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Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2022-0040
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Community Resilience in Krisen und Katastrophen

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Bo Tackenberg
Tim  Lukas
Große Schadenslagen wie die COVID-19-Pandemie oder das Hochwasser im Ahrtal verdeutlichen die Bedeutung der Nachbarschaftshilfe für die Bewältigung von Krisen und Katastrophen. In Städten sind die gesellschaftlichen Bewältigungsfähigkeiten jedoch sozialräumlich nicht gleich verteilt. In der Modellkommune Wuppertal wird daher ein Sozialkapital-Radar entwickelt, mit dem sich die kollektiven Anpassungsleistungen lokaler Unterstützungsgemeinschaften kleinräumig nachvollziehen lassen. Der Beitrag verortet das praxisbezogene Forschungsprojekt im Kontext aktueller Resilienzstrategien zur Sozialraumorientierung im Bevölkerungsschutz.
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56 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Sozialraumorientierter Bevölkerungsschutz Als im Juli 2021 die Wetterdienste vor heftigen Gewittern und Starkregenfällen im Westen Deutschlands warnen, rechnet man vielerorts nicht mit den verheerenden Auswirkungen, die das Unwetter noch haben wird. In weiten Teilen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zerstören massive Überschwemmungen ganze Straßenzüge und hinterlassen zahlreiche unterspülte und einsturzgefährdete Gebäude. Viele Ortschaften sind verwüstet, in den Straßen und Häusern sammeln sich Schlamm, Schutt und Müll. Angesichts des gravierenden Schadensausmaßes sind die Ressourcen und Kapazitäten des nationalen Katastrophenschutzes schnell erschöpft. Doch innerhalb der Zivilbevölkerung zeigt sich eine starke Betroffenheit und Unterstützungsbereitschaft. Zahlreiche freiwillige Helferinnen und Helfer unterstützen in den kommenden Wochen und Monaten bei den Aufräumarbeiten und nehmen dafür zum Teil weite Anreisen in Kauf. Im Katastrophenschutz wird unterdessen davor gewarnt, dass durch Erderwärmung und Klimawandel künftig vermehrt mit derartigen Wetterphänomenen und Naturkatastrophen zu rechnen sei. Im Bevölkerungsschutz kreisen die Fachdiskussionen daher bereits seit geraumer Zeit um den Begriff der „Community Resilience“, ein Konzept, das auf die Bewältigung auch unvorhergesehener Krisen- und Katastrophensituationen abstellt, indem es wesentliche Bewältigungsressourcen in der kollektiven Leistungsfähigkeit der Bevölkerung selbst verortet. Besonders in Städten sind die gesellschaftlichen Bewältigungsfähigkeiten sozialräumlich jedoch ungleich verteilt. Manche Bevölkerungsgruppen sind resilienter als andere, allein schon deshalb, weil sie in unterschiedlichen Wohngegenden leben [1]. Im Bevölkerungsschutz gewinnt daher zunehmend eine Sozialraumorientierung an Kontur, die sowohl die lokalen Bedarfe und Herausforderungen als auch die Kapazitäten und Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger durch eine Kombination aus zivilgesellschaftlicher Partizipation und Vernetzung aufnimmt und zur Grundlage der kleinräumigen Bewältigung großflächiger Krisen- und Katastrophenereignisse macht [2]. Die Erfahrungen vergangener Krisen und Katastrophen haben zu einem Umdenken des professionellen Bevölkerungsschutzes geführt. Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht länger nur als passive Adressatinnen und Adressaten, sondern als an der Krisenbzw. Katastrophenbewältigung aktiv beteiligte Akteurinnen und Akteure verstanden [3]. Der Bevölkerungsschutz wird damit nicht etwa von seiner staatlichen Schutzpflicht entbunden. Vielmehr wird das klassische Rollenverständnis allmählich durch ein neues Selbstverständnis abgelöst, das die bedarfs- und lebensweltorientierte Stärkung des Sozialraums zum Ausgangspunkt eines präventiven Schutzprinzips macht. Im Fokus steht nunmehr die stärkere Vernetzung mit Alltagsorganisationen, welche die soziale Infrastruktur für die Produktion und Community Resilience in Krisen und Katastrophen Entwicklung eines Sozialkapital-Radars für den sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz Soziales Kapital, sozialer Zusammenhalt, Nachbarschaftshilfe, Community Resilience, sozialraumorientierter Bevölkerungsschutz, Sozialkapital-Radar Bo Tackenberg, Tim Lukas Große Schadenslagen wie die COVID-19-Pandemie oder das Hochwasser im Ahrtal verdeutlichen die Bedeutung der Nachbarschaftshilfe für die Bewältigung von Krisen und Katastrophen. In Städten sind die gesellschaftlichen Bewältigungsfähigkeiten jedoch sozialräumlich nicht gleich verteilt. In der Modellkommune Wuppertal wird daher ein Sozialkapital- Radar entwickelt, mit dem sich die kollektiven Anpassungsleistungen lokaler Unterstützungsgemeinschaften kleinräumig nachvollziehen lassen. Der Beitrag verortet das praxisbezogene Forschungsprojekt im Kontext aktueller Resilienzstrategien zur Sozialraumorientierung im Bevölkerungsschutz. 