eJournals Transforming cities 7/3

Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2022-0057
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Verbraucher als Partner denken

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Laurenz Hermann
Nadine Walikewitz
Axel Dierich
Shahrooz Mohajeri
Jörg Walther
Klimawandel, Wetterextreme und die Ukrainekrise stellen Energie- und Wasserversorger vor große Herausforderungen: Die sicher geglaubte Versorgungssicherheit steht plötzlich in Frage. Über den Zubau erneuerbarer Energien sowie neue Lieferketten für Öl und Gas findet auf der Angebotsseite eine kostenintensive Transformation statt. Dabei werden Potenziale nachfrageseitiger Flexibilisierung für die Stabilisierung der Versorgung übersehen. Und dass die Verbraucher und Kunden hierbei Partner der Versorger sein können. Das Forschungsprojekt FLEXITILITY liefert hierzu neue Erkenntnisse.
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33 3 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation In netzgebundenen Versorgungssystemen muss gewährleistet sein, dass der Kundennachfrage jederzeit ein ausreichend großes Angebot zum Beispiel an Strom oder Wasser gegenübersteht. Die technische Infrastruktur muss auf die Zeit der größten Nachfrage, die Spitzenlast, ausgelegt sein, auch wenn diese nur selten benötigt wird. Lastspitzen sind deshalb teuer für die Versorgung. Doch Investitionen auf der Angebotsseite, beispielsweise der Ausbau von Netzkapazitäten, sind nicht der einzige Weg, um Spitzenlasten bewältigen zu können. Auch mit Maßnahmen der Flexibilisierung können Angebot und Nachfrage von Strom oder Wasser besser in Einklang gebracht werden. Dies kann durch Maßnahmen des Lastmanagements erfolgen, das zum Ziel hat, Teile der Nachfrage zeitlich von den Spitzenlastzeiten auf andere Tageszeiten zu verschieben. Oder durch viele kleine, nachfragenahe Speicher, die in Zeiten geringer Last gefüllt und während der Spitzenlastzeiten geleert werden. Erschwerte Rahmenbedingungen Die Rahmenbedingungen und damit die Ansprüche an Versorgungsunternehmen ändern sich derzeit rasant: Immer häufigere und intensivere Extremwetterereignisse aufgrund des fortschreitenden Klimawandels verstärken die Spitzenbedarfe bei Energie und Wasser. Zur Senkung des klimaschädlichen CO 2 -Ausstoßes will Deutschland im Rahmen der Energiewende bis 2030 mindestens 80 % des Bruttostroms aus erneuerbaren Energien gewinnen; bis 2035 soll die Stromerzeugung nahezu treibhausgasneutral sein. Hierzu müssen Kohle- und Gaskraftwerke durch Stromerzeuger auf Basis von Erneuerbaren, insbesondere Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen ersetzt werden. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Möglichkeit eines Energieembargos machen den raschen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern noch dringlicher. Das fluktuierende Dargebot von Wind und Sonneneinstrahlung, welches nur mit wenigen Tagen Vorlauf grob prognostiziert werden kann, macht Maßnahmen der Flexibilisierung im Strombereich unvermeidlich: Den Ausbau der Stromnetze, zusätzliche Speicherkapazitäten sowie Maßnahmen des Lastmanagements auf der Nachfrageseite. Bei der Trinkwasserversorgung liegt die Herausforderung des Klimawandels in den sich häufenden Extremwetterereignissen: Lange Perioden von Trockenheit oder Hitze können punktuell zu extremen Lastspitzen im Wasserverbrauch führen, welche über die technischen Kapazitäten hinausgehen können. Forschungsvorhaben FLEXITILITY Das Vorhaben FLEXITILITY 1 widmet sich seit 2019 der Frage, mit welchen Maßnahmen der Flexibilisierung Versorger auf die 1 Das Konsortium von Flexitility vereint unter der Leitung der inter 3 GmbH fünf Forschungseinrichtungen sowie mehrere Praxispartner aus der Region Anhalt und Elbe-Elster. Weitere Details siehe www.flexitility.de Verbraucher als Partner denken Die vergessene Ressource bei der Flexibilisierung der Versorgungssysteme Flexibilisierung, Energieversorgung, Wasserversorgung, Klimawandel, Klimaanpassung, Tarife Laurenz Hermann, Nadine Walikewitz, Axel Dierich, Shahrooz Mohajeri, Jörg Walther Klimawandel, Wetterextreme und die Ukrainekrise stellen Energie- und Wasserversorger vor große Herausforderungen: Die sicher geglaubte