eJournals Transforming cities 7/3

Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2022-0051
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Alles im grünen Bereich?

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Mustafa Kösebay
Immer mehr Wohnraum pro Kopf, immer mehr und immer breitere Straßen für besseres Vorankommen und für mehr und schnelleren Warentransport – nicht nur im fernen Regenwald verschwinden Tag für Tag viele Hektar Natur, auch in Deutschland zeigt sich ein enormer Flächenfraß: Eine Fläche so groß wie 80 Fußballfelder verschlingt der Hunger nach neuen Straßen, Häusern und Gewerbegebieten täglich. Damit soll jetzt Schluss sein: Im Zuge des Klimaschutzes und der Ressourceneinsparung will Deutschland die Neuversiegelung von Flächen drastisch zu reduzieren. Bis 2050 wird die Netto-Null angestrebt.
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13 3 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Ein Baustein für das Erreichen dieses Ziels liegt in der Reaktivierung stillgelegter Industrieareale, so genannter Brownfields. Wo vor vielen Jahren Maschinen ratterten, Förderbänder liefen, täglich hunderte oder tausende Arbeiter durch die Tore strömten, wachsen jetzt Blümchen und Sträucher zwischen den Mauern, auf den Zufahrtsstraßen, in den Innenhöfen. Dabei ließe sich aus diesen stillgelegten Industrieflächen viel machen. Sie verfügen meistens über eine bestehende technische Infrastruktur und sind gut an das bewohnte Umland angebunden. Um die Reaktivierung dieser bestehenden Brachflächen voranzutreiben und den Bau auf der grünen Wiese zu minimieren, wurde Anfang 2021 der Deutsche Brownfield Verband (DEBV) gegründet. Bereits innerhalb des ersten Jahres traten dem DEBV 100 Brownfield- Akteure bei, die sich dafür einsetzen, die Brachflächenaktivierung in Deutschland zu stärken. Denn ganz gleich, ob Shopping Mall oder Onlinehandel, Gewerbegebiet oder Logistikunternehmen - der Flächenbedarf ist riesig, die Nachfrage entsprechend hoch. Der Flächenversiegelung entgegenwirken Der Umbau von Brownfields ist mit anderen Hürden verbunden als die Entwicklung von Greenfields. Er scheitert oft an ungeklärten Zuständigkeiten, dazu erschweren fehlende einheitliche Standards und der Mangel an Vernetzungsmöglichkeiten für Entwickler und Eigentümer die Erneuerung der Flächen. Dazu kommen Rechts- und Planungsunsicherheiten. Die Grünfläche ist meist schneller erschlossen, ohne dass aufwendige Gutachten zur Untersuchung auf Schadstoffe und Altlasten durchgeführt werden müssen oder es durch regulatorische Auflagen zu Verzögerungen kommt. Dass dabei große Flächen Natur versiegelt werden, schlägt aktuell noch nicht zu Buche. Dagegen übernehmen Brownfield-Entwickler eine große Verantwortung, versiegelte Flächen neu aufzuwerten und wieder nutzbar zu machen - darin müssen sie unterstützt werden. Damit das Potenzial von Brachflächen erkannt wird und sich mehr Bauherren und Projektentwickler der Herausforderung stellen, hat der Deutsche Brownfield Verband klare Zielsetzungen formuliert. Im ersten Schritt wird aktuell eine Machbarkeitsstudie in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut und dem Dienstleister Spacedatists GmbH für ein bundesweites Brachflächenkataster erstellt. Weitere Schritte sind ein transparentes Zertifizierung- und Bonussystem für Sanierungen, beschleunigte Genehmigungsverfahren sowie Fördermittel für Flächenrevitalisierung in Städten und Kommunen. Alles im grünen Bereich? Mit Brownfield-Arealen gegen den Flächenfraß Mustafa Kösebay Immer mehr Wohnraum pro Kopf, immer mehr und immer breitere Straßen für besseres Vorankommen und für mehr und schnelleren Warentransport - nicht nur im fernen Regenwald verschwinden Tag für Tag viele Hektar Natur, auch in Deutschland zeigt sich ein enormer Flächenfraß: Eine Fläche so groß wie 80 Fußballfelder verschlingt der Hunger nach neuen Straßen, Häusern und Gewerbegebieten täglich. Damit soll jetzt Schluss sein: Im Zuge des Klimaschutzes und der Ressourceneinsparung will Deutschland die Neuversiegelung von Flächen drastisch zu reduzieren. Bis 2050 wird die