57 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Verteilung gesellschaftlicher Unterstützung bereitstellen. Im Modus kooperativer Zusammenarbeit und entlang der sozialraumorientierten Bedarfe der Bewohnerinnen und Bewohner soll unter anderem der soziale Zusammenhalt gefördert werden, der in gesellschaftlichen Krisen und Katastrophen einen wesentlichen Resilienzfaktor darstellt. Resilienz durch sozialen Zusammenhalt Als Ausdruck sozialen Zusammenhalts und gesellschaftlicher Solidarität sind Krisen und Katastrophen durch ein hohes Maß an ungebundener Selbstorganisation und wechselseitigem Unterstützungsengagement gekennzeichnet [4]. So zeigte sich gerade zu Beginn der COVID-19-Pandemie ein starkes prosoziales Unterstützungsverhalten innerhalb der Bevölkerung, das von Hilfen beim Einkauf bis hin zur Kinderbetreuung reichte. Zu einem Zeitpunkt, als die Politik der Bevölkerung noch kein Impfangebot machen konnte, war die pandemische Lage vor allem durch die Solidaritätsapelle von politisch Verantwortlichen geprägt, die auf die Partizipation, Eigenverantwortlichkeit und Achtsamkeit der Bevölkerung abzielten [5]. Dennoch findet die Förderung des sozialen Zusammenhalts bislang nur wenig Beachtung bei der Formulierung von Resilienzstrategien in den etablierten Katastrophenschutzorganisationen. Im Forschungsprojekt „Resilienz durch sozialen Zusammenhalt - Die Rolle von Organisationen (ResOrt)“ (Bild 1) wurden daher Fragen danach gestellt, wie sozialer Zusammenhalt zur Resilienz der Bevölkerung beitragen kann und wie Aspekte des sozialen Zusammenhalts stärker in die Strategieentwicklung von Hilfsorganisationen integriert werden können. Dazu wurde im Frühjahr 2019 eine schriftlichpostalische Bevölkerungsbefragung in Wuppertal durchgeführt. Insgesamt 2 449 Wuppertalerinnen und Wuppertaler nahmen an der Befragung teil und beantworteten Fragen zu verschiedenen Aspekten des sozialen Zusammenhalts in ihrem Wohngebiet. Im Mittelpunkt standen dabei das soziale Vertrauen, der Grad der Partizipation, geteilte Werte- und Normenvorstellungen, die Einbindung in soziale Netzwerke und reziproke Einstellungen. Als Dimensionen der nachbarschaftlichen Unterstützung wurden darüber hinaus sowohl die erwartete als auch die eigene Hilfsbereitschaft in verschiedenen Krisen- und Katastrophensituationen erfragt. Die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt verdeutlichen die besondere Doppelrolle des sozialen Zusammenhalts. Sozialer Zusammenhalt entsteht im alltäglichen Miteinander der Menschen und fördert Ressourcen, die Prozesse der sozialen Steuerung, Unterstützung und Anerkennung rahmen, wodurch die Mitglieder einer Gemeinschaft enger zusammenrücken und miteinander verbunden sind. Auf diese Weise bildet sozialer Zusammenhalt die Basis gemeinschaftlicher Kooperation, die nicht nur in Prozessen der Krisen- und Katastrophenbewältigung, sondern auch im Alltag wirksam wird. Sozialer Zusammenhalt entsteht also nicht erst im Ereignisfall. Vielmehr können Krisen- und Katastrophensituationen als ein Gradmesser der gesellschaftlichen Kohäsion und Kooperationsfähigkeit verstanden werden. So zeigen die Resultate eines im Projekt berechneten statistischen Modells (Bild 2), dass die Wahrnehmung des kleinräumigen Zusammenhalts im eigenen Wohngebiet einen signifikant positiven Einfluss auf die Erwartung an andere hat, sich im Ereignisfall wechselseitig zu unterstützen. Die erwartete Unterstützungsbereitschaft wiederum hat einen positiven Einfluss auf die eigene Bereitschaft anderen in Krisen und Katastrophen zu helfen [6]. Bild 1: Projekt ResOrt. © Tackenberg Bild 2: Vereinfachtes Strukturgleichungsmodell zum Zusammenhang von wahrgenommenem Zusammenhalt und der erwarteten bzw. eigenen Unterstützungsbereitschaft. © Tackenberg LAUFZEIT PROJEKTZIEL WEBSEITE BETEILIGTE : : 1 0/ 201 7 bis 1 2/ 2021 : : A U S A R B E I T U N G V O N H A N D L U N G S E M P F E H L U N G E N F Ü R O R G A N I S AT I O N E N , W I E A S P E K T E D E S S O Z I A L E N Z U S A M M E N H A LT S A L S W E S E N T L I C H E R R E S I L I E N Z FA K T O R I N D I E S T R AT E G I E E N T W I C K L U N G M I T E I N B E Z O G E N W E R D E N K Ö N N E N U N D S O Z I A L E R Z U S A M M E N H A LT G E F Ö R - D E R T W E R D E N K A N N . : : w w w.projekt-resort.de FKZ: 01UG1724AX + + EINSCHÄTZUNG DES WOHNGEBIETS: : : Die Menschen in meinem Wohngebiet sind im Allgemeinen sehr engagiert. : : Auf die Menschen in meinem Wohngebiet kann man sich im Allgemeinen verlassen. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet teilen im Großen u. Ganzen dieselben Werte. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet sind eng miteinander verbunden. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet kümmern sich im Allgemeinen umeinander. WÜRDEN DIE MENSCHEN AUS IHREM WOHNGEBIET VERSUCHEN ZU HELFEN: : : Wenn durch einen Sturm umgestürzte Bäume die Zufahrt zur örtlichen : : Wenn aufgrund einer Hitzewelle insbesondere ältere Menschen auf Hilfe BEI EINEM MEHRTÄGIGEN STROMAUSFALL: : : Für Personen aus meinem Wohngebiet: Ich würde knappe Güter (Batterien, Wasser etc.) teilen. : : Für Personen aus anderen Stadtteilen: Ich würde knappe Güter (Batterien, Wasser etc.) teilen. : : Für Personen aus meinem Wohngebiet: Ich würde meine privaten und : : Für Personen aus anderen Stadtteilen: Ich würde meine privaten und E I G E N E U N T E R S T Ü T- Z U N G S B E R E I T S C H A F T E R WA R T E T E U N T E R S T Ü T- Z U N G S B E R E I T S C H A F T WA H R G E N O M M E N E R S O Z I A L E R Z U S A M M E N H A LT 58 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Den Stadtkarten 1 (Bilder 3 und 4) ist zu entnehmen, dass der Grad des wahrgenommenen Zusammenhalts und der eigenen Unterstützungsbereitschaft in Wuppertal sozialräumlich variiert. Wie die Ergebnisse des statistischen Modells erwarten lassen, 1 Bei den beiden Wuppertaler Stadtkarten (Bilder 3 und 4) handelt es sich um eigene Darstellungen, die mithilfe eines SHP-Datensatzes der Stadt Wuppertal erstellt wurden, der alle 69 Quartiere beinhaltet. Der Datensatz wird unter der Open-Data-Lizenz CC BY 4.0 hier bereitgestellt: https: / / www.offenedaten-wuppertal.de/ dataset/ quartiere-wuppertal. weisen beide Karten ein ähnliches geographisches Verteilungsmuster auf. Während in den nördlichen und südlichen Lagen Wuppertals mit wenigen Ausnahmen optimistischere Werte erkennbar sind, weisen die zentralen Stadtgebiete entlang der Wuppertaler Talachse größtenteils pessimistischere Einschätzungswerte auf. Um zu untersuchen, inwiefern dabei spezifische sozialräumliche Bedingungen einen Einfluss auf die Wahrnehmung des sozialen Zusammenhalts haben, wurde im Projekt Bild 3: Wuppertaler Stadtkarte zum wahrgenommenen Zusammenhalt. © Tackenberg Herbringhausen Schöller-Dornap Dönberg Nächstebreck-Ost Cronenberg Eckbusch Erbschlö-Linde Siebeneick Ehrenberg Küllenhahn rg Ronsdorf-Mitte/ Nord Lichtenplatz Sudberg Nächstebreck-West Hatzfeld Cronenfeld Beyenburg-Mitte Uellendahl-West Varresbeck Uellendahl-Ost Nevigeser Str. Friedrichsberg Zoo Hammesberg Hahnerberg Westring Schrödersbusch Osterholz Heckinghausen Kothen Sedansberg Beek Oberbarmen-Schwarzbach Heidt Nützenberg Blombach-Lohsiepen Vohwinkel-Mitte Ostersbaum Tesche Lüntenbeck Clausen Brill Höhe Nordstadt Berghausen Fleute Kohlfurth Elberfeld Rauental Fr.-Engels-Allee Hesselnberg Sonnborn Loh Rehsiepen Wichlinghausen-Nord Schenkstr. Buchenhofen Arrenberg Löhrerlen Wichlinghausen-Süd Rott Industriestr. . Langerfeld-Mitte Jesinghauser Str. Südstadt Barmen-Mitte Hilgershöhe EINSCHÄTZUNG DES WOHNGEBIETS: BEWERTUNGSSKALA: * : : Die Menschen in meinem Wohngebiet sind im Allgemeinen sehr engagiert . : : 1 Stimme stark zu : : Auf die Menschen in meinem Wohngebiet kann man sich im Allgemeinen verlassen. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet teilen im Großen u. Ganzen dieselben Werte. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet sind eng miteinander verbunden. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet kümmern sich im Allgemeinen umeinander. : : 2 Stimme zu : : 3 Stimme teilweise zu : : 4 Stimme nicht zu : : 5 Stimme überhaupt nicht zu WA H R G E N O M M E N E R S O Z I A L E R Z U S A M M E N H A LT CLUSTER 2: Durchschnittliche Skalenwerte von 2,72 bis 2,82 CLUSTER 4: Durchschnittliche Skalenwerte von 3,22 bis 3,76 CLUSTER 1: Durchschnittliche Skalenwerte von 2,29 bis 2,71 CLUSTER 3: Durchschnittliche Skalenwerte von 2,84 bis 3,2 STADTKARTE: * F ü r j e d e s d e r 5 3 U n t e r s u c h u n g s q u a r t i e r e ( f a r b l i c h h i n t e r l e g t ) w u r d e e i n M i t t e l w e r t a u s d e n f ü n f F r a g e b o g e n i t e m s g e b i l d e t . Z u r b e s s e r e n V e r a n s c h a u l i c h u n g d e s V e r t e i l u n g s b i l d e s w u r d e n d i e M i t t e l w e r t e a l l e r U n t e r s u c h u n g s q u a r t i e r e i n v i e r g l e i c h g r o ß e C l u s t e r g r u p p i e r t . 