Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2022-0044
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Historische Innenstädte in der Corona-Pandemie
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Erik Mann
Stefanie Rößler
Robert Knippschild
Seit Beginn der Corona-Pandemie wurden unterschiedliche Thesen zu deren Auswirkungen auf die Stadtentwicklung formuliert. Die Vielfältigkeit möglicher Folgen für Infrastruktur, Mobilität und das Stadtleben ließ auch räumliche Auswirkungen vermuten. Angesichts unterschiedlicher Rahmenbedingungen sind spezifische Auswirkungen in historischen Innenstädten zu erwarten. Eine Experteneinschätzung im ersten Jahr der Pandemie in sechs Städten mit historisch bedeutsamen Innenstädten zeigt mögliche Potenziale und Herausforderungen für die künftige Entwicklung.
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75 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte und ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen werden. Bislang zeigte sich die Stadt innovativen Ansätzen gegenüber offen, um Leerstand zu vermeiden (zum Beispiel: Zwischennutzungen) oder „neue“ Bauweisen an historischer Substanz (zum Beispiel: Balkone im Hinterhof). Um den heutigen Nutzungsansprüchen und gleichzeitig den Herausforderungen einer denkmalverträglichen Stadtentwicklung gerecht werden zu können, sollte die Stadt diese Offenheit beibehalten. In Quedlinburg gibt es bereits innovative Akteure, die leerstehende Flächen flexibel nutzen könnten (zum Beispiel: für Coworking in ehemaligen Industriegebäuden). Für die Mittel- und Welterbestadt Quedlinburg ist es zukünftig von Bedeutung, den Resilienzbegriff in der Praxis zu operationalisieren und mögliche resilienzbildende Leitideen, Strategien und Maßnahmen zukunftsweisend gemeinsam mit allen Akteuren zu realisieren. LITERATUR [1] Jakubowski, P. Kaltenbrunner, R.: Resilienz. S. I-II, in: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 4, (2013). [2] Christmann, G., Ibert, O., Kilper, H.: Resilienz und resiliente Städte. S. 183 - 196, in: Jäger, T., Daun, A., Freudenberg, D. (Hrsg.): Politisches Krisenmanagement. Band 2: Reaktion - Partizipation - Resilienz. Wiesbaden, Springer VS, 2018. [3] Jakubowski, P.: Resilienz - eine zusätzliche Denkfigur für gute Stadtentwicklung. In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 4, (2013) S. 371 - 378. [4] Schmitt. T., Schweitzer, A.: Welterbe der Stadtentwicklung in Gefahr? Zu deutschen Debatten und zur global-lokalen Governanz von UNESCO-Welterbestätten am Beispiel des Kölner Doms. In: Berichte zur deutschen Landeskunde, Leipzig, Band 21, Heft 4, (2007) S. 329 - 352. [1] Quedlinburg-Tourismus-Marketing GmbH: Geschichte und Chronik. Zuletzt aufgerufen am 05.04.2022, https: / / www.quedlinburg-info.de/ de/ sehenswert/ historie.html [6] Deutsche Stiftung Denkmalschutz: Quedlinburg: Denkmalschatz trifft Denkmalschutz. Bonn, 2019. [7] brain-SCC GmbH: Demografie-Monitor. Kennzahlen und Indikatoren der Landesentwicklung. Zuletzt aufgerufen am 05.04.2022, http: / / www.demografiemonitor.de [8] Manz, K.: Quedlinburg: Auswirkungen des Status als UNESCO-Weltkulturerbe auf die Stadtentwicklung. In: Europa Regional, 7 (1999) (4) S. 14 - 22" https: / / nbn-resolving.org/ urn: nbn: de: 0168-ssoar-48277-2 [9] Deutsche UNESCO-Kommission e. V.: Über die Deutsche UNESCO-Kommission, Zuletzt aufgerufen am 05.04.2022, https: / / www.unesco.de/ [10] Liebold, R., Trinczek, R.: Experteninterview. In: Kühl, S., Strodtholz, P., Taffertshofer, A. (Hrsg.): Handbuch Methoden der Organisationsforschung. Quantitative und Qualitative Methoden. Wiesbaden, (2009) S. 32 - 56. [11] Mayer, H. O.: Interview und schriftliche Befragung. Grundlagen und Methoden empirischer Sozialforschung. 