eJournals Transforming cities 8/1

Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0005
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Jede Sekunde zählt

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Markus Bornheim
Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 wurde die Bevölkerung – aus diversen Gründen – nicht rechtzeitig gewarnt. Seitdem ist das Thema „Public Warning“ wieder aktuell, denn auch in vielen anderen Fällen beobachten wir zu lange Warnzeiten in Notfallsituationen. Dabei könnten gerade responsive digitale Kanäle, wie SMS oder Social Media, dabei helfen, