Transforming cities
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expert verlag Tübingen
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Energiewende entscheidet sich in den Städten
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Die nachhaltige, klimafreundliche Gestaltung von Stadtquartieren zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Stadtplanung. Wichtig dabei sind Energieeffizienz und eine intelligente Vernetzung der verschiedenen Akteure. Im Interview erklären Gregor Grassl, Associate Partner der Drees & Sommer SE, und Iris Belle, Leading Consultant der Drees & Sommer SE, wie die Stadt der Zukunft aussieht – und woher sie ihre Energie bezieht.
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7 2 · 2021 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Welche Rolle spielen Städte für die Energiewende? Grassl: Städte spielen eine ganz zentrale Rolle, denn schließlich werden hier rund 80 Prozent der globalen Treibhausgase emittiert. Das liegt an der hohen Dichte an Infrastrukturen und der Vielzahl von Akteuren, was wiederum einen hohen Energiebedarf und einen starken Ressourcenverbrauch nach sich zieht. Wir haben viele Menschen, viele Gebäude und viel Verkehr - und damit ganz viel Potenzial, um Dinge besser zu machen, als sie momentan laufen. Belle: Ob wir die Energiewende schaffen und das in der EU und Deutschland diskutierte Ziel der Klimaneutralität erreichen, entscheidet sich insbesondere in den Städten. Deshalb muss die Politik Städte stärker in den Fokus nehmen. Ziel muss es sein, einen strategischen Orientierungsrahmen zu entwickeln, der urbane Räume in das nationale Zielsystem aufnimmt und auf die optimal benötigte Regelleistung lokaler Infrastrukturen und die Vernetzung der Akteure setzt. Ein strategischer Orientierungsrahmen - das klingt schon mal gut, aber was heißt das konkret? Belle: Nehmen wir etwa die Energieversorgung. Noch immer sind Energieverbraucher und Energieproduzenten meist getrennt: Die Energieverbraucher in der Stadt, die Erzeuger mit ihren großen Anlagen - seien es nun klassische Kraftwerke oder moderne Windparks - draußen. Es muss aber mehr Energie dort dezentral erzeugt werden, wo sie auch verbraucht wird und die Wege kurz sind. Das einfachste Beispiel dafür sind Photovoltaikanlagen für die Stromerzeugung, die durch entsprechende Fördermaßnahmen und dank einfacher Regelungen wirklich flächendeckend auf die Dächer gebracht werden sollten und auch dazu dienen können, Elektroautos aufzuladen, die für den Stadtverkehr ideal sind. Für die Wärmeerzeugung wiederum eignen sich einerseits Wärmepumpen, welche die Umgebungswärme nutzen, und andererseits effiziente Nahwärmenetze, welche die Abwärme von Industriebetrieben oder auch Rechenzentren als Wärmeenergie in die Gebäude bringen. Das klingt nach einem ziemlich komplexen Netzwerk? Belle: Das ist es auch. Bevor das komplexe Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Beteiligten aufgebaut und energetisch sinnvoll geordnet wird, müssen die jeweiligen Konzepte immer abhängig von den konkreten Gegebenheiten eines Quartiers entwickelt werden. Hier gilt es, im Vorfeld genau zu analysieren bis hin zu den Detailfragen. Beispielsweise: Wie kommt der Strom zur E-Auto-Ladestation auf dem Parkplatz? Welche baulichen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit die Dächer die Solaranlagen auch tragen können? Und wie werden Einspeisevergütungen und steuerliche Anreize ausgestaltet? Die Themen liegen außerhalb der klassischen Aufgaben für Stadtplaner, müssen aber bereits bei der Masterplanung berücksichtigt werden. Lokalpolitiker können hier initiieren, dass kommunale Fachämter sich bei der Ausarbeitung von Bebauungsplänen für die Spezialbereiche entsprechende Expertise mit ins Boot holen müssen. Das Ergebnis nennen wir einen Technischen Masterplan. Energiewende entscheidet sich in den Städten Die nachhaltige, klimafreundliche Gestaltung von Stadtquartieren zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Stadtplanung. Wichtig dabei sind Energieeffizienz und eine intelligente Vernetzung der verschiedenen Akteure. Im Interview erklären Gregor Grassl, Associate Partner der Drees & Sommer SE, und Iris Belle, Leading Consultant der Drees & Sommer SE, wie die Stadt der Zukunft aussieht - und woher sie ihre Energie bezieht. Bild 1: Das