Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2022-0058
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Zürich wird mithilfe eines Digital Twin schon heute zur Stadt der Zukunft
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Thomas Koblet
Überall auf der Welt stehen Städte vor zahlreichen Herausforderungen: Bezahlbarer Wohnraum ist knapp und die Folgen des Klimawandels, die sich in Überschwemmungen oder Hitzestaus zeigen können, kommen erschwerend hinzu. Städteplaner*innen, Architekt*innen und Gemeinden stehen deshalb vor der gemeinsamen Aufgabe, Lösungen zu finden, die den sich wandelnden Anforderungen gerecht werden, um so die Lebensqualität vor Ort auch in Zukunft aufrechterhalten zu können. Moderne Technologien sind aus dieser Gleichung nicht mehr wegzudenken – und der sogenannte Digital Twin ist eine davon. Für Zürich wurde bereits ein solches Abbild der Stadt erstellt, das dabei hilft, lebenswerte Nachbarschaften zu bewahren und neuzugestalten.
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36 3 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Die absehbaren Folgen des Klimawandels Schon heute lebt etwa die Hälfte der Weltbevölkerung in Regionen, die zukünftig stark von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sein werden. Das geht aus dem aktuellen IPCC-Bericht hervor. Selbst dann, wenn sich die Erderwärmung auf 1,5 °C beschränken ließe, wovon wir nach aktuellem Stand weit entfernt sind, wird die Anzahl und die Intensität der Wetterextreme deutlich zunehmen. Leidtragende sind vor allem ältere Menschen und Kinder, da sie im Vergleich zu gesunden Erwachsenen physiologisch schwächer und damit anfälliger für die Folgen des Klimawandels sind. Diese zeigen sich beispielsweise in vermehrten Starkregenereignissen, wie sie im Sommer 2021 nicht nur in Teilen Deutschlands, sondern auch in Belgien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz zu heftigen Überschwemmungen führte. Wie groß die wachsende Gefahr tatsächlich ist, belegt eine Karte des Umweltbundesamtes: Für die Region um die Städte Remscheid, Solingen und Wuppertal wird darin prognostiziert, dass sich die Anzahl der Starkregentage um 54 % steigern wird. Im Erzgebirge sollen solche Tage in naher Zukunft sogar um knapp 64 % zunehmen. Doch auch steigende Temperaturen können die Lebensqualität der Menschen mehr und mehr gefährden. Laut Umweltbundesamt wird sich die Jahresmitteltemperatur in großen Teilen Deutschlands um etwa 2 °C erhöhen. Hitzetage, an denen die Lufttemperatur mehr als 30 °C beträgt, häufen sich - in Regionen, wie rund um Berlin, steigert sich die Anzahl solcher Tage sogar Zürich wird mithilfe eines Digital Twin schon heute zur Stadt der Zukunft Thomas Koblet Überall auf der Welt stehen Städte vor zahlreichen Herausforderungen: Bezahlbarer Wohnraum ist knapp und die Folgen des Klimawandels, die sich in Überschwemmungen oder Hitzestaus zeigen können, kommen erschwerend hinzu. Städteplaner*innen, Architekt*innen und Gemeinden stehen deshalb vor der gemeinsamen Aufgabe, Lösungen zu finden, die den sich wandelnden Anforderungen gerecht werden, um so die Lebensqualität vor Ort auch in Zukunft aufrechterhalten zu können. Moderne Technologien sind aus dieser Gleichung nicht mehr wegzudenken - und der sogenannte Digital Twin ist eine davon. Für Zürich wurde bereits ein solches Abbild der Stadt erstellt, das dabei hilft, lebenswerte Nachbarschaften zu bewahren und neuzugestalten. Bild 1: Zürich. © Toshiharu Watanabe auf Pixabay 37 3 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation um mehr als 70 %. Solche Hitze verbunden mit lang anhaltenden