6. überarb. Aufl., München, 2013. [12] Meuser, M., Nagel, U.: ExpertInneninterviews - Vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Bogner, A., Littig, B., Menz, W. (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen, (2002) S. 71 - 93. [13] Helfferich, C.: Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Aufl.. Wiesbaden, 2011. [14] Mayring, P.: Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. 11. überarb. Aufl., Weinheim, 2010. [15] Welterbestadt Quedlinburg (Hrsg.): QUEDLINBURG 2036. Zweite Fortschreibung Städtebaulicher Rahmenplan der Welterbestadt Quedlinburg / Juli 2021. [16] Ruland, R.: Entwicklung vs. Weltkulturerbe? Der schwierige Umgang mit einem Flächendenkmal. In: Bauwelt 21, (2006) S. 50 - 51 [17] Franz, P.: Stadtentwicklung durch Denkmalschutz? Eine Analyse seiner Regulierungs- und Anreizinstrumente. In: Wirtschaft im Wandel 6 (2010) S. 274 - 280. [18] Oevermann, H., Mieg, H. A.: Nutzbarmachung historischer Industrieareale für die Stadtentwicklung: Erhaltungsbegriffe und Fallbeispiele in der Praxis. In: disp - The Planning Review, 52 (1), (2016) S. 31 - 41. [19] Schirmer, U.: Eine Erfolgsgeschichte. Altstadtsanierung Quedlinburg. In: Monumente, Jg.29, Nr. 2, (2019) S. 64 - 72. [20] Interview mit Vetreter*innen der Stadt Quedlinburg am 17.02.2022. [21] Knippschild R., Zöllter C.: Stadterneuerung zwischen Revitalisierung und Denkmalschutz. In: Altrock U., Kurth D., Kunze R., Schmidt H., Schmitt G. (Hrsg.) Stadterneuerung in Klein- und Mittelstädten. Jahrbuch Stadterneuerung. Springer VS, Wiesbaden, 2020. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-30231-3_6 [22] Sandmeier J., Selitz L.M.: Das Kommunale Denkmalkonzept Bayern. In: Altrock U., Kurth D., Kunze R., Schmidt H., Schmitt G. (Hrsg.): Stadterneuerung in Klein- und Mittelstädten. Jahrbuch.- Die Autorin bedankt sich bei den Interviewpartnerinnen und -partnern für die wertvollen Auskünfte und Hinweise, ohne die dieser Beitrag nicht zustanden gekommen wäre. Außerdem bedankt sie sich bei ihren Kolleginnen, Dr. Nora Mehnen und Dr. Sonja Fücker, für die Anmerkungen und Korrekturen. Dr. Lena Greinke Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre Institut für Umweltplanung Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover Kontakt: greinke@umwelt.uni-hannover.de AUTORIN 76 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Bereits kurz nach Beginn der Corona-Pandemie und des Inkrafttretens der Schutzmaßnahmen wurden insbesondere in den Medien vielfältige potenzielle Auswirkungen auf Städte und das Stadtleben beschrieben: Beispielsweise könnte es zur Reduzierung öffentlicher Parkflächen in Innenstädten kommen [1], das Arbeiten in Zukunft flexibler und ortsungebundener stattfinden [2], der Handel zukünftig lokaler funktionieren [3] und die Gastronomie Einbußen, aber auch Erholungseffekte erfahren [4]. Von wissenschaftlicher Seite wurden vor allem Fragen zur Bebauungs- und Funktionsdichte in Städten [5] und den Veränderungen im (berufsbedingten) Mobilitätsverhalten [6] aufgeworfen. Angesichts dieser ersten Vermutungen scheinen Innenstädte besonders für Folgen der Corona- Pandemie exponiert. Durch ihre Multifunktionalität beherbergen sie vor allem Einrichtungen der durch Reisebeschränkungen und Schließungen besonders stark betroffenen Sektoren Einzelhandel, Kultur und Tourismus. Zudem weisen sie aufgrund ihrer meist hohen baulichen Dichte selten ausreichend Freiräume auf. In historischen Altstädten, besonders in Welterbestätten, treten diese Umstände in besonderem Maße hervor. Deren hohe Anziehungskraft sorgt wiederum für günstige wirtschaftliche Perspektiven. Das Infrastrukturangebot muss sowohl auf Tourist*innen als auch Bewohner*innen ausgerichtet sein. Die hohe bauliche Dichte und der Erhalt historischer Gebäude