Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2022-0017
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Nachhaltige Quartiersmobilität
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Jasmin Rychlik
Claudia Baumgartner
Richard Kemmerzehl
Tom Schilling
Im Rahmen von Quartiersentwicklungen und Nachverdichtungsprojekten, die den steigenden Bedarf an bezahlbarem Wohnraum adressieren, stellen Sharing-Angebote und die Bereitstellung von multimodalen Informationen immer häufiger einen Ansatz zur Lösung wachsender Verkehrsprobleme dar. Im Business Case „E-Carsharing as a Housing Service“ des Forschungsprojekts „MEISTER“ wurde ein Geschäftsmodell zur Förderung von umweltfreundlicher und wirtschaftlich nachhaltiger Elektromobilität in Wohngebieten konzeptioniert, das einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, die Verkehrswende auf Quartiersebene voranzutreiben.
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54 1 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Mobilität In deutschen Großstädten werden die von der EU festgelegten Grenzwerte für Stickoxide (NO x ) und Feinstaub (PM 10 ) seit mehreren Jahren überschritten-[1]. Unter Androhung eines Vertragsverletzungsverfahrens wurde Deutschland im Jahr 2016 von der EU dazu verpflichtet, die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften sicherzustellen [2]. Obwohl die Luftqualität durch strenge Emissionsvorschriften, Innovationen in der Katalysatorentechnik und umweltorientierte Kraftstoffe positiv beeinflusst wurde, zählt der Verkehrssektor weiterhin zu den größten Emittenten von Stickoxiden und Feinstaub- [3]. Aufgrund des hohen Autobesitzes, der intensiven Autonutzung im städtischen Kontext und der Flächenversiegelungen durch Verkehrsinfrastruktur und den Lärm- und Feinstaubemissionen sind vor allem im Verkehrssektor deutliche Emissionsminderungen notwendig, um die Klimaschutzziele der EU zu erreichen [4]. Die Verknüpfung von Verkehrsmitteln wird in der Literatur als notwendige Voraussetzung dafür angesehen, dass ein multimodales Mobilitätsverhalten wächst und die autoinduzierte Verkehrsbelastung in den Städten abnimmt. Multimodale Auskunftssysteme, die Informationen zu den Abfahrtszeiten des ÖPNV und lokal verfügbaren Sharing-Angeboten bereitstellen, können dabei eine umweltfreundliche und wirtschaftlich nachhaltige Verkehrsmittelwahl von Bewohnenden vereinfachen [5]. Unter besonderer Berücksichtigung ihrer Interkonnektivität sind multimodale Auskunftssysteme von entscheidender Bedeutung, da sie 1. einen direkten Einfluss auf die erforderliche Reisezeit und 2. die Erreichbarkeitsbedingungen von Orten ausüben und zugleich 3. die Verkettung von Fahrten sowie 4. einen Wechsel des Verkehrsträgers ermöglichen, der sich auch auf das Standort- und Planungsverhalten auswirken kann. Eine Voraussetzung dafür ist, dass an den Standorten - neben Angeboten des öffentlichen Nahverkehrs - auch fahrplanunabhängige Verkehrsträger zur Verfügung gestellt werden. Bisherige Sharing- Angebote konzentrieren sich jedoch auf relativ kleine Innenstadtzonen. Standorte in Außenbezirken oder an den Stadträndern werden meist nicht von den Geschäftsgebieten der großen Sharing-Anbieter abgedeckt, sodass Bewohnende häufig keinerlei Zugang zu Mobilitätsangeboten oder -dienstleistungen haben. Nachhaltige Quartiersmobilität Ein standortspezifisches E-Carsharing-Angebot und multimodale Verkehrsinformationen E-Mobilität, Multimodalität, Quartier Jasmin Rychlik, Claudia Baumgartner, Richard Kemmerzehl, Tom Schilling Im Rahmen von Quartiersentwicklungen und Nachverdichtungsprojekten, die den steigenden Bedarf an bezahlbarem Wohnraum adressieren, stellen Sharing-Angebote und die Bereitstellung von multimodalen Informationen immer häufiger einen Ansatz zur Lösung wachsender Verkehrsprobleme dar. Im Business Case „E-Carsharing as a Housing Service“ des Forschungsprojekts „MEISTER“ wurde ein Geschäftsmodell zur