59 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte eine Mehrebenenmodellierung durchgeführt, bei der die Befragungsdaten in ein hierarchisches Zusammenhangsverhältnis mit sozialstrukturellen Aggregatdaten gestellt wurden. Die Ergebnisse belegen, dass der lokale Zusammenhalt signifikant pessimistischer eingeschätzt wird und direkte Nachbarschaftsbeziehungen weniger gepflegt werden, je höher der Grad der konzentrierten sozialen Benachteiligung im Wohngebiet ist [7]. Entwicklung eines Sozialkapital-Radars Ein Folgeprojekt intensiviert die bisherigen Analysen mit dem Ziel einer praxisbezogenen Übertragung in den sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz. Anknüpfend an die Vorarbeiten aus dem Projekt ResOrt beschäftigt sich der Lehrstuhl für Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit gegenwärtig mit der „Entwicklung eines Sozialkapital-Radars für den sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz (Sokapi-R)“ (Bild 5). Bild 4: Wuppertaler Stadtkarte zur eigenen Unterstützungsbereitschaft. © Tackenberg Herbringhausen Schöller-Dornap Dönberg Nächstebreck-Ost Cronenberg Eckbusch Erbschlö-Linde Siebeneick Ehrenberg Küllenhahn rg Ronsdorf-Mitte/ Nord Lichtenplatz Sudberg Nächstebreck-West Hatzfeld Cronenfeld Beyenburg-Mitte Uellendahl-West Varresbeck Uellendahl-Ost Nevigeser Str. Friedrichsberg Zoo Hammesberg Hahnerberg Westring Schrödersbusch Osterholz Heckinghausen Kothen Sedansberg Beek Oberbarmen-Schwarzbach Heidt Nützenberg Blombach-Lohsiepen Vohwinkel-Mitte Ostersbaum Tesche Lüntenbeck Clausen Brill Höhe Nordstadt Berghausen Fleute Kohlfurth Elberfeld Rauental Fr.-Engels-Allee Hesselnberg Sonnborn Loh Rehsiepen Wichlinghausen-Nord Schenkstr. Buchenhofen Arrenberg Löhrerlen Wichlinghausen-Süd Rott Industriestr. . Langerfeld-Mitte Jesinghauser Str. Südstadt Barmen-Mitte Hilgershöhe BEWERTUNGSSKALA: * : : 1 Sehr wahrscheinlich : : 2 Wahrscheinlich : : 3 Wenig wahrscheinlich : : 4 Gar nicht wahrscheinlich CLUSTER 2: Durchschnittliche Skalenwerte von 1,79 bis 1,88 CLUSTER 4: Durchschnittliche Skalenwerte von 1,98 bis 2,33 CLUSTER 1: Durchschnittliche Skalenwerte von 1,51 bis 1,79 CLUSTER 3: Durchschnittliche Skalenwerte von 1,88 bis 1,95 STADTKARTE: E I G E N E U N T E R S T Ü T- Z U N G S B E R E I T S C H A F T BEI EINEM MEHRTÄGIGEN STROMAUSFALL: : : Für Personen aus meinem Wohngebiet: Ich würde knappe Güter (Batterien, Wasser etc.) teilen. : : Für Personen aus anderen Stadtteilen: Ich würde knappe Güter (Batterien, Wasser etc.) teilen. : : Für Personen aus meinem Wohngebiet: Ich würde meine privaten und : : Für Personen aus anderen Stadtteilen: Ich würde meine privaten und * F ü r j e d e s d e r 5 3 U n t e r s u c h u n g s q u a r t i e r e ( f a r b l i c h h i n t e r l e g t ) w u r d e e i n M i t t e l w e r t a u s d e n v i e r F r a g e b o g e n i t e m s g e b i l d e t . Z u r b e s s e r e n V e r a n s c h a u l i c h u n g d e s V e r t e i l u n g s b i l d e s w u r d e n d i e M i t t e l w e r t e a l l e r U n t e r s u c h u n g s q u a r t i e r e i n v i e r g l e i c h g r o ß e C l u s t e r g r u p p i e r t . 60 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Das lokale Sozialkapital-Radar versteht sich dabei als ein Instrument, mit dem die soziale Unterstützungsbereitschaft in verschiedenen Krisen und Katastrophenlagen kleinräumig identifiziert und nachvollzogen werden kann. Am Beispiel der Modellkommune Wuppertal, wo sich während der Coronavirus-Pandemie ein großes Angebot ehrenamtlicher Nachbarschaftsinitiativen entwickelte, wird dabei zunächst der Zusammenhang von sozialräumlichen Strukturen und lokalem Sozialkapital modelliert und im Rahmen einer quantitativen, mehrsprachigen Bevölkerungsbefragung empirisch untersucht. Der Wert des sozialen Kapitals drückt sich in den Verbindungen aus, die mit anderen Menschen eingegangen werden. Indem soziales Kapital dazu beiträgt, dass sich Menschen gegenseitig Hilfe leisten, bildet es das Fundament für die Herausbildung von lokalen Unterstützungsgemeinschaften im Krisen- und Katastrophenfall. Statistische Analysen kleinräumiger Effekte der sozialstrukturellen Bedingungen des Wohngebiets auf die soziale Unterstützungsbereitschaft der befragten Bürgerinnen und Bürger, sollen Aufschluss über kurz- und mittelfristige soziale Anpassungsprozesse der Bevölkerung in unterschiedlichen Zivil- und Katastrophenschutzlagen geben. Die daraus abgeleiteten Erkenntnisse werden anschließend auf gesamtstädtischer Ebene aggregiert und zusammen mit den verfügbaren kleinräumigen Sozialdaten der Stadt Wuppertal in ein interaktives und räumlich skalierbares graphisches Lagebild (GIS-basiertes Dashboard) zum Bevölkerungsverhalten übersetzt. Mit dem kleinräumigen Sozialkapital-Radar wird kommunalen Entscheidungstragenden ein effizientes Instrument an die Hand gegeben, das es ihnen auf Basis von kleinräumig visualisiertem Kontextwissen ermöglicht, spezifische Wohnquartiere vor Ort zu identifizieren, in denen aufgrund erwartet schwächerer Anpassungsprozesse eine stärkere Sozialraumorientierung noch vor Eintreten eines Ereignisfalls sinnvoll erscheint. Die darauf aufbauende Vernetzung im Sozialraum ermöglicht es den Akteuren des Katastrophenschutzes im Ereignisfall auf belastbare Kooperationsstrukturen zurückzugreifen, durch die ehrenamtliche Hilfsangebote und besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen in einzelnen Wohngebieten schneller ermittelt werden können. Die sozialwissenschaftliche Fundierung und das GIS-basierte Sozialkapital-Radar bilden einen zuverlässigen Ausgangspunkt, um praxisnahe und anwendungsbezogene Rahmenempfehlungen für ein bedarfs- und ressourcenorientiertes Krisenmanagement zu formulieren, indem es die Identifikation sozialer Unterstützungsgemeinschaften im sozialen Nahraum von Wohnquartieren und ihrer Einbindung in den Bevölkerungsschutz ermöglicht. Auf Basis partizipativer Austauschformate mit Entscheidungstragenden anderer Kommunen werden die lokal untersuchten Zusammenhänge in ein generalisierbares Konzept übertragen, das künftig den Leitfaden zur „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ [8] ergänzen soll. Fazit Krisen und Katastrophen, wie zuletzt die Coronavirus-Pandemie oder das Hochwasser im Ahrtal, offenbaren die Schwachstellen des etablierten Hilfesystems und haben zu politischen Diskussionen über eine Neuausrichtung des Bevölkerungsschutzes in Deutschland geführt. Mit der Entwicklung eines kleinräumigen Sozialkapital-Radars wird ein sozialwissenschaftlich fundierter und zugleich praxisbezogener Weg zu einem sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz aufgezeigt, der das kontextuelle Wissen um die Resilienz der Bevölkerung zum Ausgangspunkt eines effektiven Krisenmanagements macht. Stabile Netzwerke im sozialen Nahraum, die im Alltag von Nicht-Krisenzeiten entstanden sind, können die Grundlage schneller und sicherer Hilfe in Notfällen sein. Das persönliche Umfeld ist zumeist am ehesten über lokale Vulnerabilitäten informiert und kann beim Eintritt krisenhafter Ereignisse entsprechende Unterstützung organisieren [9]. Als ein unmittelbares Unterstützungshandeln entwickelt sich wechselseitige Hilfeleistung jedoch nicht im luftleeren Raum. Die Raumbezogenheit einer resilienten Bevölkerung zeigt sich insbesondere im Sozialraum von Stadtquartieren und Nachbarschaften, die als Bezugsrahmen zukünftig eine stärkere Berücksichtigung im System des Bevölkerungsschutzes finden sollten. Bild 5: Projekt Sokapi-R. © Tackenberg LAUFZEIT PROJEKTZIELE WEBSEITE BETEILIGTE : : 08/ 2021 bis 0 7/ 2024 : : E N T W I C K L U N G E I N E S L O K A L E N S O Z I A L K A P I TA L- R A D A R S , M I T D E M S I C H D I E K O L L E K- T I V E N A N P A S S U N G S L E I S T U N G E N S O Z I A L E R G E M E I N S C H A F T E N N A C H V O L L Z I E H E N U N D I M K R I S E N FA L L I D E N T I F I Z I E R E N L A S S E N . : : A BL E I T UN G V O N R A H M E N E M P F E H L U N G E N F ÜR DIE R I S IKOA N ALYS E I M B E VÖL K E R U N G S S C H U T Z . : : w w w.sokapi-r.de FKZ: BBK III.1 - 41201 / 0009 61 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte LITERATUR [1] Bonß, W.: Karriere und sozialwissenschaftliche Potenziale des Resilienzbegriffs. In: Endreß, M., Maurer, A. (Hrsg.): Resilienz im Sozialen, (2015) S. 15 -31. Wiesbaden: Springer VS. [2] Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.): Die vulnerable Gruppe „ältere und pflegebedürftige Menschen“ in Krisen, Großschadenslagen und Katastrophen. Teil 2: Vernetzung und Partizipation - auf dem Weg zu einem sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz. Berlin: Deutsches Rotes Kreuz, 2018. [3] Max, M., Schulze, M.: Hilfeleistungssysteme der Zukunft. Analysen des Deutschen Roten Kreuzes zur Aufrechterhaltung von Alltagssystemen für die Krisenbewältigung. Bielefeld: transcript, 2022. [4] Jewett, R. L., Mah, S. M., Howell, N.: Social cohesion and community resilience during COVID-19 and pandemics: A rapid scoping review to inform the United Nations research roadmap for COVID-19 recovery. International Journal of Health Services, 51(3), (2021), S. 325 - 336. [5] Thießen, M.: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie. Frankfurt/ New York: Campus, 2021. [6] Lukas, T., Tackenberg, B., Kretschmer, S.: Resilienz im Stadtquartier. Welchen Beitrag leistet der wahrgenommene soziale Zusammenhalt zur nachbarschaftlichen Unterstützungsbereitschaft in Krisen? In: Lange, H.-J., Kromberg, C., Rau, A. (Hrsg.): Urbane Sicherheit. Migration und der Wandel kommunaler Sicherheitspolitik, (2021) S. 35 - 57. Wiesbaden: Springer VS. [7] Tackenberg, B.: Community Resilience und ethnische Diversität - Lokales Sozialkapital und nachbarschaftliche Unterstützungsbereitschaft im Städtevergleich. Wuppertal: Bergische Universität Wuppertal (unv. Diss.), 2022. [8] Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hrsg.): Leitfaden Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz. Ein Stresstest für die Allgemeine Gefahrenabwehr und den Katastrophenschutz. Bonn: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, 2019. [9] Stahlhut, B., Fehrecke-Harpke, B.: Partizipation auch in der Krise? In: Skutta, S., Steinke, J. (Hrsg.), Digitalisierung