Netto-Null angestrebt. © Michael Gaida auf Pixabay 14 3 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Digitales Kataster soll für Durchblick sorgen Noch sind viele Brachflächen aktuell nicht zentral dokumentiert. Abhilfe schaffen soll ein standardisiertes, bundesweites Brownfieldkataster. Dafür soll in den kommenden Jahren das Kartenmaterial aus den Geoinformationssystemen der Länder und Kommunen synchronisiert und zusammengefügt werden. Software und künstliche Intelligenz untersuchen die Luftbilder und Karten auf entsprechende Flächen. Im September 2021 wurde eine Machbarkeitsstudie für die Erstellung eines solchen Katasters auf den Weg gebracht, die die genauen Rahmenbedingungen und Kriterien festlegen soll, nach denen das Kataster aufgebaut werden kann. Damit ist ein erster Schritt getan. Sobald Investoren und Projektentwickler jedoch eine entsprechende Fläche identifiziert haben, müssen sie sich im nächsten Schritt einen genauen Überblick verschaffen: Wurde der Boden in der Vergangenheit verunreinigt? Wem gehört die Fläche? Gibt es einen oder gar mehrere Besitzer? Sind Wasser- oder Gasleitungen im Boden, die andere Stadtteile versorgen? Der Aufwand für die Erschließung und die Baulandentwicklung ist damit zunächst höher als auf einer unbebauten Fläche. Trotzdem kann sich die Entwicklung lohnen, denn: Die Gelände sind oftmals an das Strom- und Wassernetz angebunden und haben eine gute Anbindung an das öffentliche Nahverkehrsnetz. Um weitere Anreize zur Brownfieldentwicklung zu bieten, wird eine standardisierte Zertifizierung von Flächen angestrebt. Etablierte Systeme wie sie DGNB, LEED, BREEAM und WELL können hier eine wichtige Rolle spielen. Beispielsweise wäre eine noch bedeutendere Rolle von Brownfields in der Zertifizierung denkbar, um Bauherren, die eine Brachfläche entwickeln, schneller zu ihrem Umweltlabel zu verhelfen als jenen, die auf der grünen Wiese bauen. Auch Mischnutzung von Brachflächen ist möglich Aufgrund ihres hohen Versiegelungsgrades und ihrer oftmals großen Fläche bietet sich besonders die gewerbliche und industrielle Nutzung für Brownfields an. Es gibt aber auch im innerstädtischen Bereich genügend Beispiele für eine sehr gelungene gemischte Nutzung. Denkmalwürdiger Bestand, der vielleicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, wird dazu gekonnt städtebaulich in Szene gesetzt und erhält eine neue Nutzung. Vorzeigeprojekte wie das Quartier Neckarspinnerei in Wendlingen zeigen, wie das Potenzial alter Flächen genutzt werden könnte: Das denkmalgeschützte Areal wird im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 2027 für eine Mischnutzung aus Gewerbe und Wohnen aufgefrischt. Mischnutzungen wie diese spielen zukünftig eine größere Rolle. Der Trend geht weg von reinen homogenen Nutzungen wie Bürosilos, Wohnhochhäusern und Einkaufsstraßen hin zu einer Stadt der kurzen Wege, in der Arbeiten, Wohnen und Nahversorgung in direkter Nachbarschaft liegen. Und alte Industriebauten mitten in der Stadt eigenen sich dafür besonders gut. Deutschlandweit warten noch rund 150 000 Hektar solcher Brachflächen darauf, umgenutzt und erschlossen zu werden. Maximale Transparenz und digitales Gedächtnis Um komplexe Themen wie Massenmanagement, Altlasten, Entwässerung oder Neuentwicklung auf bestehenden Fundamenten beherrschbar zu machen, empfehlen sich digitale Alltagshelfer. Andere Branchen machen das schon lange vor: In der Automobilindustrie hat die Digitalisierung in Form von Industrie 4.0 längst die Produktion umgekrempelt. Binnen weniger Tage wird aus tausenden von Teilen ein individuell konfiguriertes Auto gebaut. Was der Kunde bestellt, bekommt er auch - zum vereinbarten Termin und Preis. Was Industrie 4.0 für den Maschinenbau, ist Building Information Modeling für die Immobilienbranche: die digitale Vernetzung aller Prozesse, Produkte und Beteiligten. Building Information Modeling, kurz BIM, bezeichnet eine Methode der vernetzten Zusammenarbeit, die alle relevanten Daten in einem Modell bündelt. Dieses Modell ist ein dreidimensionaler, digitaler Zwilling des späteren Gebäudes oder Areals mit großer