Entscheider in Politik und Kommunen kann dies auch weiter aktiv gesteuert werden. Ausblick: Das Fahrrad als zunehmend relevanter Baustein der Verkehrswende Während der Corona-Krise spielt das Fahrrad seine bisher bekannten Vorteile aus: Es verfügt als Verkehrsmittel in Städten über erhebliche Effizienzvorteile in Hinblick auf Energieverbrauch, Emissionen (keine Schadstoffbelastung, geringe bis keine Lärmbelästigung) und Flächenverbrauch. Krisenbedingt kommen weitere Vorteile hinzu, die in einer veränderten Wahrnehmung einer Fortbewegung „unter freiem Himmel“ mit wenig Kontaktmöglichkeiten besteht. Falls es gelingt, ein Szenario anzusteuern, bei dem das Fahrrad im Stadtgebiet einen höheren Modalanteil erreicht und sich die Nachfrage im ÖPNV erholt, aber die Spitzenauslastung reduziert wird (und damit der Komfort und die Attraktivität verbessert ist), könnten sich aus der Corona-Krise neben viel Leid und Isolation tatsächlich nachhaltig positive Effekte ergeben. Eine Wiedererstarkung der Verkehrsmittel im Umweltverbund nach Eindämmung der Pandemie wird unter anderem davon abhängig sein, wie Synergien zwischen Rad und ÖPNV besser genutzt werden können. Verschiedene Ansatzpunkte sind hier denkbar, zum Beispiel multimodale Angebote, Infrastrukturverbesserungen wie Mobilitätsknotenpunkte, Tarifänderungen wie Fahrradmitnahme als Zusatzleistung etc., um nur einige Punkte nennen. LITERATUR [1] Krämer, A., Bongaerts, R., Baake, J.-W.: Dieselfahrverbote in Großstädten. Hilft ein kostenloser ÖPNV? Rahmenbedingungen, Abhängigkeiten und die Perspektive der Menschen im Stadtverkehr. Der Nahverkehr, Jg. 36, Heft 10, (2018) S. 36 - 41. [2] Greenpeace: Radfahrende schützen - Klimaschutz stärken; Sichere und attraktive Wege für mehr Radverkehr in Städten, 2018. Abruf am 3. 1. 2021 unter https: / / www.greenpeace.de/ sites/ www.greenpeace. de/ files/ publications/ mobilitaet-expertise-verkehrssicherheit.pdf [3] Buehler, R., Pucher, J.: Cycling to work in 90 large American cities: new evidence on the role of bike paths and lanes. Transportation, 39 (2), (2012) S. 409 - 432. [4] Krämer, A., Bongaerts, R.: Fahrrad-Nutzung in Städten: Ein unterschätztes Verkehrsmittel. Transforming Cities, 4 (1), (2019) S. 60 - 65. [5] Canzler, W. (2020): Plötzlich geht alles. Corona und die gesellschaftlichen Folgen: Schlaglichter aus der WZB-Forschung, 2020. [6] Krämer, A., Hercher, J.: Der Weg ist das Ziel - länderübergreifende Studie zu Reiseverhalten und -trends. Research & Results, Heft 5, S. 42 - 43. [7] Meyer, H.: Corona und Mobilität: Mehr Homeoffice, weniger Berufsverkehr, 2020. Abruf am 24. 11. 2020 unter www.adac.de/ verkehr/ standpunkte-studien/ mobilitaets-trends/ corona-mobilitaet, letzter Zugriff 29. 12. 2020. [8] Friesecke, F.: Stadtplanung und Raumentwicklung in Zeiten vor und nach Corona. Zf V-Zeitschrift für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement, 145 (3), (2020) S. 144 - 149. [9] Krämer, A., Hercher, J.: ÖPNV: Kontaktängste und veränderte Arbeitsorganisation bestimmen die Nachfrageentwicklung bei Bussen und Bahnen in 2021, Presseinformation vom 12. 1. 2021. [10] Köcher, R.: Mobilitätsmonitor 2020. Institut für Demoskopie Allensbach, Berlin, 13. Oktober 2020; Abruf am 30. 12. 