Dürreperioden lässt landwirtschaftliche Betriebe vielerorts um ihre Ernten bangen und - im schlimmsten Fall - könnten sogar Supermarktregale leer bleiben. Hitzestaus, die entstehen, wenn sich warme Luftmassen kaum bewegen, bergen auch gesundheitliche Risiken, die je nach Intensität zu erhöhten Mortalitätsraten führen können. Ein internationales Team aus Mediziner*innen und Umweltforscher*innen hat erstmals untersucht, wie groß der Anteil des Klimawandels hierbei wirklich ist. Das Ergebnis ihrer Studie: Im Schnitt 37 % der Hitzetoten in den jeweils vier wärmsten Monaten des Jahres waren auf die Folgen des sich ändernden Klimas zurückzuführen. Städte stehen vor vielen Herausforderungen Städte und Gemeinden spielen eine zentrale Rolle, was das Leben mit den Auswirkungen des Klimawandels betrifft - und sie tragen eine große Verantwortung. Denn sie verursachen nicht nur einen Großteil der Emissionen, durch die der Treibhauseffekt überhaupt erst zustande gekommen ist. Nun besteht die Aufgabe darin, die urbanen Infrastrukturen so anzupassen, dass Städte auch in Zukunft lebenswert bleiben. Damit das gelingen kann, sind mehrere Faktoren einzukalkulieren: Einerseits ziehen immer mehr Menschen vom Land in die Stadt. Dort wünschen sie sich begrünte Wohnanlagen, Bildungseinrichtungen und Gastronomie sowie Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten, die dank einer durchdachten Infrastruktur für alle gut erreichbar sind. Die Realität sieht allerdings oft weniger rosig aus: Der verfügbare Wohnraum ist schon heute knapp und deshalb teuer. Wie groß die Diskrepanz ist, zeigt sich am Beispiel Münchens: Hier gibt es zwar viele Neubauprojekte, der aufgerufene Quadratmeterpreis kann allerdings schnell mehr als 20 oder sogar 30 Euro betragen - Kosten, die für Normalverdiener*innen kaum zu bewältigen sind. Bis 2040 erwartet die Stadt einen Zuzug um weitere 16 %, wodurch die Einwohner*innenzahl auf 1,8- Mio. ansteigen wird. Aber: Experten gehen davon aus, dass die Entwicklung in den einzelnen Bezirken sehr unterschiedlich ausfallen wird. Während in Freiham ein völlig neuer Stadtteil entsteht, der einen Zuzug um bis zu 90 % erleben wird, könnte es in der Innenstadt sogar zu einem Rückgang kommen. Diese ungleiche Verteilung, die auch in anderen Städten der Fall ist, muss unbedingt berücksichtigt werden, wenn es um die Planung neuer und vor allem bezahlbarer Wohnprojekte geht. Nur so lässt sich sicherstellen, dass Gelder dort investiert werden, wo sie auch wirklich auf die entsprechende Nachfrage stoßen. Andererseits müssen auch die bereits genannten Risiken, die aus dem Klimawandel resultieren und sich mit der Zeit ändern oder verschlimmern können, unbedingt bedacht werden. Geodaten bilden hierbei die Dimension, auf die es letztendlich ankommt. Ihre Bandbreite reicht von Adressinformationen bis hin zu Satelliten- und Wetterdaten, wobei sich auch Ebenen mit Daten zu Bodenbeschaffenheit oder Sonneneinstrahlung miteinbeziehen lassen. Für Städteplaner*innen und Architekt*innen führt kein Weg daran vorbei, diese Fülle an Bild 2: In der interaktiven Webkarte Zürich 4D lassen sich Hochbauprojekte, Gestaltungspläne oder abgeschlossene Architekturwettbewerbe visualisieren. Alle Daten werden regelmässig aktualisiert. © Stadt Zürich (Screenshot, Zürich 4D) 38 3 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Informationen in einen größeren Kontext zu setzen. Denn nur dann, wenn alle wichtigen Daten in Beziehung gebracht werden, besteht die Chance, sowohl Risiken als auch bisher ungenutzte Potenziale erkennen zu können, die ansonsten im Verborgenen bleiben würden - Location