eJournals Transforming cities 6/4

Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2021-0083
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Smart Nudging: auditive Fahrgastlenkung am Bahnsteig

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Sebastian Gröner
Christina Kunz
Fabian Müller
Lucas Schlegel
Pascal Seez
Wolfgang Gruel
Musik und Töne am Bahngleis: Können Audio-Nudges das Verhalten der Fahrgäste am Bahnsteig beeinflussen? Mit dieser Frage befasst sich ein Forschungsteam der Hochschule der Medien. Öffentliche Transportmittel sind nicht mehr nur eine Möglichkeit, um von A nach B zu kommen. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft und machen, besonders in Städten, einen wesentlichen Teil im Alltag vieler Menschen aus. Umso wichtiger ist es, aktuelle Herausforderungen mit effektiven Lösungen anzugehen. Im Fokus der Smart-Nudging-Forschung stehen daher Lösungsansätze für unbewusste Verhaltensänderung der Fahrgäste. Welches Potenzial die Nudging-Methode birgt, zeigen Experimente im ÖPNV in Stuttgart.
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70 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Nudging und damit verbundene Potenziale Viele der aktuellen Herausforderungen im öffentlichen Verkehr stehen in direkter oder indirekter Abhängigkeit zu dem Verhalten von Fahrgästen. Unfälle, Barrierefreiheit, Menschenansammlungen, Überfüllung und Verspätungen sind nur einige der momentanen Schwierigkeiten. Dabei fällt auf: Regeln und Verbote führen nur bedingt zu gewünschten Verhaltensänderungen. Ein Ansatz zur Lösung des Problems, der in vielen Bereichen hohes Potenzial aufweist, steckt in der Nudging-Theorie. Nudges haben das Ziel, das Verhalten von Menschen auf vorhersehbare Weise zu beeinflussen, ohne dabei auf Verbote, Gebote oder ökonomische Anreize zurückzugreifen. Ein Nudge ist eine kleine Hilfe oder Intervention, die eine Architektur der Wahl kreiert und Personen ohne Zwang ermutigt, virtuoses Verhalten anzunehmen. [1] Experiment an einer Stuttgarter U-Bahn- Haltestelle Ziel des Forschungsprojektes Smart Nudging ist ein effektiver Lösungsansatz für ein schnelleres und vorhersehbares Ein- und Aussteigen der Fahrgäste, um somit die Aufenthaltszeit der Bahnen an den Haltestellen auf ein Optimum zu reduzieren. Entscheidend ist dabei die gleichmäßige Verteilung der Fahrgäste am Bahnsteig. Getestet wird dies anhand des Einsatzes auditiver Nudges an der Stuttgarter U-Bahn-Haltestelle Schlossplatz. Dort ist die ungleiche Verteilung besonders sichtbar, wie der Kooperationspartner, die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB), berichtet. Die Untersuchungen in Zusammenarbeit mit der SSB beruhen auf den folgenden Thesen:  Der Ein- und Ausstiegsprozess an Bahnhaltestellen in Stuttgart kann durch eine gleichmäßigere Verteilung der wartenden Fahrgäste am Bahngleis effizienter verteilt werden.  Auditive Nudges können Menschen dazu bringen, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen bzw. sich von einer Stelle, an der sie ohne auditiven Nudge stehen bleiben würden, wegzubewegen. Insgesamt wurden bereits drei Versuche durchgeführt. Dabei wurden jeweils die Anzahl und Bewegung der wartenden Fahrgäste in einem definierten Abschnitt erhoben. Ziel ist es, anhand der erhobenen Daten und Beobachtungen Handlungsempfehlungen für eine optimiertes People-Flow-Management an Haltestellen mittels Audio-Nudges geben zu können. Die auditiven Nudges wurden auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den Wirkungen von Frequenzen und Klangfarben gewählt. Zu den negativ konnotierten Nudges gehören daher eine Verstärkung von Hintergrundgeräuschen des Bahnsteiges, weißes Rauschen sowie Frequenzen von Smart Nudging: auditive Fahrgastlenkung am Bahnsteig Hochschul-Projekt für effizientes Ein- und Aussteigen ÖPNV, Mobilität, öffentlicher Raum, Haltestellen, Nudging Sebastian Gröner, Christina Kunz, Fabian Müller, Lucas Schlegel, Pascal Seez, Wolfgang Gruel Musik und Töne am Bahngleis: Können Audio-Nudges das Verhalten der Fahrgäste am Bahnsteig beeinflussen? Mit dieser Frage befasst sich ein Forschungsteam der Hochschule der Medien. Öffentliche Transportmittel sind nicht mehr nur eine Möglichkeit, um von A nach B zu kommen. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft und machen, besonders in Städten, einen wesentlichen Teil im Alltag vieler Menschen aus. Umso wichtiger ist es, aktuelle Herausforderungen mit effektiven Lösungen anzugehen. Im Fokus der Smart-Nudging-Forschung stehen daher Lösungsansätze für unbewusste Verhaltensänderung der Fahrgäste. Welches Potenzial die Nudging-Methode birgt, zeigen Experimente im ÖPNV in Stuttgart. 71 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt 15 000 Hertz. Diese werden im ersten Bahnhalteabschnitt eingesetzt und sollen die Fahrgäste dazu anregen, sich vom Treppenzugang der Haltestelle weg zu bewegen. Bei den positiv konnotierten Nudges handelt es sich um klassische Musik sowie beruhigende Frequenzen von 432 Hertz, die im mittleren bis hinteren Abschnitt des Bahnsteiges eingesetzt werden. Hier sollen sich die Fahrgäste hinbewegen und sich bis zum Zustieg in die Bahn aufhalten. Neue Erkenntnisse im Bereich Audio Nudges Die noch recht junge Forschung zu Audio-Nudges im Bereich des öffentlichen Verkehrs ist vor allem Anstoß für die Exploration neuer Potenziale. Daher beschäftigt sich die Smart-Nudging-Forschung aktuell vor allem mit Beobachtungen und Befragungen. Zu beobachten war bei bisherigen Experimenten mehrfach, wie Fahrgäste, die positive Töne wahrgenommen hatten, ihre Kopfhörer abnahmen, die eigene Musik ausschalteten, mitwippten und sogar am Gleis tanzten. Aber auch die negativen Töne erzielten einige außergewöhnliche Reaktionen. So wurden zum Beispiel Verbindungen zu Baustellenlärm, Terrorismus, Instabilität der Decke oder Rohrarbeiten in der Decke vermutet, die teilweise zu Angst und Verunsicherung führten. Das gibt nicht nur Hinweise auf Verhaltensänderungen, sondern liefert wichtige Informationen für die Aufenthaltsqualität und die kundenzentrierte Gestaltung von Haltestellen. Eine weitere Erkenntnis ist, dass verschiedene Einflüsse Auswirkungen auf auditive Nudges haben: So spielen etwa Wartezeit, Umgebungsgeräusche, Bestimmtheit der Fahrgäste oder auch andere Mitmenschen am Gleis eine wesentliche Rolle bei der Verteilung und dem Verhalten der Fahrgäste. Verteilung von Fahrgästen Die Daten der neutralen Messung ohne installierte mobile Lautsprecher (n = 411) bestätigen die These, dass sich die Menschen am Bahnsteig ungleich verteilen. Bei Einfahrt eines 80-Meter-Zuges, der die ganze Länge des Gleises einnimmt, hielten sich über 36 % der wartenden Fahrgäste im ersten Viertel und etwa 24 % im zweiten Viertel des Gleises auf. Bei Einfahrt eines 40-Meter-Zuges, das bereits im vorderen Bereich des Gleises hält, wurde gemessen, dass sich allein vor Tür zwei 32 % der Personen befinden, während an Tür vier nur noch 15 % der Fahrgäste einsteigen. Im zweiten Versuch (n = 488) mit Einsatz von Audio-Nudges ist anhand der Messwerte erkennbar, dass sich prozentual mehr Fahrgäste - im Vergleich zur neutralen Messung, auf die mittleren Türen drei, vier und fünf verteilen. Auf die hinteren Türen sechs, sieben und acht verteilten sich jedoch ebenfalls weniger Menschen. Im Versuch drei (n = 409), mit Einsatz von weiteren Audio-Nudges, ist Ähnliches festzustellen: Weniger Fahrgäste platzierten sich vor Bild 1: Untersuchungsaufbau der Sound-Installationen an der U-Bahn Haltestelle Schlossplatz. © Smart-Nudging 72 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Tür zwei, wo die unangenehme Frequenz abgespielt wurde, dafür mehr an Tür drei. Einen deutlichen Anstieg gab es an Tür vier, wo bereits die angenehme Musik wahrzunehmen war und auch an der letzten Tür acht gab es einen marginalen Anstieg. Diesen bisher erhobenen Daten fehlt es jedoch an Signifikanz, um sie im Forschungskontext eindeutig den zu untersuchenden Maßnahmen - den verschiedenen Audio-Nudges - zuzuordnen. Die Beobachtungen und Definition von relevanten Rahmenbedingungen sind jedoch ein neuer Grundstein für die Untersuchung von Audio-Nudges im öffentlichen Verkehr. Gibt es eine Zukunft für