Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2021-0037
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Hoch hinaus mit dem Projekt „coLLab“ der HFT Stuttgart
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Annabell Gronau
Jonas Stave
Jan Cremers
Derzeit leben mehr als zwei Drittel der Bevölkerung Europas in städtischen Gebieten. Während die Tendenz steigt und immer mehr Menschen in die Städte ziehen, fehlt es bereits jetzt an bezahlbarem Wohnraum. Die Nachfrage in dicht bebauten Städten impliziert die Frage, wo und wie dieser neue Raum geschaffen werden soll. Weitere Flächenversiegelung würde die Überhitzung von Städten beschleunigen und die Kaufwerte für baureifes Land in den Städten sind laut Deutschlandstudie 2019 so hoch wie noch nie. Eine Möglichkeit, um sowohl der wachsenden Nachfrage nach Wohnraum als auch den steigenden Grundstückspreisen im Hinblick auf nachhaltiges Bauen gerecht zu werden, stellt die Nach- verdichtung von Bestandsstrukturen dar.
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63 2 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Umbau zur Stadt der Zukunft Im Rahmen des internationalen Wettbewerbs Solar Decathlon Europe 2021 beschäftigt sich ein interdisziplinäres Team aus Studierenden, Mitarbeitenden und Lehrenden der Hochschule für Technik Stuttgart im Projekt „coLLab“ mit innovativen und übertragbaren Lösungsansätzen zur urbanen Nachverdichtung. Unter Berücksichtigung von Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und verantwortungsbewusstem Umgang mit Ressourcen und Bauland sollen durch Sanierung, Revitalisierung und Erweiterung des Hoch hinaus mit dem Projekt „coLLab“ der HFT Stuttgart Urbane Nachverdichtung als Lösungsvorschlag bei innerstädtischem Wohnraummangel Annabell Gronau, Jonas Stave, Jan Cremers Derzeit leben mehr als zwei Drittel der Bevölkerung Europas in städtischen Gebieten. Während die Tendenz steigt und immer mehr Menschen in die Städte ziehen, fehlt es bereits jetzt an bezahlbarem Wohnraum. Die Nachfrage in dicht bebauten Städten impliziert die Frage, wo und wie dieser neue Raum geschaffen werden soll. Weitere Flächenversiegelung würde die Überhitzung von Städten beschleunigen und die Kaufwerte für baureifes Land in den Städten sind laut Deutschlandstudie 2019 so hoch wie noch nie [1]. Eine Möglichkeit, um sowohl der wachsenden Nachfrage nach Wohnraum als auch den steigenden Grundstückspreisen im Hinblick auf nachhaltiges Bauen gerecht zu werden, stellt die Nachverdichtung von Bestandsstrukturen dar. Bild1: Visualisierung der Sanierung und Aufstockung des „Bau 5 - Kompetenzzentrum für Mobilität und Verkehr“ der HFT Stuttgart. © Mikhail Kuznetsov 64 2 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Umbau zur Stadt der Zukunft Bestandes lebenswerte, soziale und lebendige Orte entstehen. Im konkreten Fall werden ein typisches Verwaltungsgebäude im Bestand saniert und für eine Wohnnutzung aufgestockt sowie Konzepte für den umliegenden öffentlichen Raum entwickelt. Auf lokaler Ebene soll das Projekt bezahlbaren Wohnraum mithilfe nachhaltiger Finanzierungskonzepte bereitstellen und, global betrachtet, durch klimagerechtes Bauen einen Beitrag zu Klimaschutz und -anpassung leisten. Ein gebauter Ausschnitt dieser gesamtheitlichen Planung im Maßstab 1 : 1, das sogenannte Demonstrationsgebäude, steht 2022 im Wettbewerb zu Projekten 17 weiterer internationaler Hochschulteams, die sich ebenfalls mit der Frage der Nachverdichtung des urbanen Raums beschäftigen. Ergebnisse aus Lehre und Forschung finden damit konkrete Anwendung und werden mithilfe von Wirtschaftspartnern real umgesetzt. Bestandsgebäude Bau 5 Das Bestandsgebäude, genannt „Bau 5“, ist Teil des Campus der Hochschule für Technik Stuttgart im Herzen der Stadt. Es wurde in den 1950er Jahren überwiegend aus Stahlbetonfertigteilen erbaut und fällt durch eine vertikal gegliederte Fassade aus Stahlbetonstützen und -lisenen auf. Die tragenden Innenwände der langen Büroflure und massive Flach- und Rippendecken aus Beton machen den Bau 5 zu einem typischen Vertreter seiner Zeit und damit zu einem exemplarischen Studienobjekt für die Sanierung und Aufstockung von Bestandsgebäuden. Dieser prototypische Charakter des Bau- 5 ebnet den Weg für eine spätere Übertragbarkeit des Konzeptes und macht das Projekt relevant im Kontext der städtischen Nachverdichtung über die eigenen Landesgrenzen hinaus. Im Gegensatz zum angrenzenden Stadtteil Stuttgart-West, der durch gründerzeitliche Wohnblöcke, dichte Bebauung und kleinteiligen Einzelhandel geprägt ist, erscheint der Campus mit monolithischen Büro- und Hochschulgebäuden und weitläufigen Strukturen alles andere als urban. Das Areal ist von mehrspurigen Straßen umgeben und wirkt abgeschottet vom nur acht Geh-Minuten entfernen Zentrum Stuttgarts, dem Schlossplatz. In den Abendstunden sind hier kaum noch Menschen