Förderung von umweltfreundlicher und wirtschaftlich nachhaltiger Elektromobilität in Wohngebieten konzeptioniert, das einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, die Verkehrswende auf Quartiersebene voranzutreiben. Bild 1: E-Carsharing as a Housing Service. © Gewobag 55 1 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Mobilität Im Rahmen von Quartiersentwicklungen und Nachverdichtungsprojekten, die den steigenden Bedarf an bezahlbarem Wohnraum adressieren, stellen Sharing-Angebote und die Bereitstellung von multimodalen Informationen immer häufiger einen Ansatz zur Lösung wachsender Verkehrsprobleme dar. Dabei werden bislang allerdings häufig Geschäfts- und Betreibermodelle ausgeklammert, obwohl außer Frage steht, dass ein dauerhafter Betrieb dieser Sharing-Angebote nur gewährleistet werden kann, wenn deren Kosten gedeckt sind. Dies impliziert, dass ausreichend viele Nutzende auf ein eigenes Fahrzeug verzichten und Mobilitätsfixkosten, die mit dem Besitz eines Fahrzeugs verbunden sind (Kauf und Wertverlust, Versicherung, Steuer, Parkgebühren), für die Nutzung von alternativen Verkehrsmitteln bedarfsgerecht einsetzen. Daraus resultiert die Frage, ob bzw. inwiefern Menschen ihr Mobilitätsverhalten in Bezug auf Standort, Aktivitätsplanung und Verkehrsmittelwahl verändern, wenn ihnen am Wohnstandort multimodale Echtzeitinformationen in Verbindung mit Carsharing-Angeboten zur Verfügung gestellt werden. Das Forschungsprojekt MEISTER Im Rahmen des EU-Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon 2020 verfolgen die Städte Berlin, Stockholm und Málaga das Ziel, neue Geschäftsmodelle zur Förderung umweltfreundlicher und wirtschaftlich nachhaltiger E-Mobilität zu entwickeln und zu etablieren. Im dazugehörigen Forschungsprojekt „MEISTER“ wurden Geschäftsmodelle zur Förderung von umweltfreundlicher und wirtschaftlich nachhaltiger Elektromobilität in Wohngebieten konzeptioniert. Der Business Case namens „E-Carsharing as a Housing Service“ wurde von der Berliner Wohnungsbaugesellschaft Gewobag umgesetzt, die knapp 72 000 Mieteinheiten in Berlin bewirtschaftet (Bild 1). In einer 12-monatigen Demonstrationsphase wurde erprobt, ob der direkte Kontakt zu den Mietenden in Verbindung mit der frühzeitigen Integration eines Sharing-Angebots in die Quartiersentwicklung dazu beiträgt, die Akzeptanz für die neuen Elektromobilitätsangebote zu erhöhen und somit ein Sharing-Angebot mit elektrischen Fahrzeugen wirtschaftlich tragfähig zu machen. Zudem sollte getestet werden, ob das von der Gewobag eigens geschaffene Mobilitätsangebot „Spreeauto“ für die Mietenden eine attraktive und umweltfreundliche Alternative zum eigenen Auto darstellt. Als wichtige Informationsgrundlage für die Bewohnenden wurde der Mobilitätsmonitor (MoMo) der VMZ vor Ort installiert, der neben Informationen über das angebotene E-Carsharing auch weitere multimodale Echtzeitinformationen anzeigt, um die Mietenden für eine umweltorientierte Mobilitätsentwicklung zu sensibilisieren. E-Carsharing as a Housing Service Da die Demonstrationsstandorte des Projektes MEISTER außerhalb des S-Bahnrings in Berlin liegen und im Rahmen des Projektes ausschließlich E-Fahrzeuge eingesetzt werden sollten, erforderte der zu testende Business Case „E-Carsharing as a housing service“ eine Markterkundungsphase sowie die Entwicklung eines neuen, kooperativen Geschäftsansatzes. Neben infrastrukturellen Voraussetzungen, wie die Herrichtung und Beschilderung von für das Angebot reservierten Stellplätzen mit Ladeinfrastruktur, wurden alle vertraglichen Voraussetzungen für die Inbetriebnahme des Angebots geschaffen. Pünktlich zum Start der Demonstrationsphase im September 2020 konnten in zwei Wohnquartieren der Gewobag jeweils zwei E-Fahrzeuge in Betrieb genommen werden. Nach einem Jahr erfolgreicher Demonstration von E-Carsharing als Housing Service haben sich insgesamt 216 Haushalte registriert; davon gelten 86 von ihnen als regelmäßig aktive Nutzende. Dies entspricht einer im Vergleich zu marktüblichen Angeboten überdurchschnittlichen Konversationsrate von 39,8 %. Insgesamt hatte E-Carsharing 850 Buchungen mit einer durchschnittlichen Dauer von 2,5 Stunden und einer Reichweite von 30 km. Auf den getesteten Carsharing-Fahrzeugen wurden im Demonstrationszeitraum über 25 000 Kilometer zurückgelegt. Das entspricht umgerechnet etwa zwei Tonnen eingespartem CO 2 , da die Fahrzeuge ausschließlich mit grünem und lokal produzierten Strom versorgt werden. Die konstant steigenden Nutzungszahlen zeigen, dass E-Carsharing als ergänzende Wohnungsdienstleistung auf positive Resonanz bei den Bewohnenden der jeweiligen Quartiere gestoßen ist. Nutzerbefragungen zeigen, dass das Angebot überwiegend für planbare Fahrten in der Freizeitgestaltung oder für Einkaufsfahrten genutzt wurde. Da die Nutzungszahlen durch den allgemeinen Rückgang von Fahrten in der Stadt während der Corona-Lockdowns beeinflusst sind, wurde der Testbetrieb um weitere 12 Monate verlängert, so dass eine endgültige Evaluation des Angebots noch aussteht. Multimodale Mobilitätsinformationen Um Mietende und E-Fahrende über Verkehrsangebote im und um das Quartier zu informieren und den Umstieg auf das elektrische Carsharing zu fördern, 56 1 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Mobilität wurde ein Mobilitätsmonitor (MoMo) in Mariendorf installiert. Bislang wurde der MoMo vor allem an verkehrsträchtigen Orten wie beispielsweise Bahnhöfen, Messen oder Flughäfen eingesetzt. Je nach Anwendungsfall kann der MoMo aus mehreren Kartenkomponenten zusammengesetzt werden, die beliebig miteinander kombiniert werden können. So können etwa die Anzeige der Verkehrslage im Straßenverkehr, verfügbare Sharing-Angebote, Abfahrtszeiten des ÖPNV oder aktuelle Meldungen über Störungen oder Baustellen miteinander kombiniert werden. Bild 2 liefert einen Überblick über mögliche Standorte und visualisierbare Informationen. Der MoMo verbindet Spreeauto-Informationen mit multimodalen Echtzeit-Informationen bis hin zu Mobilitätsoptionen in der Nähe des Viertels. Als multimodales Auskunftssystem unterstützt er die Mietenden, Mobilitätsentscheidungen auf der Grundlage der aktuellen Verkehrssituation und der Verfügbarkeit von Mobilitätsangeboten zu treffen. Bild 3 zeigt den im Projekt realisierten MoMo, der im Eingangsbereich eines Gebäudes in dem ausgewiesenen Wohngebiet installiert wurde. Nach Installation des MoMos wurde eine doppelseitige Produktevaluation durchgeführt, in der die Anwohnenden als Endnutzer und die Gewobag als Kunde nach ihren Erfahrungen mit der Nutzung der multimodalen Echtzeitinformationen befragt wurden. Von der Gewobag wurde positiv hervorgehoben, dass es sich bei dem MoMo um einen in sich funktionsfähigen Mobilitätsbaustein handelt, was dessen Integration in Wohnquartiere aller Art erleichtert. Der Mobilitätsmonitor ist robust und vandalismussicher und für den Dauerbetrieb ausgelegt. Um Quartiersentwicklungen „mobilitätsstark“ zu gestalten, stellt er neben einem standortbezogenen Mobilitätsangebot einen wichtigen Baustein dar - auch um drohenden Verkehrsproblemen bei Neubauprojekten oder Nachverdichtungen proaktiv entgegen wirken zu könnnen. Auch die Anwohnenden, denen damit eine wichtige Entscheidungsgrundlage für die Verkehrsmittel vor Ort zur Verfügung gestellt wird, gaben an, dass sie das Angebot dabei unterstützt, ihre Wege zu planen. Als wichtigste Erkenntnis wird das Ergebnis eingestuft, dass die multimodalen Echtzeitinformationen auf dem MoMo die Verkehrsmittelwahl der Bewohnenden positiv beeinflussen. So gaben mehr als 80 % der Anwohnenden an, dass sie durch die Nutzung des MoMos vermehrt auf den ÖPNV umsteigen würden oder auch ein erhöhtes Interesse an der Nutzung klimaneutraler Sharing-Angebote entwickelt haben. In Verbindung mit E-Carsharing als Housing Service leistet der MoMo als multimodales