Blue-City- Konzept von Drees & Sommer berücksichtigt die vielschichtigen Wechselwirkungen von all dem, was eine Stadt ausmacht. © Drees & Sommer 8 2 · 2021 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Politiker und Stadtplaner, aber auch Projektentwickler denken bei solchen Vorhaben gerne in Stadtquartieren. Warum eigentlich? Grassl: Das Quartier hat einfach die ideale Größe: Es ist einerseits groß genug, um etwas bewegen zu können und Synergieeffekte zu heben, und andererseits klein genug, um nicht den Überblick zu verlieren. Das spiegelt sich auch in den verschiedenen Förderprogrammen etwa von KfW oder BAFA wider, die sich ausdrücklich auf Stadtquartiere beziehen. Da gibt es etwa das KfW-Programm 432 „Energetische Quartierssanierung“ oder das BAFA-Programm „Wärmenetze 4.0“, die jeweils energetische Verbes- Gregor Grassl studierte Architektur in München und ist seit 2007 bei Drees & Sommer für zahlreiche Projekte im In- und Ausland verantwortlich. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt im Bereich der nachhaltigen Stadt- und Quartiersentwicklung. Er leitet Projekte vom strategischen Beraten über Entwicklung von Klimaschutzkonzepten bis hin zur Infrastruktursystemplanung internationaler Großprojekte mit City BIM. 2009 rief Gregor Grassl in der DGNB die Arbeitsgruppen „Stadtquartiere“ und später auch „Gewerbe und Industriestandorte“ ins Leben und leitete diese. 2013 wurde er von der Zukunftsinitiative der Bundesregierung in die „Nationale Plattform Zukunftsstadt“ berufen. Zu seinen jüngsten Projekten zählen The Urban Tech Republic in Berlin sowie Springpark Valley in Bad Vilbel. Sein Wissen gibt er als Dozent im Studiengang Internationales Projektmanagement (IPM) an der Hochschule für Technik (Hf T) in Stuttgart und in seinem Buch „Nachhaltige Stadtplanung“ weiter. GREGOR GRASSL ASSOCIATE PARTNER DER DREES & SOMMER SE serungen in einem solchen abgegrenzten Bereich zum Ziel haben. Und die großen Projektentwickler haben das verinnerlicht und verwirklichen dann Projekte wie das Deutzer Hafen Quartier in Köln, das Schumacher Quartier auf dem Gelände des ehemaligen Berliner Stadtflughafens Tegel oder den Beiersdorf Campus in Hamburg, die diesen Quartiersgedanken schon im Namen tragen. Und die Summe der verschiedenen Quartiere bildet dann die Stadt. Das klingt ebenfalls nach Netzwerk. Wie wichtig ist den der Netzwerkgedanke in der Stadt der Zukunft? Grassl: Die Stadt der Zukunft ist eine vernetzte Stadt. Das bezieht sich sowohl auf die Vernetzung der verschiedenen Akteure und Quartiere als auch auf die technologische Vernetzung durch die Digitalisierung. Nur wenn die Vernetzung gelingt, kann auch die Gestaltung der urbanen Energiewende gelingen. Das kann man sich etwa am Beispiel der Stromversorgung gut vorstellen: Wenn wir mittelfristig nur noch auf grünen Strom setzen wollen, wird es Phasen geben, in denen viel Strom erzeugt wird, weil der Wind stark weht und die Sonne scheint, und Phasen, in denen gerade weniger Strom erzeugt werden kann. Dann muss die überschüssige Energie in den Hochphasen irgendwo gespeichert werden - und dazu bieten sich etwa die Akkus von Elektroautos oder auch die Warmwasserspeicher in Gebäuden an. Und in Phasen, in denen gerade wenig Strom bereitgestellt werden kann, gibt es eben keinen Strom an den E-Auto-Ladestationen. Hier ist dann die digitale Nutzung energiebezogener Daten ganz entscheidend, denn nur dann können die Sektoren Strom, Wärme und Mobilität so miteinander verkoppelt werden, dass die vorhandene Energie effizient und sinnvoll genutzt werden kann. Gibt es solche intelligenten, vernetzten Projekte schon oder ist das noch Zukunftsmusik? Belle: Auf Quartiersebene gibt es schon solche Projekte. Ein Vorreiter in diesem Bereich ist zum Beispiel das aktuell in der Berliner Europa City entstehende Quartier Heidestraße. Eine eigens entwickelte Quartiers-App soll dort die künftigen Nutzer und Mieter miteinander vernetzen und ihnen ermöglichen, sich über Nachbarschaftsangelegenheiten auszutauschen und Service-Angebote wahrzunehmen. In den Bürogebäuden unterstützen die ebenfalls appbasierten Raumnutzungssysteme später die Büroorganisation. Heizung, Kühlung, Lüftung, Jalousien und vieles mehr lassen sich dann ebenso in den Wohnbereichen automatisch steuern. Auch der Energieverbrauch wird dadurch für Nutzer