Versorgungssicherheit steht plötzlich in Frage. Über den Zubau erneuerbarer Energien sowie neue Lieferketten für Öl und Gas findet auf der Angebotsseite eine kostenintensive Transformation statt. Dabei werden Potenziale nachfrageseitiger Flexibilisierung für die Stabilisierung der Versorgung übersehen. Und dass die Verbraucher und Kunden hierbei Partner der Versorger sein können. Das Forschungsprojekt FLEXITILITY liefert hierzu neue Erkenntnisse. © Gerd Altmann auf Pixabay 34 3 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Herausforderungen des Klimawandels und der Extremwetterereignisse reagieren können. Ein interdisziplinäres Projektkonsortium untersucht hierbei technische Lösungen, Geschäftsmodelle, sowie die Rolle der Nachfrageseite. Eine der Forschungsfragen von FLEXITI- LITY war, inwieweit Privathaushalte bei Extremwetterereignissen durch Verschiebung ihrer Nutzungszeiten von Trinkwasser und Strom zu einer Flexibilisierung und damit Stabilisierung der Versorgung beitragen können. Im Rahmen eines Reallabors mit rund 1 000 Teilnehmenden 2 wurden 2020 und 2021 mehrere Befragungen auch im Rahmen 2 Die Teilnehmenden wurden über einen Aufruf im Newsletter der co2online gGmbH gewonnen. Aufgrund des thematischen Fokus des Newsletters auf Klimaschutz und Gebäudesanierung ist ein Bias bei den Einstellungen der Lesenden für die Themen Umwelt- und Klimaschutz möglich. von Szenarien umgesetzt. Untersucht wurden unter anderem die Akzeptanz von Informationsmaßnahmen, von zeitvariablen Tarifen oder von externer Steuerung wichtiger Verbraucher durch die Versorger. Die Befragungsergebnisse belegen eine grundsätzlich hohe Bereitschaft der Haushalte, in Extremwettersituationen ihr Verhalten anzupassen, wenn sie vom Versorger darum gebeten oder dabei unterstützt werden: Bei der Teilgruppe der Haus- und Wohnungseigentümer waren 97 % der Befragten zu einer Verhaltensanpassung bereit (Bild 1). Um den Haushalten einen stärkeren Anreiz zu geben, ihr Verbrauchsverhalten anzupassen, sind zeitvariable Tarife eine interessante Option: Der Preis von Wasser oder Strom ist im Tagesverlauf gestaffelt, teurer wird er zu Spitzenlastzeiten, günstiger in den Nebenzeiten 3 . In einem Szenario mit zeitvariablem Wassertarif bejahten 88 % der Haushalte die Frage, ob sie Teile ihres Trinkwasserverbrauchs in die Zeit zwischen 21 und 6 Uhr verschieben würden, wenn der Wasserpreis zu diesen Zeiten dauerhaft 20 % (also etwa 20 bis 40 ct/ m 3 ) günstiger wäre. Doch nicht alle Wassernutzungen lassen sich gleich gut verschieben. Beim Geschirrspülen ist die Bereitschaft für Verschiebungen 4 mit 52 % am geringsten, beim Duschen (62 %), Wäschewaschen (65 %), Baden (67 %) und bei der Gartenbewässerung (76 %) ist sie höher. Damit Wasch- und Spülmaschine nicht während der Spitzenverbrauchszeiten eingeschaltet werden, könnte der Wasserversorger künftig geeignete, also smarte Geräte innerhalb eines vorab definierten Zeitraums ferngesteuert einschalten, nachdem der Haushalt zuvor den Startknopf betätigt hat. Doch diese Art des externen Zugriffs begegnet noch erheblicher Skepsis: Nur etwa 20 % der Befragten wären hierzu bereit, die meisten davon nur dann, wenn auch Kosten gespart werden können. Weitaus mehr Akzeptanz finden Ansätze, die auf Information setzen und die Autonomie der Haushalte nicht einschränken. So würden Aufkleber an wichtigen Trink wasser-Verbrauchsstellen über 50 % der Befragten dazu motivieren, ihre Entnahmezeiten freiwillig zu verschieben - unabhängig von der Wettersituation oder finanziellen Anreizen (Bild-2). 3 Die Flexibilisierung der Stromnutzung privater Haushalte wird mit dem Rollout intelligenter Zähler (SmartMeter) technisch ermöglicht. In einem Pilotprojekt der Stadtwerke Norderstedt wurden mit etwa 1 000 Testhaushalten zeitvariable Stromtarife über mehrere Jahre entwickelt und getestet (https: / / www. stadtwerke-norderstedt.de/ privatkundinnen/ strom/ windkraft-foerdern). 4 Bereitschaft, die Nutzungen entweder zu 100 % oder zu 75 % zu verschieben. 