eJournals Transforming cities 7/1

Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2022-0019
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Pendeln in luftiger Höhe

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Sebastian Beck
Verstopfte Straßen, überfüllte Bahnen: Abhilfe könnte der Einsatz von Seilbahnen als fester Bestandteil des ÖPNV schaffen. Nutzerinnen und Nutzer könnten ihrem Ziel dann entspannt in einer Gondel entgegenschweben, die Aussicht genießen und ganz nebenbei für ein besseres Stadtklima sorgen. Wie sinnvoll die Integration urbaner Seilbahnen tatsächlich ist, prüfen die Infrastrukturexperten von Drees & Sommer gemeinsam mit der Verkehrswissenschaftlichen Institut Stuttgart GmbH derzeit im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV). Ein Leitfaden über die Implementierung soll in diesem Jahr veröffentlicht werden.
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64 1 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Mobilität Eine Fahrt mit der Seilbahn löst in unseren Breiten vorwiegend touristische Impulse aus, dabei muss das Angenehme nicht mit dem Praktischen kollidieren: Seilbahnen überspannen Flüsse und Bergeshöhen, große Verkehrsachsen und Bahntrassen. Sie sind schneller zu realisieren und signifikant kostengünstiger zu errichten als Tunnels zu bohren oder Brücken zu bauen. Vor allem ist die luftige Art der Fortbewegung klimafreundlich und kann mit Ökostrom CO 2 -neutral betrieben werden. Was aber die Verkehrspolitikerinnen und -politiker am meisten interessiert: Seilbahnen können Lücken im ÖPNV schließen und beispielsweise die Vorstädte anbinden. Wenn die Kabinen im Umlauf fahren, braucht es noch nicht einmal einen Fahrplan. Man steigt einfach ein und schwebt seinem Ziel mit einer beschau- Pendeln in luftiger Höhe Einsatz von Seilbahnen im öffentlichen Stadtverkehr als echte Alternative Urbane Mobilität, Verkehrskonzepte, Seilbahnen Sebastian Beck, Olivia Franz Verstopfte Straßen, überfüllte Bahnen: Abhilfe könnte der Einsatz von Seilbahnen als fester Bestandteil des ÖPNV schaffen. Nutzerinnen und Nutzer könnten ihrem Ziel dann entspannt in einer Gondel entgegenschweben, die Aussicht genießen und ganz nebenbei für ein besseres Stadtklima sorgen. Wie sinnvoll die Integration urbaner Seilbahnen tatsächlich ist, prüfen die Infrastrukturexperten von Drees & Sommer gemeinsam mit der Verkehrswissenschaftlichen Institut Stuttgart GmbH derzeit im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV). Ein Leitfaden über die Implementierung soll in diesem Jahr veröffentlicht werden. Bild 1: Urbane Seilbahn Singapur. © seng chye teo - GettyImages/ Drees & Sommer 65 1 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Mobilität lichen Durchschnittsgeschwindigkeit von bis zu 30-Stundenkilometern entgegen. Und sind sie nicht mehr gewollt, dann geht ihr Rückbau vergleichsweise schnell und einfach vonstatten. Trotz dieser unstrittigen Vorteile gelten Seilbahnen in Deutschland weitgehend als exotisches Verkehrsmittel. Noch nicht einmal vor einem Jahrzehnt stießen solche Mobilitätskonzepte bei Kommunalpolitikern auf völliges Unverständnis, ihre Städte lägen schließlich nicht auf der Zugspitze, lästerten sie. Aber diese Zeiten sind seit der massiven Verkehrsproblematik, der sie sich zunehmend ausgesetzt sehen, vorbei. Die „schräge Idee“ hat sich inzwischen zur Alternative gewandelt. Mehrheit steht Seilbahnen positiv gegenüber Eine repräsentative Drees & Sommer-Stichprobe vom Mai 2019 unter 180 Probanden zwischen 18 und 80 Jahren brachte ein überraschendes Ergebnis: 83 Prozent der Befragten stehen einem Einsatz von Seilbahnen positiv gegenüber, die überwiegende Mehrheit also. Eine Umfrage des Verkehrsexperten Prof. Klaus Bogenberger von der Münchner Bundeswehr-Universität kam mit 87 Prozent Zustimmung zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Befragten gaben auch an, Seilbahnen, wenn vorhanden, nutzen zu wollen. Der Drees & Sommer-Umfrage zufolge sind 42- Prozent der Befragten überzeugt, dass