unterschiedlichster Epochen machen das Bauen im Bestand zu einer besonderen Herausforderung [7]. Historische Innenstädte Historische Innenstädte in der Corona-Pandemie in der Corona-Pandemie Stadtentwicklung, Altstädte, Weltkulturerbe, Tourismus, Denkmalschutz, Revitalisierung Erik Mann, Stefanie Rößler, Robert Knippschild Seit Beginn der Corona-Pandemie wurden unterschiedliche Thesen zu deren Auswirkungen auf die Stadtentwicklung formuliert. Die Vielfältigkeit möglicher Folgen für Infrastruktur, Mobilität und das Stadtleben ließ auch räumliche Auswirkungen vermuten. Angesichts unterschiedlicher Rahmenbedingungen sind spezifische Auswirkungen in historischen Innenstädten zu erwarten. Eine Experteneinschätzung im ersten Jahr der Pandemie in sechs Städten mit historisch bedeutsamen Innenstädten zeigt mögliche Potenziale und Herausforderungen für die künftige Entwicklung. Lübeck. © Udo Voigt auf Pixabay 77 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Studie zu Herausforderungen in historischen Innenstädten Dieser Beitrag basiert auf einer Untersuchung zur Art und Wahrscheinlichkeit des Eintretens langfristiger Folgen durch die Corona-Pandemie in historischen Innenstädten [8]. Es wurden sechs Städte in Deutschland konkret betrachtet - Bamberg, Regensburg, Lübeck, Stralsund, Görlitz und Meißen. Die Städte beschäftigen sich als „Arbeitsgemeinschaft Historische Städte“ vorrangig mit dem Erhalt und der zeitgemäßen Nutzung historischer Altstadtquartiere und betreiben diesbezüglich einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch. Die Untersuchung basierte auf Hypothesen in den Themenfeldern Wohnen, Tourismus, Freiraum, Einzelhandel, Kultur und Stadtentwicklungsplanung (Bild 1). Zunächst wurden die Entwicklungsstände und künftige Entwicklungsziele der Altstadtquartiere vor der Pandemie auf Grundlage von Stadtentwicklungskonzepten und sektoralen Fachplanungen sowie erste Erkenntnisse aus dem Pandemiegeschehen analysiert. Der Betrachtungszeitraum reichte von Anfang 2020 bis Ende September 2020. So konnten die Phase des ersten Lockdowns mit sehr starken Einschränkungen des öffentlichen Lebens im Frühjahr und die Beruhigung des Infektionsgeschehens in den Sommermonaten mit entsprechenden Lockerungen der Einschränkungen betrachtet werden. Schlüsselfaktoren wurden identifiziert und ihre Wirkung untereinander analysiert. Daraufhin wurden für die ausgewählten Themen jeweils zwei Entwicklungsszenarien erstellt. Expert*innen aus der Arbeitsgemeinschaft wurden mit einem Fragebogen zur Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Szenarien befragt. Ergebnisse Wohnen Vor der Pandemie erfuhren die Altstädte zumeist eine positive Bevölkerungsentwicklung. Die Wohnfunktion wurde trotz geringer Defizite in Bezug auf das familien- und seniorengerechte Wohnen als stabil beschrieben. Durch eine zunehmende Differenzierung beim Wohnraumangebot sollten diese Defizite in Zukunft abgebaut werden. Die Mittelstädte in der Untersuchung konnten dabei auf einen Wohnungsüberhang zurückgreifen, die Großstädte konnten neuen Wohnraum nur durch Neubau und Nachverdichtung bereitstellen. In den Szenarien wurde hinterfragt, ob die bestehende Differenzierung des Wohnraums in den Altstädten ausreicht, um die Wohnfunktion aufrechtzuerhalten oder ob mögliche veränderte Ansprüche an den Wohnraum zur Abwanderung führen würden. Die befragten Städte hielten große Abwanderungen aus den Altstädten zu diesem Zeitpunkt für unwahrscheinlich. Man konnte sich aufgrund der Kompaktheit der Stadtteile, der kurzen Wege und der fußläufigen Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen sogar weitere Bevölkerungsgewinne vorstellen. Damit würde das Thema Wohnen generell wichtiger für die Stadtentwicklung werden. Tourismus Besonders in den