und Teilhabe, (2019) S. 30 - 315. Baden-Baden: Nomos. Bo Tackenberg, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: tackenberg@uni-wuppertal.de Dr. Tim Lukas Akademischer Rat Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: lukas@uni-wuppertal.de AUTOREN All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren Neue Mobilitätskonzepte für lebenswerte Städte Neue Mobilitätskonzepte für lebenswerte Städte Elektromobilität | Luftmobilität | Seilbahnen | Radfahren | Parkraum | Urbane Logistik | Geodaten Elektromobilität | Luftmobilität | Seilbahnen | Radfahren | Parkraum | Urbane Logistik | Geodaten 1 · 2022 SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Urbane Mobilität URBA URBA Städtische Räume und Flächen: Gemeingut oder Wirtschaftsgut? Dritte Orte | Alltagsräume | Stadtbäume | Klimaanpassung | Mobilitätswandel | Transformation Dritte Orte | Alltagsräume | Stadtbäume | Klimaanpassung | Mobilitätswandel | Transformation 4 · 2021 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Lebensraum Stadt URBA Strategien für ein nachhaltiges Wasserressourcenmanagement Starkregen | Hitzestress | Regenwasserbewirtschaftung | Stadtbäume | Dach- und Fassadenbegrünung Starkregen | Hitzestress | Regenwasserbewirtschaftung | Stadtbäume | Dach- und Fassadenbegrünung 3 · 2021 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Zu viel oder zu wenig Wasser ? URBA Nachhaltige, klimafreundliche Gestaltung von Stadtquartieren Nachhaltige, klimafreundliche Gestaltung von Stadtquartieren Energiewende|Innenstädte|NeueMobilität|Reallabore|Transformation|Freiräume|Kreislaufwirtschaft Energiewende|Innenstädte|NeueMobilität|Reallabore|Transformation|Freiräume|Kreislaufwirtschaft 2 · 2021 URBANE SYSTEME IM WANDEL. 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DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Städtisches Grün - städtisches Blau e S ele für AAbb www Resilienz: W Reesilienz: silienz: Resilienz: W WWWWie iee S St e St ilienz WWiee St ilienz: tt si : t Co orona | Verhä or ro ronna a | Ver rhhä äuuus slic chung chung hung ung uslichung | aa | Ver rhhä hu un Co rhäu | Innovative Konzepte für den Wandel städtischer Quartiere Stadtentwicklung | Resilienz | Bürgerbeteiligung | Energiewende | Mobilität | Luftqualität | Smart City Urbane Transformation Ambivalenz zwischen urban zz z em Lifestyle und ländlicher Idylle Digitalisierung | Sm mart Cities | Mobili Sm m Sm m tät | Ländliche Regionen | Urbane Peripherie | Stadtökologie | Stadtgrün Urbanes es ssssssssss es sssss es sss eeeeeeeeee Land - durcccccccccccccccccccchhhgrü hh nte Stad dddddddddddddddddddt Urbaner Metabolismus: Material- und Energieflüsse in der Stadt Flächennutzung | Stadtgrün | Rohsto e | Energie | Wasser + Abwasser | Wiederverwendung | Bioökonomie SSSSStä SSS dti d i hhhhhhhh schhhhhhhh schee Res Res Re Re Re Re Res Res Res Res Res RRes Re RRee Res ee sourcenn 62 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Krisen als Entscheidungspunkte zukünftiger Entwicklung Die Covid-19-Pandemie hat das Leben in Städten weltweit verändert. Die Krankheit löste vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen krisenhafte Momente aus und legte somit Defizite in der öffentlichen Daseinsvorsorge offen. Zugleich verursachte das Herunterfahren des öffentlichen Lebens über längere Phasen ökonomischen, sozialen und psychischen Stress für die Einzelnen und die Stadtgesellschaften insgesamt. Die Erfahrungen der Pandemie ermöglichten aber auch durch das Aussetzen von Alltagsroutinen neue Perspektiven auf öffentliche Infrastrukturen. Ein Aspekt davon war, dass insbesondere kommunale Politik und Verwaltung kurzfristig urbane Innovationen dort implementieren konnten, wo sich unmittelbare gesellschaftliche Bedarfe zeigten. Besonders zu Beginn der Pandemie wirkten sich kollektive Eindämmungsmaßnahmen sowie individuelles Schutzverhalten einschränkend und dämpfend auf das Alltagsleben aus. Die unmittelbarsten Innovativ durch Krisen Covid-19 als Opportunitätsfenster für Digitalisierung und ökologische Nachhaltigkeit vor Ort Krise, Kommunale Handlungsfähigkeit, Digitale und nachhaltige Innovationen Steffen Jähn Krisen markieren oft Zeitpunkte, zu denen der weitere Verlaufspfad städtischer Entwicklung deutlicher wird. Die Covid-19-Pandemie stellte die öffentliche Daseinsvorsorge vor Herausforderungen. Dennoch konnte diese Krise von kommunalen Akteuren für digitale und ökologisch nachhaltige Innovationen genutzt werden. Der Artikel zeigt anhand zweier Beispiele aus Berlin, wie lokale Politik und Verwaltung vor dem Hintergrund plötzlich eintretender Krisenereignisse weiter handlungsfähig sein können und wie das auch zukünftig gelingen kann. © Edwin Hopper on unsplash 63 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte und deutlichsten Veränderungen äußerten