anzutreffen, lediglich der angrenzende Stadtpark wird für Freizeitaktivitäten genutzt. Ziel ist es, durch Umnutzung und Revitalisierung des Bestandes sowie durch die Aufstockung neue Wohn- und Arbeitsformen direkt auf dem Campus zu etablieren. Dazu werden neben wenigen Privaträumen diverse, großzügige Flächen zur gemeinschaftlichen Nutzung zur Verfügung gestellt, die sich die neuen Bewohner*innen ihren Bedürfnissen entsprechend aneignen können. Auf dem Campus soll zukünftig gewohnt, gearbeitet, gelehrt, geforscht und gelebt werden und das auch nach 18-Uhr. Durch weitreichende Mobilitätskonzepte und Sharing-Angebote soll die Zugänglichkeit des Areals verbessert und der motorisierte Personenverkehr weitgehend reduziert werden und somit ein lebenswertes auf den menschlichen Maßstab angepasstes Quartier entstehen. Dabei ist das Projekt „coLLab“ selbst Reallabor an der Hochschule und versucht, durch neu etablierte Strukturen Transferprozesse anzustoßen: Was wird benötigt, um interdisziplinäre Arbeit in größerem Maßstab zu ermöglichen? Welche Strukturen müssen vorhanden sein, um Menschen aus verschiedenen Bereichen zusammenzubringen und das soziale Miteinander zu stärken? Welche Art von Räumen muss dafür verfügbar sein? Welche Firmen aus der Region können als Partner in den Planungsprozess eingebunden werden? Und wie lässt sich der urbane Raum, unter anderem durch lokal angesiedelte Projekte und Initiativen, bereits jetzt konkret umgestalten - beispielsweise durch selbst gebaute Stadtmöbel oder durch Bepflanzung? Diese Fragen und Erkenntnisse aus der eigenen Arbeitsweise und -umgebung werden in das Raumprogramm für die Sanierung und Umnutzung des Bau 5 sowie die Gestaltung des umliegenden öffentlichen Raums mit einfließen. Übertragbarkeit Um die Übertragbarkeit des Konzeptes zu gewährleisten, werden verschiedene bauliche und energetische Maßnahmen angewendet, die vor allem durch Parametrisierung und Simulation optimiert und Bild 2: Campus der HFT Stuttgart aus der Vogelperspektive. © Jürgen Pollak, Nachbearbeitung: Clarissa Werner 65 2 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Umbau zur Stadt der Zukunft durch ihren hohen Grad an Modularität auf andere Situationen übertragen werden können. Die Tragstruktur der Aufstockung basiert auf einem adaptierbaren Holzskelett, dem sogenannten Grid, das auf die bestehende Lastabtragung angepasst wird. In modularer Holzbauweise mit einem hohen Vorfertigungsmaß werden Wohn- und Funktionsmodule in das Holzskelett eingeschoben und gegeneinander versetzt. Diesen Modulen südlich vorgelagert sind Grün- und Begegnungsflächen zur gemeinschaftlichen Nutzung wie beispielsweise Flächen für Urban Gardening, Sitzmöglichkeiten etc. Im Rastermaß des Bau 5 wird das Grid entlang der Fassade bis zum Boden geführt, um einerseits die Symbiose zwischen Bestand und Aufstockung architektonisch zu visualisieren und andererseits die für die Aufstockung benötigte Versorgungsinstallation geschickt zu integrieren. Am Grid wird eine Netzstruktur aus Seilen befestigt, die in gestalterisch und funktional optimierter Weise mit einzelnen organischen Photovoltaik-Zellen (OPV) belegt wird. Die vorgehängte Fassade wird dabei so ausgerichtet, dass sie sowohl zusammen mit einer auf dem Dach angebrachten PV-Anlage zur energetischen Versorgung von Bestand und Aufstockung beiträgt, dem sommerlichen Wärmeschutz dient, als auch Lichtdurchlässigkeit vor allem in den Wohnmodulen garantiert. So ergibt sich je nach Standort und Ausrichtung ein spezifisches Fassadenbild, welches im Planungsprozess durch parametrische Optimierung vergleichsweise schnell an die jeweilige Situation angepasst werden kann. Mit dem Projekt soll der Grundstein für ein modulares Aufstockungssystem gelegt werden, welches über die Systemgrenze einzelner Gebäude hinaus gesamtheitliche Konzepte betrachtet, um nachhaltige, innovative und lebenswerte Quartiere aus dem Bestand zu entwickeln. Urbane Nachverdichtungen haben ein vielversprechendes Potenzial, um der steigenden Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum in städtischen Gebieten gerecht zu werden und in Verbindung mit klima- und menschengerechter Bauweise einen wesentlichen Beitrag zur Wende des Bausektors in Richtung Nachhaltigkeit zu leisten. LITERATUR: [1] Technische Universität Darmstadt: Deutschland Studie 2019, Wohnraumpotenziale in urbanen Lagen (2019), S. 26. Bild 3: Visualisierung der Aufstockung von Bau 5 mit Holzkonstruktion und Gemeinschaftsflächen. © Mikhail Kuznetsov Annabell Gronau, M.A. Akademische Mitarbeiterin Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: annabell.gronau@hft-stuttgart.de Jonas Stave, M.Sc. Akademischer Mitarbeiter Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: jonas.stave@hft-stuttgart.de Prof. Dr.-Ing. Jan Cremers Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: jan.cremers@hft-stuttgart.de AUTOR*INNEN