Städten mit Weltkulturerbetitel (Bamberg, Regensburg, Lübeck, Stralsund) trug der Hypothese 1 - Wohnen Das Homeoffice und der verstärkte Aufenthalt in der eigenen Wohnung führen zu neuen Ansprüchen an den Wohnraum, den die Altstädte nicht bedienen können. In der Folge treten Abwanderungsbewegungen auf. Hypothese 2 - Tourismus Um Altstädte in Zukunft resilienter gegen Pandemien zu machen und eine konstante Belebung der Quartiere zu erreichen, werden touristische Angebote reduziert und Angebote für die Bewohnerschaft ausgebaut. Hypothese 3 - Freiraum Die Pandemie zeigt eine Unterversorgung der Altstädte mit Freiräumen. Eine Aufwertung und Vernetzung bestehender Freiräume reicht nicht aus, um neue Bedarfe zu decken. Der Rückbau wird genutzt, um neue Flächen zu generieren. Hypothese 4 - Einzelhandel Die Altstädte behalten ihren Reiz für den Einzelhandel. Wenn es durch die Pandemie zu Geschäftsaufgaben kommt, werden schnell Nachmieter*innen gefunden. Lediglich die angebotene Ware verändert sich unter Umständen. Hypothese 5 - Kultur Die Pandemie führt nicht zu einem verringerten Verlangen nach Kultur. Ein erhöhter Infektionsschutz führt allerdings zu mehr Freiluftveranstaltungen und weniger Kapazitäten in Gebäuden, was bestehende Kultureinrichtungen gefährdet. Hypothese 6 - Stadtentwicklungsplanung Durch das Pandemiegeschehen verzögert sich die Fortschreibung von Stadtentwicklungskonzepten. Sie werden durch die Pandemie komplexer, weil in Zukunft mehr Interessen und Akteur*innen berücksichtigt werden müssen. Bild 1: Hypothesen der Untersuchung. © Erik Mann 78 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Tourismus zur wirtschaftlichen Stabilität bei. Er beschränkte sich dabei in der Regel auf die Altstädte. Laut mehrerer Stadtentwicklungskonzepte sollte die touristische Nutzung gefördert werden, etwa durch eine Stärkung des Übernachtungstourismus oder durch weitere Angebote in anderen Stadtteilen. Die Akteure signalisierten, dass sie eine weitgehende Normalisierung im Tourismus für realistisch halten. Beeinträchtigungen wurden eher durch einen Rückgang von Geschäftsreisen gesehen. Sollten Tourist*innen aber auf lange Sicht ausbleiben, belaste das neben Beherbergungsbetrieben auch die Gastronomie. Geschäftsaufgaben in diesen Segmenten könnten dann größere Funktionsverluste für die Altstädte bedeuten. Auch wenn der Lockdown eine starke Abhängigkeit der Altstädte vom Tourismus offenlegte, sahen die befragten Akteure keinen Anlass darin, touristische Angebote zugunsten von Angeboten für die Bewohner*innen zu reduzieren, auch wenn diese während der Pandemie Absatz und Konsum überhaupt erst ermöglichten. Freiraum Bereits vor der Pandemie deutete vieles darauf hin, dass die untersuchten Altstädte in Bezug auf Sport-, Spiel- und Grünflächen unterversorgt sind. Straßen, Wege und Plätze übernahmen neben der verkehrlichen Nutzung noch weitere Funktionen. Die Städte beschrieben in ihren Plänen und Programmen, dass in Zukunft die Freiraumgestaltung durch stärkere Vernetzung, verbesserte Zugänglichkeit und Aufwertung der Ausstattung bestehender Flächen verbessert werden sollte. In den Szenarien wurde danach gefragt, ob es ausreicht, bestehende Freiflächen qualitativ anzupassen oder ob es nötig werden würde, dauerhaft mehr nutzbare Flächen zur Verfügung zu stellen. Die Städte signalisierten zunächst, dass multifunktional ausgestattete Freiräume Teil der Altstädte wären und zum Stadtbild gehören würden und auch Sport- und Spielaktivitäten im öffentlichen Raum gewünscht wären. Es sei auch die Bereitschaft da, neue Freiräume zu schaffen, wenn der Bedarf bestehe. Nur gebe es Grenzen bezüglich des verfügbaren Raums in den Altstädten. Mehr Flächenpotenziale gibt es eher in den kleineren Mittelstädten (Görlitz, Meißen). Da