sich in einer reduzierten Alltagsmobilität. Vor allem der öffentliche Nahverkehr verlor wegen einer befürchteten Ansteckungsgefahr die meisten Anteile an zurückgelegten Wegen. Im selben Augenblick nahm die digitale Kommunikation einen größeren Stellenwert in sozialen Routinen ein. Im Bereich des Arbeitens etwa vervielfachte sich der Anteil der Beschäftigten, die regelmäßig im Homeoffice arbeiten, ebenso verzeichneten der Online-Handel und Essenslieferdienste starke Umsatzzuwächse und auch digitale Nachbarschaftsplattformen registrierten eine Zunahme von Anmeldungen und Interaktion [1]. Diese veränderten Praxen der Mobilität sowie der Nutzung digitaler Tools ermöglichten neue und über die Krise hinausweisende Perspektiven auf ökologische Nachhaltigkeit sowie die Digitalisierung im Bereich des Städtischen. Bereits vor der Pandemie wurden beide Felder international mit Habitat- III - der urbanen Agenda der Vereinten Nationen - sowie der Neuen Leipzig Charta in der Europäischen Union als Ankerpunkte gegenwärtiger städtebaulicher Leitbilder definiert. Als Folge der Krise wurden diese Felder im Rahmen staatlicher Wiederaufbauprogramme mit finanziellen Förderungen bedacht und deren Implementation vor Ort dürfte sich in der Folge weiterhin intensivieren. Die Europäische Union etwa passte ihr langfristiges Budget ab 2021 zusammen mit kurzfristig aufgelegten Wiederaufbauprogrammen in der Höhe von insgesamt rund zwei Billionen Euro an. Bis zur Hälfte dieser Mittel soll von den Mitgliedstaaten darauf verwendet werden, Investitionen in erneuerbare Energien, die Energieeffizienz von Gebäuden, in Elektromobilität, den Breitbandausbau, die Digitalisierung der Verwaltung sowie den Aufbau von Rechenzentren zu intensivieren [2]. Kommunale Gestaltungsräume in der Krise Bei der Implementation dieser Vorhaben wird es unter anderem auf die Agilität von lokaler Politik und Verwaltung ankommen. Bereits vor der Pandemie wurde darauf verwiesen, dass es in Kommunen noch einige zu beseitigende Hemmnisse gibt, um angesichts der ökologischen und sozialen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte nicht nur reaktiv, sondern auch innovativ handeln zu können. In den letzten Jahren schränkten vielerorts ein Mangel an finanzieller Autonomie, fehlendes Fachpersonal und partiell institutionelle Faktoren, etwa in Folge starker Reglementierung durch übergeordnete Ebenen, die kommunale Handlungsfähigkeit ein [3]. Die durch die Covid-19-Pandemie ausgelöste Krise verdeutlichte drastisch Innovationsbedarfe. In der Bundesrepublik äußerten sich diese im Bereich der Digitalisierung von Behörden etwa im Mangel an Endgeräten, Software oder VPN-Tunneln. In einigen Kommunen führte dies in Kombination mit den zusätzlichen Belastungen durch Aufgaben in der Pandemiebekämpfung dazu, dass Verwaltungsdienstleistungen zeitweise nicht oder nur eingeschränkt verfügbar waren [4]. Gleichzeitig wurde bemängelt, dass etwa die in der organisierten Zivil- und Bürgergesellschaft vorhandenen Ressourcen nicht in die Bewältigung der Notlage geschuldeten Aufgaben eingebunden wurden [4, 5]. Doch an manchen Orten eröffnete die Pandemie der lokalen Politik und Verwaltung einen Raum, um städtische Innovationen zu schaffen. Zwei solcher Beispiele aus dem Stadtstaat Berlin werden hier näher betrachtet. Dort spielten die lokalen Bezirksverwaltungen eine zentrale Rolle bei der Herstellung solcher Innovationen. Stadtweit wurden digital-analoge Schnittstellen in der Nachbarschaftshilfe sowie Fahrrad-Mobilitätslösungen während der Pandemiesituation geschaffen. Dies gelang deshalb, weil öffentliche Akteure die Zivilgesellschaft verstärkt einbanden und weil ebenenübergreifende Zusammenarbeit innerhalb der Verwaltung umsetzungsorientiert und pragmatisch gehandhabt wurde. Digital-Analoge Schnittstellen in der Nachbarschaftsunterstützung In den ersten Tagen der Pandemie herrschte häufig Verunsicherung insbesondere bei vulnerablen Gruppen bezüglich möglicher Infektionsrisiken beim Aufenthalt in der Öffentlichkeit. Gleichzeitig entfielen vielfach Alltagskontakte und Begegnungen im Familien- und Freundeskreis sowie in der Nachbarschaft. Zudem reduzierten soziale Einrichtungen ihre Angebote auf das Nötigste. In dieser Situation wurde deutlich, dass einige Menschen Hilfe bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben wie der Besorgung von Lebensmitteln und Hygieneartikeln, bei Botengängen oder der Versorgung von Haustieren benötigten. Vielfach waren Personen plötzlich auf externe Hilfe angewiesen, die noch kurz zuvor in der Lage waren, sich selbst zu versorgen. Angesichts dieser wachsenden Bedarfe entwickelte sich Hilfsbereitschaft unter Menschen, die ihre Nachbarn in dieser Situation unterstützen wollten. Vielfach boten Personen ihre Hilfe durch Aushänge in Treppenaufgängen von Mehrfamilienhäusern