Seilbahnen den öffentlichen Nahverkehr insgesamt verbessern und stark beanspruchte Verkehrsstrecken entlasten. Lediglich was das Sicherheits-Empfinden bei dieser Mobilitäts-Alternative betrifft, blieben die Probanden reserviert: Nur 31 Prozent vertrauen dem System „voll und ganz“. Vor allem treibt die Skeptiker die Frage um, wie Betreiber bei unvorhergesehenen Situationen wie Unfällen oder einem Versagen der Technik reagieren. Nicht in meinem Garten 44 Prozent der Befragten plagt hingegen ein völlig anderes Problem: Sie sehen in der Seilbahn, die an ihren Wohnungen vorbeiführt, eine Beeinträchtigung ihrer Privatsphäre. Das sogenannte „Not- In-My-Backyard-Syndrom“, in der Bevölkerung als Sankt-Florians-Prinzip geläufiger, scheint offensichtlich ein mentales Hindernis für die Akzeptanz von Seilbahnen zu sein. Obwohl viele Menschen von den Vorteilen einer solchen Anlage überzeugt sind, bleibt die Zustimmung verhalten, wenn die Kabinen am Schlafzimmerfenster vorbeischweben. Doch selbst diese Sorge ließe sich dank moderner Technik regelrecht in Luft auflösen: Sogenanntes „Privacy Glass“ verdunkelt die Scheiben während der Fahrt zeitweilig, um die Einsicht auf Privatgrundstücke zu schützen. Laut Umfrage gaben drei von vier der Befragten an, dass eine Trasse durchaus in direkter Nähe zu ihrem persönlichen Wohnumfeld verlaufen kann, sofern diese angemessen hoch installiert ist. Und nach aller Erfahrung steigt die Akzeptanz von Seilbahnen, wenn sie erst einmal Teil des öffentlichen Nahverkehrs sind. So sollte die Seilbahn in Koblenz, die anlässlich der Bundesgartenschau 2011 gebaut wurde, nach der Schau wieder abgebaut werden. Doch eine Bürgerinitiative wehrte sich und setzte sich für ihren Verbleib ein. Gesellschaftliche Akzeptanz wichtiger Erfolgsfaktor Für Drees & Sommer, die in Koblenz den Bauherrn bei Wettbewerb und Auswahlverfahren begleiteten, ist deshalb der Rückhalt in der Bevölkerung das entscheidende Erfolgskriterium. Denn obwohl im Vorfeld häufig und heftig umstritten, wollen die Menschen dort, wo sie umgesetzt ist, ihre Seilbahn nicht mehr missen. Damit die Seilbahn also nicht schon vorab in den Köpfen der betroffenen Bürger scheitert, ist ein transparenter Prozess das A und O. Das kann nur gelingen, wenn die Bevölkerung in dieser Thematik von Beginn an „mitgenommen“ wird. Bild 2: Seilbahn New York. © ElOjoTorpe - GettyImages/ Drees & Sommer 66 1 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Mobilität Sprich, nur wer den Dialog sucht und offensiv kommuniziert, kann auch die Bedenken der Menschen berücksichtigen und ausräumen. Leichter wäre es für die Entscheidungsträger in den Kommunen, wenn es in Deutschland ein „Pilotprojekt“ für eine in den Nahverkehr integrierte Seilbahn gäbe, woran sich Städte und ihre Bewohner orientieren könnten. Die Bedenken der Menschen sind zwar real, aber oft diffus. 16 teils unterschiedliche Landesseilbahngesetze sind dabei der Sache nicht unbedingt förderlich. Vorstellungen über die Machbarkeit klaffen auch weit auseinander. So sind Stützen heutzutage nur noch im weiten Abstand von 200 bis 300 Meter nötig, mit moderner Technologie sogar bis zu einem Kilometer, während vor Jahrzehnten noch ein Abstand von 50 Metern für notwendig erachtet wurde. BMDV nimmt Seilbahnen für Städte ins Visier In Deutschland wurde bislang noch kein einziges Seilschwebebahnprojekt in den ÖPNV integriert, weshalb auch keine unmittelbaren Erfahrungswerte vorliegen. Einen wichtigen Anstoß, diese Zurückhaltung aufzugeben, gab das Bundesverkehrsministerium (BMDV) im Sommer 2020, als sie Drees & Sommer zusammen mit dem Verkehrswissenschaftlichen Institut Stuttgart (VWI) den Forschungsauftrag erteilte, eine Studie über die „stadt- und verkehrsplanerische Integration urbaner Seilbahnprojekte“ zu erarbeiten und einen Leitfaden für die „Realisierung von Seilbahnen als Bestandteil des öffentlichen Personen-Nahverkehrs (ÖPNV) zu erstellen. Ziel ist, so das BMDV, „innovative Konzepte zu schaffen, die das öffentliche Verkehrssystem sinnvoll ergänzen und neue Optionen für nachhaltige Mobilität im urbanen Raum ermöglichen.