einige Städte aber auch mit einem Rückgang des Nutzungsaufkommens in den Grünanlagen nach der Pandemie rechneten, bekam auch das Szenario viel Zuspruch, welches nur die qualitative Verbesserung bestehender Freiräume vorsah. Einzelhandel Die Innen- und damit auch die Altstädte bildeten vor der Pandemie häufig das Versorgungszentrum in den untersuchten Städten. Dabei konkurrierten die größeren Städte in zentralen Lagen stärker mit anderen Einzelhandelsstandorten, was sich auch auf die Angebotspalette in den Altstädten auswirkte. In peripheren Lagen bildeten die Erreichbarkeit und in Grenzregionen das Preisgefälle zu Nachbarländern limitierende Faktoren für eine vitale Einzelhandelslandschaft. Innenentwicklung und Funktionserhaltung waren vor der Pandemie wichtige Planungsziele in den Städten, was sich in einer qualitativen und zielgruppenorientierten Gestaltung des Einzelhandels und der Ausbildung von Alleinstellungsmerkmalen widerspiegelte. Beim Thema Einzelhandel wurde aufgrund der starken pandemiebedingten Einschränkungen bei beiden Entwicklungsszenarien eine Verschlechterung der zukünftigen Situation gegenüber der Ausgangssituation beschrieben. Die befragten Akteure rechneten durch verstärkten Online-Handel und verringerte Kaufkraft mit negativen Folgen für den stationären Einzelhandel, die zudem bereits kurzfristig eintreten würden. Dazu zählten Geschäftsaufgaben und durch Leerstand und Attraktivitätsverlust auch eine funktionale Schwächung der Altstädte. Bild 2: Aufruf des Görlitzer Einzelhandels zum Einkauf in der Stadt, 2021. © S. Rößler 79 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Kultur Die häufig aus historischen Gründen in den Altstädten verorteten Kultureinrichtungen hatten vor der Pandemie einen hohen Anteil bei der Generierung von Besucher*innen. Auch der öffentliche Raum in den Altstädten wurde häufig kulturell bespielt. Gefragt, ob nach der Pandemie übliche Formate und Angebote ausreichen würden, um die Nachfrage nach Kultur zu bedienen, oder ob es Veränderungen in der Angebotspalette von Kulturveranstaltungen geben könnte, gab es unterschiedliche Reaktionen. Gemäß der Einschätzung der Entwicklungsszenarien gingen die befragten Städte von einer Rückkehr zur Normalität aus, hatten aber Sorge, dass neue Infektionsschutzrichtlinien sinkende Besucherzahlen bzw. steigende Kosten zur Folge haben könnten. Dennoch galt die Auflösung traditioneller Kultureinrichtungen als unwahrscheinlich, da sie fester Bestandteil der Altstädte und auch des Weltkulturerbes seien. Im Hinblick auf neue Formate wurde signalisiert, dass die Altstädte ein gutes Ambiente für Kulturveranstaltungen im Freien bieten würden und hier auch Raum und Wille für diesbezügliche Experimente herrsche. Stadtentwicklungsplanung Die Bestandspflege historischer Gebäude und der Erhalt der Stadtteilstruktur waren vor der Pandemie ein wichtiger Bestandteil der Stadtentwicklungsplanung in allen untersuchten Städten. Zum Erhalt der oberzentralen Funktion sollten in den Altstädten gezielt Gewerbe und Dienstleistungen verortet werden. Sie sollten aber nicht nur funktional, sondern auch gestalterisch stärker in die Gesamtstadt eingebunden werden. Im Hinblick auf die Nutzung der Verkehrsinfrastruktur verfolgten alle Städte das Ziel der Entlastung der Altstädte vom Durchgangsverkehr sowie vom ruhenden Verkehr. Das Ziel einer hohen baulichen Dichte und urbaner Qualitäten wurde eher in den Großstädten verfolgt. Meißen als kleinste Stadt in der Betrachtung signalisierte, dass vor allem die Wohnquartiere nicht weiter verdichtet werden sollten. Die Auswertung zeigte, dass nur einige Städte der Meinung sind, dass sich durch die Pandemie die Komplexität der Stadtentwicklungsplanung erhöhen könnte und, dass sich laufende Fortschreibungen