an, außerdem wurden hierfür digitale Medien wie Messengerdienste oder kommerzielle Nachbarschaftsplattformen genutzt [1]. Auf diese Steigerung von Hilfsbereitschaft und -bedarf wurden insbesondere 64 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Verantwortliche in Politik und Verwaltung schon zu einem frühen Zeitpunkt aufmerksam. Um diese Hilfebedarfe schnell entsprechenden Angeboten zuzuordnen, wurden digital-analoge Schnittstellen bereitgestellt. Die Initiative hierzu ging von der Berliner Senatsverwaltung sowie den unterschiedlichen Fachresorts der Bezirke aus. In den Aufbau dieser Struktur wurden bereits frühzeitig bezirkliche Freiwilligenagenturen integriert - da sie über Netzwerke sowie weitreichende Erfahrung in der Koordination von Engagement verfügten [4]. Als Schnittstellen fungierten dabei eine Telefonhotline sowie eine Online-Maske, die über die Internetpräsenzen der Berliner Verwaltung sowie über die Seite hilf-jetzt.de zu erreichen war, auf der bundesweit Unterstützungsangebote gesammelt zur Verfügung gestellt wurden. Während des Frühjahrs 2020 nutzten täglich mehrere hundert Hilfsbereite und Bedürftige dieses Angebot, wobei die Hotline vor allem von älteren Hilfesuchenden und die Online-Maske eher von den jüngeren Hilfeanbietenden genutzt wurde [4]. Die Mitarbeitenden der Freiwilligenagenturen führten dann mit Hilfe eines eigens entwickelten digitalen Datenbanktools Bedarfe und Angebote zusammen. Sowohl in der Verwaltung, als auch bei den Freiwilligenagenturen führte diese Kooperation zu einem besseren Verständnis des Handelns der jeweils anderen Seite und zudem beidseitig zu intensiveren Erfahrungen mit der Nutzung digitaler Tools. Wenngleich im Jahresverlauf die Nutzung dieser Hilfestrukturen stark nachgelassen hat, ist doch ein gewisser Lerneffekt zu verzeichnen. Im Gegensatz zur Fluchtmigration 2015 reagierte die Verwaltung innerhalb weniger Tage, indem sie schon zu Anfang digital-analoge Schnittstellen für Freiwillige bereitstellte sowie etablierte Akteure aus der Zivilgesellschaft in die Hilfsstrukturen einband. Denn damals waren lokale Politik und Verwaltung in die Kritik geraten, weil sie erst spät die dezentralen selbstorganisierten Hilfestrukturen aus der Bürgerschaft in ein übergreifendes Hilfekonzept einbanden. Aktuell verweist der Umgang der Berliner Senatsverwaltung sowie der Freiwilligenagenturen mit der Fluchtmigration aus der Ukraine darauf, dass hier ein institutionelles Lernen stattgefunden hat. So wird etwa bei Vermittlung von Privatzimmern auf die Webseite einer zivilgesellschaftlichen Organisation verwiesen. Und auf den Seiten vieler bezirklicher Freiwilligenagenturen wird erneut die Nutzung digitaler Schnittstellen für die Vermittlung von Hilfen angeboten. Die Innovation liegt hier insbesondere darin, sich in Notsituationen im Rahmen kurzer Entscheidungswege innerhalb der Verwaltung abzustimmen und zugleich die engagierte Bürgerschaft als Mitspieler einzubeziehen. Pop-Up-Fahrradwege Im Bereich des Stadtverkehrs wurden Innovationen ebenfalls durch Kooperation erstellt, dort waren es allerdings die unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung, die handlungsorientiert miteinander in Austausch traten. Diese Maßnahmen hatten in Berlin ihre organisatorischen Grundlagen vor der Pandemie und sie wurden noch währenddessen für die Zeit danach verstetigt. Schon in den Jahren zuvor zeigte sich ein erhöhter Bedarf an infrastrukturellen Alternativen zum motorisierten Individualverkehr. Dieser ergab sich insbesondere aufgrund des starken Bevölkerungszuwachses der Stadt sowie der damit einhergehenden Zunahme innerstädtischer Verkehre. Der Ausbau öffentlicher Verkehrsangebote und Fahrradverkehrsinfrastrukturen wurde insbesondere seit 2016 von der Rot-Rot-Grünen Regierungskoalition angekündigt. Allerdings war aufgrund eines lange andauernden Prozesses von Gesetzgebungs- und Planungsverfahren die konkrete Umsetzung noch weitgehend ausgeblieben [6]. Die Sondersituation des Lockdowns bot an einigen Stellen die Möglichkeit, diesem größeren Vorhaben mit konkreten Maßnahmen teilweise vorzugreifen. Das weitgehende Fehlen von Alltagsverkehren im Frühjahr 2020 schuf den Raum für eine solche konkrete Umsetzung. Mit Pop-Up-Fahrradwegen, unmittelbar eingerichteten Fahrradinfrastrukturen, konnten diese in kurzer Zeit durch ebenenübergreifende Verwaltungskooperation umgesetzt werden. Das Konzept wurde bereits Anfang März 2020 in Bogotá / Kolumbien angewandt und schnell in europäischen Städten übernommen. In Berlin wurde der größte Anteil der Streckenkilometer im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg geschaffen. Das dort zuständige Straßen- und Grünflächenamt richtete bis Ende des Sommers 2020 16 Kilometer Bild 1: Inzwischen verstetigter Pop-Up-Radweg Kottbusser Damm im April 2022. © Jähn