2020 unter https: / / www.acatech.de/ wp-content/ uploads/ 2020/ 10/ Ergebnispraesentation_Grafiken_mit_Logo_2.pdf [11] Krämer, A., Bongaerts, R., Reinhold, T., Schmitz, W.: ÖPNV-Nutzung im Stadtgebiet Frankfurt - Mobilität insgesamt und Nutzung von Bussen und Bahnen vor, während und nach der Krise. DER NAHVERKEHR, Jg. 39 (2021), Heft 1 - 2, im Druck. 71 1 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lehren aus der Pandemie [12] Hagen, T., Sunder, M., Lerch, E., Saki, S.: Verkehrswende trotz Pandemie? Mobilität und Logistik während und nach der Corona-Krise: Analysen für Hessen und Deutschland, 2020. [13] Geißler, R.: Absatz teilweise verdoppelt: Fahrrad- Boom hält an. MDR aktuell v. 24. Juli 2020, Abruf am 30. 12. 2020 unter https: / / www.mdr.de/ nachrichten/ wirtschaft/ inland/ fahrrad-boom-corona-100.html [14] VCÖ: 60 Prozent von Österreichs Bevölkerung rechnet künftig mit mehr Radverkehr. Pressemeldung v. 23. Oktober 2020, Abruf am 31. 12. 2020 unter https: / / w w w.vcoe.at/ presse/ presseaussendungen/ detail/ vcoe-60-prozent-von-oesterreichs-bevoelkerung-rechnet-kuenftig-mit-mehr-radverkehr [15] VDV: ÖPNV-Branche rechnet auch 2021 mit deutlichen Verlusten. Pressemeldung v. 13. 11. 2020, Abruf am 31. 12. 2020 unter https: / / www.vdv. d e / pre s s e . a s px ? id =2 f4 0 0 d 5fd 6 21- 475 3 - 8 b c 2- 31a146933652&mode=detail [16] Dörre, K.: Die Corona-Pandemie - eine Katastrophe mit Sprengkraft. Berliner Journal für Soziologie, 30 (2), (2020) S. 165 - 190. [17] Altermatt, S., Ehrbar, S. Müller, P.: Interview - SBB- Chef ist sechsfacher Vater - Luzerner Zeitung v. 19. 12. 2020; Abruf am 20. 12. 2020 unter https: / / www. luzernerzeitung.ch/ wirtschaft/ der-tod-meiner-frauhat-uns-alle-zusammengeschweisst-ld.2078239 [18] ADFC: Handlungsempfehlung für Kommunen. Bleibt alles anders: Corona und der (Rad)-Verkehr, 2020. Prof. Dr. Andreas Krämer exeo Strategic Consulting AG, Bonn Kontakt: andreas.kraemer@exeo-consulting.com Dr. Robert Bongaerts exeo Strategic Consulting AG, Bonn Kontakt: robert.bongaerts@exeo-consulting.com AUTOREN WISSEN WAS MORGEN BEWEGT Schiene, Straße, Luft und Wasser, globale Verbindungen und urbane Mobilität: Viermal im Jahr bringt Internationales Verkehrswesen fundierte Experten-Beiträge zu Hintergründen, Entwicklungen und Perspektiven der gesamten Verkehrsbranche - verkehrsträgerübergreifend und zukunftsorientiert. Ergänzt werden die deutschen Ausgaben durch englischsprachige Specials mit dem Titel International Transportation. Mehr dazu im Web unter www.internationales-verkehrswesen.de Internationales Verkehrswesen gehört seit 1949 zu den führenden europäischen Verkehrsfachzeitschriften. Der wissenschaftliche Herausgeberkreis und ein Beirat aus Professoren, Vorständen, Geschäftsführern und Managern der ganzen Verkehrsbranche verankern das Magazin gleichermaßen in Wissenschaft und Praxis. Das technisch-wissenschaftliche Fachmagazin ist zudem Wissens-Partner des VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld. INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN - DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN »Internationales Verkehrswesen« erscheint bei der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach, www.trialog-publishers.de