von Entwicklungskonzepten durch die Einarbeitung des Themas Pandemie verzögern würden. Obwohl die Bewältigung der Corona-Krise neues Wissen erfordere, ist der Großteil der befragten Städte der Meinung, dies mit dem bestehenden Fachpersonal leisten zu können. Unterstützend wirkt der Ausblick darauf, dass bestehende Kooperationen der Kommunen mit anderen Akteuren, die sich in der Regel arbeitserleichternd auswirken, durch die Corona- Krise nicht gefährdet scheinen. Fazit und Schlussfolgerungen Die Untersuchung zeigte, dass die Sektoren Wohnen und Tourismus das Potenzial haben, nach der Pandemie stabilisierend auf Alt- und Innenstädte zu wirken. Die Pandemie könnte für ein höheres Tempo bei der Differenzierung des Wohnraums sorgen, um die Attraktivität des Wohnens in der Altstadt zu sichern. Die Erfahrungen aus den Sommermonaten 2020 könnten dazu führen, dass Kulturveranstaltungen vermehrt im öffentlichen Raum und auf Grün- und Freiflächen stattfinden werden. Dadurch würde eine intensivere Nutzung der Flächen erfolgen, in deren Folge die qualitative Ausgestaltung bestehender Freiräume vorangetrieben werden könnte. Die erhöhte Aufmerksamkeit auf das direkte Wohnumfeld könnte die Bedarfe zur Schaffung und Ausgestaltung privater Freiräume in Wohnquartieren steigern. Durch absehbare Geschäftsaufgaben im Einzelhandel kann es vermehrt zu Leerständen in den Altstädten kommen. Darunter könnte die Attraktivität der Stadtteile leiden. Da das Pandemiegeschehen über den Betrachtungszeitraum hinaus anhielt, spitzte sich die Situation in einigen Sektoren weiter zu. Durch die weiteren Schließungsphasen in Einzelhandels-, Kultur-, Beherbergungs- und Gastronomiebetrieben seit dem Herbst 2020 ist mittlerweile mit mehr Geschäftsaufgaben und damit auch Leerständen in den Alt- und Innenstädten zu rechnen. Auch Fragen nach dauerhaften Veränderungen in den Bereichen Mobilität und mobiles Arbeiten lassen sich zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht abschließend beantworten. Mit Fortdauer der Pandemie und verbesserter Studienlage gibt es neben Hypothesen zunehmend empirisch belegte Befunde zu den kurz- und langfristigen Auswirkungen und möglichen Anpassungsstrategien und -maßnahmen: Demnach ist in den Innenstädten mit mehr Leerständen bei Büro- und Verkaufsflächen zu rechnen. Beim Wohnen ist nicht mit einem Nachfragerückgang zu rechnen, wodurch frei werdende Gewerbeflächen auch in Wohnraum umgewandelt werden könnten. Die Pandemie könnte zudem ein Treiber für bereits bestehende Entwicklungen sein, besonders den ruhenden Verkehr und den motorisierten Individualverkehr aus publikumsintensiven Bereichen der Innenstädte zurückzunehmen [9]. Die Corona-Pandemie könnte auch für einen Digitalisierungsschub, einen regionalisierten Nahrungsmittelvertrieb und ein Wachstum 80 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte von Stadt- und Metropolregionen sorgen [10]. Ausschlaggebend für die Entwicklungen sind die spezifischen sozioökonomischen Voraussetzungen wie etwa die Abhängigkeit von Tourismus und Handel, der Anteil an Selbstständigen oder der Beschäftigten in Risikosektoren. So kann es zu großen regionalen Unterschieden kommen [11]. Im Einzelhandelssektor scheint die Konkurrenz zu anderen Einzelhandelsstandorten für Probleme zu sorgen und negative Folgen der Corona-Pandemie in diesem Sektor zu verstärken [12]. Resiliente Strukturen, wie eine gute digitale Infrastruktur, funktionierende Nachbarschaften und Teilhabe der Bürgerschaft sind gute Voraussetzungen für die Bewältigung der Pandemiefolgen [13]. Die vorliegende Untersuchung zeigt die Unterschiedlichkeit von Städten bezüglich potenzieller Auswirkungen, aber auch Strategien zum Umgang mit den Pandemie-Folgen. Die Großstädte besitzen eher wenige Flächenpotenziale