Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2021-0050
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Das Biodiversitätsgründach
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Gunter Mann
Neben der aus aktuellem Anlass im Blickpunkt stehenden Punkte Überflutungs- und Überhitzungsvorsorge spielen immer noch „Artenschutz“ und „Biodiversität“ eine große Rolle. Es wird zwar viel über Artenvielfalt und „Biodiversitätsgründächer“ gesprochen, die Umsetzungsrate ist allerdings noch viel zu gering. Immerhin hat sie in den letzten Jahren, aufgrund von kommunalen Vorgaben, auffällig zugenommen. Im vorliegenden Beitrag sollen die wichtigsten Aspekte von Biodiversitätsgründächern erläutert werden.
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22 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Mit Strukturvielfalt höhere Artenvielfalt erreichen Dachbegrünungen vereinen eine Vielzahl positiver Wirkungen. Eine der vielleicht wichtigsten und verständlichsten Argumente „pro Gründach“ ist die Funktion als „ökologischer Ausgleich“ bzw. „Minderungsmaßnahme“. Zur Biotopvernetzung und als Erhalt der Artenvielfalt, insbesondere in der Stadt, können begrünte Dächer je nach Ausbildung Funktionen als Ersatzlebensraum, Trittsteinbiotop und teilweise als Ausgleichsfläche übernehmen. Arten- und strukturreiche Biodiversitätsgründächer können als Minderungsmaßnahme für den Eingriff in die Natur anerkannt werden. Gründach ist nicht gleich Gründach - je nach Aufbauhöhe und Vegetation unterscheidet man grundsätzlich zwischen den beiden Begrünungsarten Extensiv- und Intensivbegrünung. Die Übergangsform wird als „Einfache Intensivbegrünung“ bezeichnet. Die Höhe des Schichtaufbaus (Dränage und Substrat) und die damit verbundene Wasserspeicherfähigkeit gibt vor, welche Vegetationsformen sich daraus bilden. Diese nehmen unter anderem auch Einfluss auf die Lebensraumqualität für Tiere. In Abhängigkeit von Begrünungsart und Vegetationsformen sind folgende Charakteristika hinsichtlich der Tierwelt zu beobachten: von der „Moos-Sedum-Begrünung“ (extensiv) bis zur „Hohe Stauden- und Sträucher-Begrünung“ (intensiv) ist ein kontinuierlicher Anstieg der Bodentierarten (Asseln, Schnecken, Regenwürmer, Hundert- und Tausendfüßer) zu verzeichnen. Das Extrembiotop „Extensivdach“ wird oftmals nur temporär von sehr mobilen Tierarten (Spinnen, Heuschrecken, Wildbienen und weiteren „Fluginsekten“) besiedelt und unterliegt einer hohen Besiedlungsdynamik und fortlaufenden Zu- und Abwanderungsprozessen. Die meisten Tierpopulationen bei Extensivbegrünungen sterben aufgrund des winterlichen Durchfrierens des Substrates bzw. aufgrund der sommerlichen Trockenheit aus und müssen im Folgejahr das Dach neu besiedeln. Dagegen finden alle Tiere, also auch die großen Bodentiere, auf Intensivbegrünungen bessere Lebensbedingungen hinsichtlich Nahrung und Habitaten. Temperatur- und Feuchteverhältnisse sind relativ ausgeglichen, und durch die hohen Substratschichten sind auch im Winter frostfreie Rückzugsmöglichkeiten gegeben. Auch für Vögel kann das Gründach ein idealer, da vor Katzen, Hunden, Füchsen und anderen Fressfeinden geschützter Rückzugsraum für Nahrungsaufnahme und Brutpflege sein. Extensivbegrünungen mit Anhügelungen und Einfache Intensivbegrünungen mit einer Wildstauden-Gehölze-Vegetation weisen aufgrund ihrer hohen Struktur- und Habitatvielfalt die höchste Zahl an Tierarten auf, sowohl bei der Bodenfauna als auch bei Laufkäfern und Wildbienen. Je artenreicher die Vegetationsform, desto höher ist die Artenvielfalt. Die Artenzahlen der verschiedenen Bodentiergruppen sind bei bestimmten Dachbegrünungen durchaus mit den Werten anderer Stadtbiotope vergleichbar. Das Biodiversitätsgründach Trittsteinbiotop, Lebensraum und Beitrag zum Artenschutz Dachbegrünung, Biodiversität, Stadtbiotope Gunter Mann Neben der aus aktuellem Anlass im Blickpunkt stehenden Punkte Überflutungs- und Überhitzungsvorsorge spielen immer noch „Artenschutz“ und „Biodiversität“ eine große Rolle. Es wird zwar viel über Artenvielfalt und „Biodiversitätsgründächer“ gesprochen, die Umsetzungsrate ist allerdings noch viel zu gering. Immerhin hat sie in den letzten Jahren, aufgrund