Detailtiefe. Der Bauplaner beschreibt im Modell beispielsweise nicht nur eine Fassade, sondern definiert die genauen Maße und Kosten sowie die Lebensdauer des Materials oder dessen Schalldurchlässigkeit. Den digitalen Zwilling mit all diesen Daten anzureichern, erhöht zwar zunächst den Planungsaufwand, erspart später aber sehr viel Rechnerei, da sich die Bauwerke auf Knopfdruck quasi selbst berechnen. Im BIM-Modell lassen sich verschiedenste Entwurfsvarianten in einer sehr frühen Planungsphase durchspielen. Da alle Bauakteure im gleichen Modell arbeiten, sind sämtliche Informationen sofort verfügbar. Und passen die Entwürfe nicht mehr zusammen, werden die Kollisionen nicht erst während des Bauprozesses bemerkt, wo sie zu teuren Zeitverzögerungen führen. Das Modell weist von selbst auf Planungs- 15 3 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum fehler hin und sorgt damit für eine maximale Planungssicherheit - auch und gerade in der Brownfield-Entwicklung. Rechtsverbindliche Grundlage für den Umgang mit Altlasten Ein weiterer Hebel, um die Revitalisierung von Brachflächen voranzutreiben, besteht in Fördermöglichkeiten. Einen wesentlichen Beitrag hierzu hat der Brownfield-Verband bei der Mantelverordnung für Ersatzbaustoffe und Bodenschutz geleistet, die ab kommendem Jahr greifen wird. Zu den wesentlichen Änderungen gehört, die im Sinne des Kreislaufwirtschaftsgesetzes bestmögliche Verwertung von mineralischen Abfällen zu gewährleisten. Mineralische Abfälle stellen mit ungefähr 240 Mio. Tonnen den mit Abstand größten Abfallstrom Deutschlands dar, für den bisher weder eine bundeseinheitliche noch eine rechtsverbindliche Grundlage für die ordnungsgemäße und schadlose Verwertung existierte. Bislang wird daher nur ein kleiner Teil dieser Abfälle wiederverwertet, und das zumeist in minderwertigerer Form. So landen bei Umbau- oder Abrissarbeiten Materialien wie Beton oder Stahl meist auf der Deponie oder als Füllmaterial im Straßenbau, obwohl sie für neue Bauvorhaben dringend benötigt und teuer bezahlt werden. Auch hier kann ein Kataster Abhilfe schaffen: Der vom Umweltberatungsinstitut EPEA entwickelte Urban Mining Screener ist in der Lage, anhand von Gebäudedaten wie beispielsweise Bauort, Baujahr, Gebäudevolumen oder Gebäudetyp deren materielle Zusammensetzung quasi auf Knopfdruck zu schätzen. Damit könnte das Rohstofflager, das in alten Gebäuden steckt, gehoben werden. Ganz nebenbei entsteht dabei auch eine fundierte Entscheidungsgrundlage für nachhaltiges Bauen. Kreisverkehr statt Einbahnstraße Um den Flächenverbrauch zu reduzieren und die Netto-Null zu erreichen, führt kein Weg an der Brachflächenentwicklung vorbei. Alte Industriestandorte, Kasernen oder Bahnflächen lassen sich mit gezielter Entwicklung aufwerten und wieder nutzbar machen. Um die Entwicklung attraktiv zu gestalten, sind maximale Transparenz, unbürokratische Wege und Förderprogramme wichtige Instrumente. Noch immer scheint das Bauen auf der grünen Wiese, das Bauen im Greenfield-Bereich für viele Planer, Bauherren und Investoren attraktiver zu sein als die Wiederbelebung bereits versiegelter und bebauter Flächen. Dabei wird ein entscheidender Punkt allerdings übersehen. Zusammen stecken wir in einem ökologischen Schneeballsystem fest: Wir benutzen die Ressourcen der Zukunft, um für die Gegenwart zu bezahlen. Hier muss definitiv ein Umdenken stattfinden - weg von der linearen Einbahnstraße der Flächennutzung, hin zu einer kreislauffähigen Nutzung. Nur so lässt sich das große Ziel der Netto-Null halten und ein nachhaltiger Umgang mit Bauland und Ressourcen erreichen. Funke Baumbewässerungswinkel M i t Z u l a s s u n g v o m D e u t s c h e n I n s t i t u t f ü r B a u t e c h n i k • DIBt-Nr. Z-42.1-572 Funke Baumwurzelbelüfter D-Raintank 3000 ® Für Bewässerung und Belüftung Funke Baumversorgung mit System - unterirdisch gut! für Neuanpflanzung und Sanierung Funke Kunststoffe GmbH info@funkegruppe.de • Tel.: 02388 3071-0 www.funkegruppe.de Baumversorgung Weitere Informationen: AUTOR Mustafa Kösebay Associate Partner Drees & Sommer SE mustafa.koesebay@dreso.com