Intelligence ist das, was für die Städte der Zukunft zählt. Die gute Nachricht ist: Weltweit geben Städte und Gemeinden bereits etwa 700-Billionen US-Dollar für Smart- City-Projekte aus - Schätzungen zufolge sollen die Investitionen bis 2025 auf stolze 1,2- Trillionen US-Dollar ansteigen. Dadurch ließe sich im Ernstfall schneller reagieren und möglicherweise auch der CO 2 -Ausstoß deutlich senken. Mit einem Digital Twin zur Stadt der Zukunft Auch die Stadt Zürich kämpft mit den Herausforderungen, mit denen sich Planer*innen überall auf der Welt konfrontiert sehen. Bis 2040 wird hier sogar mit einem Bevölkerungszuwachs von 25 % gerechnet, was die aktuelle Einwohner*innenzahl auf bis zu 520 000 ansteigen lassen könnte. Um dieser enormen Entwicklung gerecht zu werden, hat man sich in Zürich dazu entschieden, eine qualitativ hochwertige Verdichtung nach innen voranzutreiben - allerdings unter der Voraussetzung, Fauna und Flora ausreichend zu berücksichtigen, um so die Lebensqualität aller Lebewesen zu erhalten. Zur Umsetzung von der Theorie in die Praxis wurde mit „Zürich 4D“ ein digitales Abbild der Stadt geschaffen - ein sogenannter Digital Twin. Er dient als zentrales Planungs- und Kommunikationsinstrument, das dabei hilft, alle wichtigen Informationsebenen zu berücksichtigen und so den verfügbaren Raum bestmöglich auszunutzen. Doch was ist ein Digital Twin überhaupt? Ein Digital Twin ist eine virtuelle Repräsentation der realen Welt. Er kann physische Objekte wie Häuser, Bäume oder Stromtrassen abbilden, ebenso aber auch Prozesse, Beziehungen und Verhaltensweisen. Bei „Zürich 4D“ handelt es sich um ein virtuelles Modell der Stadt, das dazu genutzt werden kann, Momentaufnahmen bestimmter Zustände zu analysieren - zum Beispiel um die Frage zu beantworten, wie viel Fläche ein unbebautes Gebiet umfasst - oder aber, um Prozesse zu überwachen und zu modellieren. Ein Digital Twin kann also den aktuellen Stand innerhalb einer Stadt abbilden, hilft aber genauso dabei, einen Blick in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu werfen. Dadurch lässt sich nicht nur der Verkehrsfluss prognostizieren, wenn zum Beispiel eine Brücke zur Sanierung gesperrt werden muss. Auch der Verlauf der Wassermassen, sollte es zu einem Starkregenereignis kommen, oder die Temperaturentwicklung auf einem großen Platz, können auf diese Weise prognostiziert werden. Ein Digital Twin bietet für Städteplaner*innen und Architekt*innen somit ungemein wertvolle Einblicke. Diese können sie direkt in ihre Projekte einbeziehen, um passende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Digital Twin in der Praxis Bei der Entwicklung der Stadt Zürich werden mehrere Ziele zur selben Zeit verfolgt: Es soll zwar Neues geschaffen, aber auch bestehende Nachbarschaften sollen bewahrt werden. Anstatt die Fläche immer weiter auszudehnen und hier neue Areale zu bauen, setzen die Planer*innen auf eine polyzentrische Verdichtung nach innen - und das bei bestenfalls sogar zunehmender Lebensqualität. Um diese zu gewährleisten, sollen auf einer Gesamtfläche von etwa 40 Hektar neue Grünflächen entstehen. Geplant sind weitere 26 Hektar für Sport- und 17 Hektar für neue Schulanlagen. Doch wie lässt sich das mit den Bedürfnissen weiterer Interessengruppen in Einklang bringen? Wie kann beispielsweise die Umwelt geschont, Lärm und Luftverschmutzung reduziert und gleichzeitig für eine bessere Mobilität gesorgt werden? Um all das zu gewährleisten, braucht es einen mehrdimensionalen Blick - und genau hier kommt „Zürich 4D“, also der digitale Zwilling der Stadt, ins Spiel. Er kombiniert Daten über den