“ Dabei geht es nach der Vorstellung des BMDV um nichts weniger als um einen „nationalen Standard“ für urbane Seilbahnen in Deutschland. Zwar gibt es mit der „EU-Seilbahnverordnung 2016/ 424“ eine europäische Rechtsgrundlage, die Vorschriften über den Entwurf, den Bau und den Betrieb neuer Seilbahnen enthält. Als Fallbeispiele dienten in der Verordnung die Anlagen in Lissabon und London, die allerdings erbaut wurden, bevor die EU-Verordnung in Kraft trat, und deshalb kaum als praktische Handlungsanweisung herangezogen werden können. Hinzu kommt, dass die Erfahrungen in Bezug auf Planungs- und Genehmigungsverfahren aus anderen Ländern aufgrund unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Bedingungen nicht oder nur eingeschränkt auf Deutschland übertragbar sind. Neue Verkehrsnetze ermöglichen Unbestritten sind urbane Seilbahnen, wenn die Einsatzbereiche klar für ein „überirdisches“ Konzept sprechen. Seilbahnen eignen sich also vorwiegend beim Überwinden topographischer, baulicher und verkehrlicher Hindernisse und als Zubringer bestehender ÖPNV-Trassen. Aufgrund der Höhenunterschiede sind Seilbahnen natürlich gerade in gebirgigen Lagen besonders gut als Transportmittel geeignet. Aber die Höhenlage ist keineswegs ein Pflichtkriterium. Ein Seilbahnsystem erfordert für den Bau relativ wenig Bodenfläche, was gerade in dichtbesiedelten Städten von großem Vorteil wäre. Ihr Einsatz bringt eine Entlastung der bestehenden Verkehrsinfrastruktur und schließt verkehrliche Lücken. Schließlich kann sie leichter verkehrsmäßig belastete und periphere Standorte verbinden und insgesamt neue Verkehrsnetze ermöglichen. Nach Einschätzung des Bundesverkehrsministeriums spielt die Funktion „Überbrücken“ die entscheidende Rolle. Die bisher in Fallbeispielen untersuchten Systeme überqueren Gewässer (New York, Lissabon, London), verbinden höherliegende mit tieferliegenden Standorten (Medellin, La Paz, Portland, Algier, Ankara) oder binden schwer zu erschließende Gebiete an das bestehende ÖPNV-Netz an. Einsatz nur eine Frage der Zeit Wenngleich in Deutschland nur bescheidene Erfahrungen mit Seilbahnen im urbanen Bereich vorliegen, gibt es trotzdem in zahlreichen Städten Planungen zum Einsatz dieses Systems als Ergänzung zum bestehenden öffentlichen Nahverkehr. In Köln, Bonn, Stuttgart, München, Düsseldorf und Berlin sind die Pläne bereits weit fortgeschritten. In Bonn Bild 3: Seilbahn in der Stadt (Konzeptfoto). © zatran GmbH/ Drees & Sommer 67 1 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Mobilität it-trans.org NEU TERMINIERT! TERMIN VORMERKEN. PERSÖNLICH TREFFEN. 10. - 12. Mai 2022 Messe Karlsruhe und Wuppertal schon so weit, dass Studien fertiggestellt oder - wie in Stuttgart und München - beauftragt worden sind. Für die politischen Entscheidungsträger stellt das neue Verkehrsmittel nicht nur anspruchsvolle Anforderungen an Planung und Bau, sondern auch an die Kommunikation. Schließlich müssen die Betroffenen in den Städten von dem Konzept überzeugt sein. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis urbane Seilbahnprojekte verstärkt auf den Radarschirmen der Verkehrsplaner auftauchen und als sinnvolle Ergänzung des bestehenden öffentlichen Nahverkehrs betrachtet werden. Schließlich bringt ein Seilbahnsystem viele Möglichkeiten mit sich und öffnet städte- und verkehrsplanerisch neue Türen. Allerdings ist das für jede Stadt individuell zu betrachten, weil die Infrastruktur, das Verkehrsaufkommen oder die Topografie überall unterschiedlich sind. Der Leitfaden von Drees & Sommer und dem Verkehrswissenschaftlichen Institut in Stuttgart für die stadt- und verkehrsplanerische Integration von Seilbahnen wird Entscheidungsträgern als Handlungsanweisung dienen und kann die Akzeptanz dieses Verkehrsmittels in der Bevölkerung erhöhen. Sebastian Beck Associate Partner Drees & Sommer SE Kontakt: info@dreso.com Olivia Franz Projektmanagerin Drees & Sommer SE Kontakt: info@dreso.com AUTOR*INNEN