Auskunftssystem einen wichtigen Beitrag zur umweltorientierten Entwicklung der Verkehrslage. Aus diesem Grund wird die Entwicklung des MoMos im Rahmen des Forschungsprojekts „BeIntelli“ weiter optimiert. Neben der Entwicklung und Erprobung eines prototypischen interaktiven Displays wird das Informationsportfolio des MoMos auch durch die Anbindung von Daten und Anwendungen an eine KI-Plattform erweitert, sodass die bereitgestellten Informationen optimal an die Bedürfnisse der Nutzenden anpasst werden. Zusammenfassend stellt der MoMo einen wichtigen Mobilitätsbaustein dar, der dazu beitragen kann, die Verkehrswende auf Quartiersebene zu katalysieren. Verkehrsknotenpunkte Stadtquartiere Unternehmen Veranstaltungsorte E-Carsharing Abfahrtszeiten: ÖPNV Abfahrtszeiten: Fernverkehr E-Roller-Sharing Bike-Sharing Car-Sharing Aktuelle Verkehrslage Aktuelle Störungen und Meldungen Wetter Uhrzeit Visualisierung: Gehwege Visualisierung: Radwege Baustellen Parkplätze Taxis Ladepunkte Abfahrtszeiten: Fernbus Bild 2: Potenzielle Standorte und passende multimodale Informationen. © VMZ Berlin 57 1 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Mobilität Ausblick Multimodale Auskunftssysteme stellen einen wichtigen Lösungsansatz dar, um die Verkehrswende auf kommunaler und Quartiersebene weiter voranzutreiben, da sie ein klimafreundlicheres Mobilitätsverhalten der Nutzenden begünstigen. Mit dem MoMo als Informationstool stellt die VMZ den Bewohnenden umfassende Mobilitätsinformationen und Routing-Empfehlungen sowie Funktionalitäten bereit, die die Nutzung von E-Mobilitätsangeboten in Wohngebieten attraktiver gestalten. Dennoch eignet sich der MoMo nicht nur dafür, Anwohnende in dementsprechend ausgestatteten Quartieren mit Informationen über E-Mobilitätsangebote und weiteren Echzeitinformationen zu versorgen. Die Ergebnisse lassen ebenfalls den Schluss zu, dass der MoMo auch eine besondere Relevanz für Quartiere besitzen kann, in denen weniger oder gar keine E- Mobilitätsangebote zur Verfügung stehen, da er die Anwohnenden zuverlässig über alternative Mobilitätsoptionen zum PKW informieren und sie so bei ihrer Verkehrsmittelwahl unterstützen kann. Darüber hinaus kann die Bereitstellung von multimodalen Informationen in Verbindung mit E-Carsharing-Angeboten den Mietenden dabei helfen, sie bei der Wahl alternativer Verkehrsmittel und bei dem Übergang vom Eigentum eines PKWs zur Nutzung eines Sharing-Fahrzeugs zu begleiten. Als ergänzende Dienstleistung eines Wohnungsunternehmens stellt „E-Carsharing as a Housing Service“ somit eine hervorragende Möglichkeit dar, um Elektromobilität zu fördern, insbesondere wenn dies in ein kooperatives Geschäftsmodell eingebunden ist, das das wirtschaftliche Risiko der Anlaufphase über eine Bereitstellungsgebühr für den Standortpartner berücksichtigt und bei steigender Nutzerakzeptanz ein neues Geschäftsfeld eröffnet. LITERATUR [1] Omran, A., Schwarz-Herion, O. (Hrsg.): Sustaining Our Environment for Better Future: Challenges and Opportunities. Springer, 2019. [2] Butzengeiger, S.: The EU Emissions Trading Scheme. Routledge, 2018. [3] Schwedes, O., Canzler, W., Knie, A. (Hrsg.): Handbuch Verkehrspolitik. Springer Fachmedien Wiesbaden, 2016. [4] Schomaker, R. (Hrsg.): Die europäische Energiewende (Vol. 104). Walter de Gruyter GmbH & Co KG, 2017. [5] Knese, D.: Integration der Elektromobilität in die Stadtplanung und Straßenraumgestaltung-Lösungsansätze für Strategien, Konzepte und Maßnahmen (Vol. 29). Kassel University Press GmbH, 2019. Dr. Jasmin Rychlik Projektleitung VMZ Berlin Kontakt: jasmin.rychlik@vmzberlin.com Claudia Baumgartner Head of Research VMZ Berlin Kontakt: claudia.baumgartner@vmzberlin.com Richard Kemmerzehl, M.A. Projektleitung Gewobag AG Kontakt: r.kemmerzehl@gewobag.de Tom Schilling, M.Sc. Projektleitung VMZ Berlin Kontakt: tom.schilling@vmzberlin.com AUTOR*INNEN Bild 3: Der multimodale Mobilitätsmonitor (MoMo). © VMZ Berlin