und bauen auf die qualitative Ausgestaltung bestehender Freiräume, wohingegen die Mittelstädte öfter Leerstände oder Brachflächen im Bestand aufweisen und Möglichkeiten der quantitativen Erweiterung sehen. Hier stehen die Städte in zentralen Lagen in einem größeren Wettbewerb, wohingegen die Städte in peripheren Regionen häufig eine eigene Zentralität aufweisen, aber schlechter zu erreichen sind. Unterschiedliche Entwicklungsstände, räumlich Lagen, Erreichbarkeiten und wirtschaftliche Schwerpunkte machen es daher nötig, die Risiken und Chancen durch die Corona-Pandemie lokal zu bewerten. LITERATUR [1] Puvogel, H.-H.: Corona-Krise: So könnten sich Mobilitäts- und Parkverhalten ändern. 2020, München (https: / / vision-mobilit y.de/ news/ corona-krise-sokoennten-sich-mobilitaets-und-parkverhalten-aendern-43638.html, Zugriff 19.08.2020). [2] Obmann, C., Ivanov, A., Scheppe, M.: Digitaler, traditioneller, grüner: Corona könnte die Arbeitswelt nachhaltig verändern. 2020, Düsseldorf (https: / / www. handelsblatt.com/ unternehmen/ beruf-und-buero/ buero-special/ buerotrends-digitaler-traditionellergruener-corona-koennte-die-arbeitswelt-nachhaltigveraendern/ 25865016.html? ticket=ST-2714363-Rq- WJE9ErkJIYHrfcxoOk-ap3, Zugriff 22.09.2020). [3] Kläsgen, M.: Wie sich das Einkaufsverhalten der Deutschen wandelt. 2020, München (https: / / www.sueddeutsche.de/ wirtschaft/ corona-lokal-einkaufen-supermarkt-1.4879830, Zugriff 22.09.2020). [4] Girakhou, O.: Gastgewerbe Magazin. 2020, Wuppertal (https: / / gastgewerbe-magazin.de/ nach-corona-diezukunft-der-gastronomie-oder-eine-gastronomieohne-zukunft-29185, Zugriff 22.09.2020). [5] Siedentop, S., Zimmer-Hegmann, R.: COVID-19 und die Zukunft der Städte. In: ILS-Impulse, Heft 01 (2020). [6] Dittrich-Wesbuer, A., Klinger, T.: Die Corona-Pandemie als Chance zur nachhaltigen Transformation berufsbedingter Mobilität? In: ILS-Impulse, Heft 02 (2020). [7] Deutscher Städtetag: Hüter von Traditionen und Labore der Zukunft: Welterbe-Städte setzen Impulse. Empfehlung des Kulturausschusses des Deutschen Städtetages. 2019, Berlin, Köln. [8] Mann, E.: Die Corona-Pandemie und mögliche Folgen für die räumliche Entwicklung historischer Altstadtquartiere. 2021, Dresden: Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. https: / / www.ioer.de/ fileadmin/ user_upload/ ioer_de/ presse/ download/ Polic y-Paper_Corona _ Folgen-fuer-historische-Altstadtquartiere_final.pdf [9] Anders, S., Kreutz, S., Krüger, T.: Die Covid-19-Pandemie und die Innenstädte. In: Planerin 1 (2021) S. 19 - 21. [10] Kunzmann, K. R.: Europäische Raumentwicklung nach COVID-19, in: Nachrichten der ARL 3 (2020) S. 9 - 14. [11] Böhme, K.; Lüer, C.: Die Auswirkungen von COVID-19 auf Regionalentwicklung in Europa, in: Nachrichten der ARL 3 (2020) S. 28 - 34. [12] Krüger, A.: German Planning Discourses on the Post-Pandemic City. In: disP 56-4, (2021) S. 98 - 106. https: / / doi.org/ 10.1080/ 02513625.2020.1906063 [13] Scheuermann, R.: Lehren aus Corona: Resiliente Städte haben ein intaktes Immunsystem. 2020, Baiersbronn-Buhlbach (https: / / www.transforming-cities. de/ lehren-aus-corona-resiliente-staedte-haben-einintaktes-immunsystem/ , Zugriff 02.08.2021). Erik Mann Referat Landes- und Regionalplanung Sächsisches Staatsministerium für Regionalentwicklung, Dresden Kontakt: erik.mann@smr.sachsen.de Dr.-Ing. Stefanie Rößler Dipl.-Ing. Landschaftsarchitektur Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), Dresden; Interdisziplinäres Zentrum für transformativen Stadtumbau (IZS), Görlitz Kontakt: S.Roessler@ioer.de Prof. Dr.-Ing. Robert Knippschild Dipl.-Ing. Raumplaner Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), Dresden, und Technische Universität Dresden Kontakt: R.Knippschild@ioer.de AUTOR*INNEN