Nudges im öffentlichen Verkehr? In Sachen Innovation an den deutschen Haltestellen gibt es Aufholbedarf. Die aktuellen Herausforderungen zeigen: Es braucht mehr Innovation und Forschung. Die Themen Nudges sowie Fahrgastlenkung sind sehr komplex. Durch die Untersuchungen der Forschungsgruppe von Smart Nudging wird der Bedarf nach weiterer Forschung besonders deutlich. Aus anderen Projekten mit ähnlichen Use Cases, wie etwa in Tokyo oder Stockholm, geht hervor, dass der Einsatz von Nudges durchaus sehr effektiv ist. Das Projekt Smart Nudging ist Anstoß für ein neues Ein- und Aussteige-Erlebnis für Fahrgäste. Es öffnet die Türen zu neuen innovativen Ansätzen im People-Flow-Management für lokale und nationale Anwendungsfälle, die umsetzbar und skalierbar sind. Dabei zeigt sich schon jetzt: Die kostengünstige unkomplizierte Umsetzung von Audio-Nudges an Haltestellen in Stuttgart ist möglich und Reaktionen der Fahrgäste sind vorhanden. Einige Fragen sind allerdings noch nicht geklärt. Neben der fehlenden Signifikanz und Zuordnung von gewünschter Verhaltensänderung der Fahrgäste zu den Audio-Nudges, stellen sich Fragen wie: Welchen Einfluss haben beispielsweise die „Last- Minute-Sprinter“? Wie viele Personen tragen Kopfhörer am Gleis? Wie gut kennen sich Fahrgäste im ÖPNV-Netz der Stadt aus? Des Weiteren können die Einflüsse der zuvor genannten Rahmenbedingungen genauer geprüft werden: Welche Hürde stellen allgemeine Umgebungsgeräusche, Auslastung am Bahnsteig oder die Dauer der Wartezeit von Fahrgästen dar? Hier ist das Fehlen von spezifischen Studien im Bereich der Wirkung von auditiven Nudges auffällig. Nudges, die aktuell im Einsatz sind, beruhen auf Wirkungen, die in allgemeinen Studien festgestellt wurden. Die spezielle Untersuchung der Wirkung von auditiven Nudges im Umfeld Bahnsteig kann dabei helfen, die richtigen Nudges für eine gewünschte Reaktion zu wählen. Als Weiterführung der Forschung von Smart Nudging sollte auch das komplexere Ziel von effektiver Fahrgastverteilung am Bahnsteig betrachtet werden. Wie sich die Fahrgäste am besten am Bahnsteig Bild 2: Übersicht zur Messung der Fahrgastverteilung ohne (grau) und mit Sound- Installationen (blau und orange) an der U-Bahn Haltestelle Schlossplatz. © Smart-Nudging 73 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt verteilen sollen, hängt auch von den Informationen aus den Zügen ab. Ist ein Zug an einer Stelle besonders voll, könnten diese erfassten Daten in Echtzeit an den Bahnsteig gesendet werden, damit der Nudge entsprechend der gewünschten Verteilung der Personen automatisch angepasst werden kann. Mit weiteren Technologien wie LiDAR-Sensoren, welche datenschutzkonform Personenanzahl und -bewegung erfassen und verarbeiten können, besteht die Möglichkeit dies in zukünftigen Forschungen weiter zu untersuchen. Lucas Schlegel Medienmanagement M.A. Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: ls197@hdm-stuttgart.de Pascal Seez Medienmanagement M.A. Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: ts208@hdm-stuttgart.de Prof. Dr. Wolfgang Gruel Professor und Mobility Researcher Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: gruel@hdm-stuttgart.de Sebastian Gröner Medienmanagement M.A. Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: sg185@hdm-stuttgart.de Christina Kunz Medienmanagement M.A. Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: ck189@hdm-stuttgart.de Fabian Müller Medienmanagement M.A. Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: fm088@hdm-stuttgart.de AUTOR*INNEN Klar ist: Nudging birgt viele Potenziale, die sich nicht nur auf die effektive Verteilung von Fahrgästen am Bahnhof beschränken muss. Die Möglichkeiten, Nudges als Lösung für aktuelle Mobilitätsprobleme zu erforschen und einzusetzen, sind vielfältig und es gilt, diese nun anzugehen. Alle weiteren Infos unter www.smart-nudging.de. LITERATUR [1] Thaler, R. H., Sunstein, C. R.: Nudge: Improving decisions about health, wealth, and happiness, 2008. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN WISSEN WAS MORGEN BEWEGT www.internationales-verkehrswesen.de