von kommunalen Vorgaben, auffällig zugenommen. Im vorliegenden Beitrag sollen die wichtigsten Aspekte von Biodiversitätsgründächern erläutert werden. Bild 1: Artenreiche Dachbegrünung als Minderungsmaßnahme für Eingriffe in die Natur. © BuGG 23 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Wie wichtig Rückzugsbereiche für frost- und trockenheitsempfindliche Bodentiere sind, zeigen die Untersuchungsresultate der mit Anhügelungen aufgewerteten Extensivbegrünungen: Der Anteil der Dächer mit Bodentieren steigt im Vergleich zu dünnschichtigen Extensivbegrünungen deutlich an. Mit höher werdendem Substrataufbau und der damit verbundenen steigenden Vegetationsausprägung und Pflanzenhöhe steigt auch die Wahrscheinlichkeit, Bodentiere zu finden. Analog mit der Wahrscheinlichkeit, überhaupt Bodentiergruppen zu finden, steigt auch die Anzahl der gefundenen Arten. Durch das dauerhafte Vorkommen größerer Bodentierpopulationen erhöht sich das Ressourcenspektrum einer Dachbegrünung um mögliche Beutetiere für andere Tiere in der Nahrungspyramide. Definition „Biodiversitätsgründach“ Unter einem „Biodiversitätsgründach“ ist eine Dachbegrünung mit hoher Struktur- und Artenvielfalt zu verstehen, die Tieren weitere Lebensräume bieten. Durch eine erhöhte Struktur- und Pflanzenvielfalt auf dem Dach wird die Artenvielfalt der Fauna nachhaltig gefördert. Vereinfacht dargestellt, gibt es zu den „Biodiversitätsgründächern“ zwei Varianten, ausgeprägt als: Höherwertige Extensivbegrünung Einfache Intensivbegrünung In der Regel geht man bei einem „Biodiversitätsgründach“ von einer extensiven Dachbegrünung aus, die durch verschiedene Maßnahmen aufgewertet ist. Es können auch Intensivbegrünungen eine hohe Artenvielfalt aufweisen, wenn sie gezielt mehr auf die Tiere und weniger auf den Menschen ausgerichtet sind - was durch Pflanzenauswahl und Nutzungsart erreicht wird. Fazit: Artenreiche Dachbegrünung plus Biodiversitätsbausteine gleich „Biodiversitätsgründach“. Vegetationstechnik und Gründachschichtaufbau Der Basis-Aufbau eines kostengünstigen Biodiversitätsgründaches in Form einer mehrschichtigen Extensivbegrünung mit einer Gesamtaufbauhöhe von 10 - 15 cm sieht wie folgt aus: etwa 2 - 4 cm Dränschicht (Kunststoff- oder Schüttgüterdränage) Filtervlies etwa 6 - 12 cm Vegetationstragschicht Sedum-Gras-Kraut-Vegetation Der Basisaufbau von 10 - 15 cm wiegt im wassergesättigten Zustand etwa 120 - 180 kg/ m² und kann sowohl auf Dächern mit und ohne Gefälle eingesetzt werden. Schon allein dieser Aufbau bietet (gegenüber einer einfacheren Sedum-Begrünung) neben den vielen positiven Wirkungen (unter anderem Regenwasserrückhalt, Kühleffekte, Hitze- und Kälteschutz, Lärmminderung) ein sehr gutes Kosten-Nutzen- Verhältnis und lässt zudem viele Gestaltungsmöglichkeiten und eine große Artenvielfalt zu. Sind die statischen Möglichkeiten gegeben, sind höhere Gründachaufbauten zu befürworten. Um die ökologische Wertigkeit noch zu erhöhen, sind weitere Maßnahmen in Form von „Biodiversitätsbausteinen“ zu ergänzen. Werden dabei Substratanhügelungen verwendet, sind folgende zusätzliche Lasten zu berücksichtigen: pro Zentimeter Substrat fallen je Quadratmeter etwa 12 - 14 Kilogramm an. Andere Biodiversitätsbausteine (beispielsweise Steinhaufen) sind als zusätzliche Punktlasten statisch zu berücksichtigen. Biodiversitätsbausteine/ Habitatelemente Nachfolgend sind verschiedene Maßnahmen aufgeführt, die zu einer höheren Struktur- und damit auch zu einer höheren Artenvielfalt der Fauna führen. Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und muss fortlaufend den Praxiserfahrungen angepasst werden. Substratmodellierungen mit Bereichen höherer Substratauflage (Substrathöhen von ca. 10 - 20 cm) für ein breiteres Pflanzenspektrum Partielle Substratanhügelung mit einer Aufbauhöhe von etwa 30 - 40 cm und Pflanzung von anspruchslosen Gehölzen (zum Beispiel: Zwergkiefer, Felsenbirne, Ginster) und Stauden als Rückzugsmöglichkeiten für frost- und trockenheitsempfindliche Bodentiere Pflanzenauswahl mit Blühzeitraum von April bis Oktober Gezielte Pflanzenauswahl (etwa spezielle Futterpflanzen für Insekten und Vögel) Bild 2 (oben): Biodiversitätsbausteine: Substratmodellierung, Totholz und Steinhaufen. © BuGG Bild 3 (unten): Artenreiche Dachbegrünung mit vielfältigen Blühaspekten als Maßnahme zum Erhalt der Artenvielfalt. © BuGG 24 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Sandflächen als weiteres Mikro-Habitat Totholz als Haufen oder Einzelstrukturen als Lebensraum, Versteck oder Nisthilfen Industriell gefertigte Nisthilfen für Insekten und Vögel Steine als Haufen oder Einzelstrukturen als Versteck oder Nisthilfe Wasserflächen. Ausprägung von kleinen „Pfützen“ bis hin zu Teichen. Meist temporär ausgebildet, das heißt: Sie füllen sich durch Niederschlagswasser. Diese können auch mit einem dauerhaften Wasserstand über automatische Wasserzufuhr (Regenbzw. Trinkwasser) angelegt werden Pflanzenauswahl Bei der Pflanzenverwendung sollte auf bewährte Pflanzenarten heimischer Herkunft geachtet werden, die als Saatgutmischung in Verbindung mit Sedumsprossen oder als Flachballenstauden ausgebracht werden. Oftmals bieten Dachbegrünungssystemanbieter geeignete Saatgutmischungen an. Diese Artenzusammenstellungen haben sich auf dem Extremstandort „Dach“ bewährt und sind aufgrund von Erfahrungen vieler Jahrzehnte entstanden. Durch wissenschaftliche Untersuchungen untermauert und dank besserer Verfügbarkeit auch besser umsetzbar, bietet der Einsatz gebietseigener Wildpflanzen (aus zertifiziertem Regiosaatgut, samenhaltigem Mahdgut oder Rechgut aus regionaltypischen Magerrasen) weitere Möglichkeiten naturnaher Dachbegrünungen. Regionale Saatgutmischungen werden auch immer häufiger von kommunaler Seite aus vorgeschrieben. Zu bedenken ist, dass diese Mischungen zwar auch auf den vorgenannten „klassischen“ Gründachaufbauten mit Substraten nach den FLL-Dachbegrünungsrichtlinien und den „üblichen“ Aufbauhöhen aufgebracht werden können, sich jedoch ein anderes Vegetationsbild im ersten Jahr und den Folgejahren zeigen wird, als wir es bisher (aus eigener Erfahrung oder Fachliteratur und Werbebroschüren) gewohnt sind. Es gibt einerseits eine andere Zusammensetzung aus ein- und mehrjährigen Arten und andererseits oftmals keine Langzeiterfahrungen, wie sich die Vegetation auf dem Dach bei relativ geringen Vegetationstragschichten (gegenüber dem gewachsenen Boden) entwickeln wird. Das heißt auch, dass wir uns mit neuen Pflegekonzepten beschäftigen müssen, was in diesem Beitrag nicht vertieft wird. Zusammenfassung Fast jedes Gründach kann mit relativ geringem Mehraufwand artenreicher ausgebildet werden, auch wenn es nicht zwingend gleich als „Biodiversitätsgründach“ gelten muss. Auch wenn es dazu keine klare Definition gibt, so ist damit dennoch eine Dachbegrünung mit auffällig hoher Struktur- und Artenvielfalt und besonderen Ausstattungselementen (zum Beispiel: Substratanhügelungen, Nisthilfen, Wasserflächen) gemeint. Je struktur- und pflanzenartenreicher ein Dach ist, desto artenreicher ist seine Tierwelt. Die BuGG-Fachinformation „Biodiversitätsgründach“ mit Grundlageninformationen ist zu finden unter: www.gebaeudegru e n . info/ s er v i ce / do wnlo a d s / bugg-fachinformation Im dritten Quartal des Jahres erscheint die Neufassung mit vielen Praxisbeispielen. QUELLEN • BuGG: BuGG-Fachinformation Biodiversitätsgründach. - Bundesverband GebäudeGrün e.V. (BuGG), Eigenverlag, Berlin, 2020. • FLL: Fachbericht Bienenweid e . F o r s c h u n g s g e s e l l s c h a f t L a n d s c h a f t s e n t w i c k l u n g Landschaftsbau e. V. (FLL), Eigenverlag, Bonn, 2020. • Mann, G.: Vorkommen und Bedeutung von Bodentieren (Makrofauna) auf begrünten Dächern in Abhängigkeit von der Vegetationsform. Dissertation Univ. Tübingen, 1998. • Schröder, R., Jeschke, D.,Kiehl, K.: Wie extensive Dachbegrünung regionaltypische Biodiversität fördern kann. Gebäude-Grün 4 (2020), Patzer Verlag, Berlin. • Witt, R., Kaltofen, K.: Klimawandel: Fluch oder Chance? - Naturgarten Verlag, 2020. Dr. Gunter Mann Präsident Bundesverband Gebäude- Grün e. V. (BuGG) Kontakt: gunter.mann@bugg.de AUTOR Bild 4 (oben): Auch ein Biodiversitätsbaustein: temporäre Wasserflächen als Insekten- und Vogeltränke. © Mann Bild 5 (unten): Je nach Pflanzenauswahl finden verschiedene Wildbienenarten Nahrung auf begrünten Dächern. © Mann