physischen und den sozialen Raum und fasst beides in einem virtuellen Modell zusammen. Ein wichtiger Punkt hinsichtlich des Digital Twin ist die Zugänglichkeit. Hierfür hat die Stadt Zürich das bereits bestehende Geoportal völlig neu strukturiert, sodass alle Planer*innen und Archtiekt*innen, aber auch Bürger*innen die Chance haben, auf einen Großteil der Daten zuzugreifen. Frei verfügbar ist unter anderem ein Modell, das etwa 50 000 Gebäude in 3D- Ansicht umfasst und einen Rückblick bis ins Jahr 2011 gewährt. Ist ein neues Wohnprojekt geplant, lassen sich mithilfe dieses Modells beispielsweise die Höhe der benachbarten Häuser oder die Sonneneinstrahlung messen, um Parkanlagen oder Flächen für Restaurants entsprechend auszuweisen - und zwar, ganz ohne selbst den Maßstab anlegen zu müssen. Auch Dinge, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind, wie zum Beispiel unterirdische Garagen, die Kanalisation oder andere Versorgungsleitungen, können auf diese Weise sichtbar gemacht werden. Das funktioniert sowohl bequem aus dem 39 3 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Büro als auch vor Ort mithilfe einer VR-Brille, wobei mit jedem Endgerät weitere Layer flexibel hinzugefügt oder entfernt werden können. Gerade dann, wenn es ums Anlegen neuer Parks oder Gehwege geht, spielt das Wissen darüber, was sich unter der Oberfläche befindet, eine entscheidende Rolle. Eine gewisse Menge an Bäumen, Hecken und Pflanzen ist essenziell - nicht nur, weil sie das ansonsten graue Stadtbild aufwerten, sondern auch, weil sie die Stadt nachweislich herunterkühlen. Einerseits spenden sie Schatten. Andererseits zieht das Wasser, das sie verdunsten, einen Kühlungseffekt nach sich. Wissenschaftler*innen unter anderem der Universität ETH Zürich haben herausgefunden, dass die Oberflächentemperatur von mit Bäumen bewachsenen Flächen in Mitteleuropa 8 °C bis 12 °C kühler ist. Doch auch Wiesen sind wichtig: Zwar ist ihr Kühlungseffekt geringer, allerdings sind sie notwendig, damit die Luft besser zirkulieren kann - und, kommt es zu starken Regenfällen, wirken sie wie ein Schwamm und nehmen Wasser auf, während dies auf kargem Betonboden zu Überschwemmungen führen würde. Geodaten für eine bessere Zukunft Fest steht, dass zukünftig nahezu jedes Kind auf der Welt den Folgen mindestens einer größeren Umwelt- oder Klimakatastrophe ausgesetzt sein wird. Das geht aus dem Children‘s Climate Risk Index hervor, der von UNICEF herausgegeben wird. Damit dies in Städten nicht zu lebensbedrohlichen Gefahren wird, gilt es nun, sich der neuen Realität anzupassen und sich sowohl für den vermehrten Zuzug als auch für drohende Starkregenereignisse und Hitzeperioden zu wappnen. Auf manuelle Weise alle wichtigen Dimensionen im Überblick zu behalten, ist nahezu unmöglich, deshalb bildet ein Digital Twin für Planer*innen und Architekt*innen das ideale Steigende Meeresspiegel versalzen in Bangladesch die Böden. Landwirtschaft wird nahezu unmöglich. brot-fuer-die-welt.de/ klima Ein Haus am Meer. Der Albtraum bengalischer Bauern. Werkzeug. Da sich mithilfe eines solchen digitalen Abbildes auch mögliche Szenarien durchplanen lassen, um bereits im Vorfeld zu überprüfen, welche Auswirkungen beispielsweise eine neue Parkanlage auf das Klima einer Nachbarschaft hätte, können etwaige Schwachstellen frühzeitig erkannt werden. So lassen sich die verfügbaren Flächen und finanziellen Ressourcen bestmöglich einsetzen, um eine lebenswerte und vor allem zukunftsfähige Stadt zu planen und umzusetzen. Zürich ist dafür das beste Beispiel. Thomas Koblet Head of Smart Solutions Esri Kontakt: info@esri.de AUTOR