transparent und kann weiter optimiert werden. Bild 2: Mit dem Quartier Heidestraße in Berlin entsteht ein Vorzeigebeispiel für energieeffiziente Bauweisen, zukunftsweisende Mobilitätskonzepte und eine umfängliche Vernetzung. © Quartier Heidestraße 9 2 · 2021 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Iris Belle studierte Architektur an der TU Karlsruhe und promovierte 2013 an der Universität Heidelberg in Geografie. Nach beruflichen Stationen in China, Singapur und der Schweiz fing sie 2019 als Projektpartnerin bei Drees & Sommer an. Ihr Aufgabenbereich im Team Smart City Development umfasst die Entwicklung von Nachhaltigkeits- und Digitalisierungskonzepten für Stadtquartiere im In- und Ausland. Als Leading Consultant bei Drees & Sommer berät sie öffentliche und private Auftraggeber und entwickelt Konzepte, um Städte lebenswerter zu machen. Dabei stützt sie sich auf ihre Forschung und Erfahrung zu Auswirkungen sozio-technischer Systeme auf die gebaute Umwelt. Aktuell begleitet sie Projekte wie die Quartiersentwicklung York und Oxford auf den Konversionsflächen in Münster. Ihr Wissen gibt Iris Belle als Lehrbeauftragte an der Stuttgarter Hochschule für Technik im internationalen Masterstudiengang Smart City Solutions weiter. DR. IRIS BELLE LEADING CONSULTANT DER DREES & SOMMER SE Grassl: Es sind schon eine ganze Reihe weiterer Städtebau-Projekte ähnlicher Machart in Planung. Nehmen Sie etwa die Urban Tech Republic in Berlin: Hier wird eindrucksvoll demonstriert, dass auch alte Netzstrukturen in höchst moderne Low-Exergie- Netze gewandelt werden können. Sowohl Bestand als auch Neubau werden auf diese Weise klimaschonend versorgt. Diese Innovation führt zudem nicht nur zu Energieeffizienz, sondern ist langfristig auch kostengünstig. Auch durch neuartige Betreibermodelle werden solche Lösungen für Entwickler wirtschaftlich attraktiv. So haben sich auf unser innovatives Infrastrukturkonzept zahlreiche Unternehmen in einem Vergabeverfahren beworben, deren Gewinner nun die innovative Infrastruktur errichten und betreiben wird. Den späteren Bewohnern und Nutzern bietet das eine optimale Versorgung, auch im Sinne der Nachhaltigkeit ausgezeichnet mit dem höchsten Quartierszertifikat der DGNB. Unser technischer Masterplan hat für dieses Projekt Synergien zwischen der Wasserinfrastruktur zur Rückkühlung des Low-Exergie-Netzes und unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten mit der E-Mobilität gefunden. Das zeigt eindrucksvoll, wie wichtig die Vernetzung der verschiedenen Sektoren ist, um mehr Energieeffizienz zu verwirklichen. Wie lautet denn Ihre Vision für die Stadt der Zukunft? Grassl: Die Stadt der Zukunft ist eine, die sich selbst mit Energie versorgt und in der alle Gebäude miteinander vernetzt sind. Dabei gibt es ausschließlich Erneuerbare Energien und zugleich einen höheren Wohlfühlfaktor, weil die Luftqualität besser ist: Autos sind elektrisch oder mit Wasserstoff unterwegs, wir haben intelligente, bedarfsgerechte ÖPNV-Konzepte und die Dächer werden entweder mit Dachgärten begrünt oder mit Photovoltaikanlagen versehen und zur Stromerzeugung genutzt. Belle: Aber wir müssen natürlich auch die Vergangenheit bewahren: Hierzulande gibt es wunderschöne historische Gebäude. Die sollte man nicht kaputt sanieren, sondern man kann sie in ein intelligentes Energiekonzept mit einbeziehen - sie können dann von modernen Aktivhäusern in der Nachbarschaft mitversorgt werden. Dies wird auch rechtlich mit dem neuen Gebäudeenergiegesetz vereinfacht. Auf diese Weise kann eine Symbiose von Alt und Neu gelingen. Auch wenn wir die Infrastrukturnetze in urbanen Räumen neu erfinden, können wir den Gebäudebestand weiterbauen. So bewahren wir den Charakter, der unsere Städte zur Heimat für ihre Bewohner macht und bieten den Bewohnern ein Stück Lebenskultur, das Bauphysik und Infrastrukturplanung allein nicht erreichen. Das ist wichtig, denn die Energiewende kann nur mit den Menschen gelingen. Bild 3: Auf der Fläche des ehemaligen Flughafens Berlin- Tegel entsteht ein innovativer und nachhaltiger Forschungs- und Industriepark für urbane Technologien: „Berlin T XL - The Urban Tech Republic“. Anfang 2016 wurde das Vorhaben als erstes Gewerbequartier weltweit mit dem DGNB- Nachhaltigkeits- Vorzertifikat in Platin ausgezeichnet. © Atelier Loidl_Tegel Projekt GmbH