0% 53% 4% 24% 12% 4% 6% 10% 30% 22% 34% 32% 19% 32% 11% 6% 6% 6% 37% 26% 26% 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% Nutzen Sie so oft und viel Regenwasser aus Ihrer Regentonne wie möglich. Das spart Kosten und ist besser für die Pflanzen. Um Ihr Gerät oder die Bewässerungsautomatik während des günstigen Nachttarifs zu starten, nutzen Sie einfach die Programmierfunktion. Zwischen 16 Uhr und 21 Uhr ist der Wasser-/ Strombedarf besonders hoch. Versuchen Sie, verschiebbare Nutzungen auf andere Zeiträume zu verlagern. Wäsche waschen / Garten bewässern / … möglichst nicht zwischen 16 und 21 Uhr Große Wirkung Kleine Wirkung Kleine Wirkung Ich weiß nicht Würde mich stören Welche Wirkung hätten Aufkleber mit Hinweisen, die auf Ihren Geräten bzw. an Ihren Verbrauchsstellen angebracht sind oder die Sie selbst anbringen können? Nutzen Sie so oft und viel Regenwasser aus Ihrer Regentonne wie möglich. Das spart Kosten und ist besser für die Pflanzen. Um Ihr Gerät oder die Bewässerungsautomatik während des günstigen Nachttarifs zu starten, nutzen Sie einfach die Programmierfunktion. Zwischen 16 Uhr und 21 Uhr ist der Wasser-/ Strombedarf besonders hoch. Versuchen Sie, verschiebbare Nutzungen auf andere Zeiträume zu verlagern. Wäsche waschen / Garten bewässern / … möglichst nicht zwischen 16 und 21 Uhr Bild 2: Wirkung von Aufklebern mit Hinweisen zur Verschiebung von Trinkwasser- Nutzungszeiten. © Flexitility 69.9% 18.7% 8.7% 2.7% Wären Sie grundsätzlich dazu bereit, Ihr Verbrauchsverhalten über einen begrenzten Zeitraum hinweg (zum Beispiel über mehrere Stunden oder Tage) zu ändern, wenn Sie dazu aufgefordert würden? Ja, ich wäre bereit meine Nutzungszeiten zu ändern und meinen Verbrauch zu reduzieren. Ja, ich wäre bereit meine Nutzungszeiten zu ändern. Ja, ich wäre bereit meinen Verbrauch zu reduzieren. Nein. Bild 1: Bereitschaft zur temporären Anpassung des Nutzungsverhaltens von Haus- und Wohnungseigentümern bei Strom und Wasser. © Flexitility 35 3 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Shahrooz Mohajeri Geschäftsführer inter 3 GmbH Institut für Ressourcenmanagement mohajeri@inter3.de Jörg Walther Wissenschaftlicher Mitarbeiter Brandenburgische Technische Universität (BTU) walther@b-tu.de Laurenz Hermann Senior Berater Research co2online gGmbH laurenz.hermann@co2online.de Nadine Walikewitz Projektmanagerin Research co2online gGmbH nadine.walikewitz@co2online.de Axel Dierich Wissenschaftlicher Mitarbeiter inter 3 GmbH Institut für Ressourcenmanagement dierich@inter3.de AUTOR*INNEN Als wirkungsvolle Maßnahme gegen die Folgen von Starkregenereignissen haben Sie das Wasser mit diesem funktionalen Systemaufbau als kontrolliertem Zwischenspeicher komfortabel im Griff. www.zinco.de/ systeme/ retentions-gruendach Regenwasserbremse für die Kanalisationsnetze in unseren Städten! Wasserrückhalt via Retentions-Gründach! Tel: 07022 9060-600 Halle 3A Stand 131 Bewertung und Ausblick Der Klimawandel ist in Deutschland nicht nur in Daten nachweisbar, sondern inzwischen auch spürbar. Die Schaffung und Vorhaltung der Bewältigungskapazität für Zeiten höchster Infrastrukturanforderungen während extremer Wetterlagen ist eine Notwendigkeit, die auf alle Versorger zukommt und hohe Kosten verursacht. Verstärktes Lastmanagement kann hierbei im Vergleich zum teuren Ausbau der technischen Infrastruktur die wirtschaftlichere Alternative sein. Die Bereitschaft der Kundenseite, hierbei durch Verhaltensanpassungen mitzuwirken, ist vorhanden und sollte bei der Erarbeitung von Anpassungsstrategien als Option mit betrachtet werden. Schon mit kostengünstigen Informations- und Kommunik ationsmaßnahmen kann ein relevanter Beitrag zur Senkung von Lastspitzen erwartet werden. Auch die Einführung zeitvariabler Wassertarife würde seitens der Kunden überwiegend positiv aufgenommen. Lediglich die teilautomatisierte Laststeuerung mittels fernschaltbarer Haushaltsgeräte müsste zuvor mit umfangreicher Aufklärungsarbeit vorbereitet werden, da hierzu aktuell die Vorbehalte der Haushalte noch groß sind. Die Ergebnisse der Haushaltsbefragungen werden 2022 im Rahmen des Projektabschlusses weiter analysiert, mit Praxispartnern diskutiert und anschließend im Schlussbericht von FLEXITI- LITY veröffentlicht. Die Erkenntnisse und Empfehlungen, welche auch weitere Aspekte der Flexibilisierung wie technische Lösungen oder Geschäftsmodelle umfassen werden, gilt es anschließend im Rahmen von Pilotprojekten in der Praxis zu testen.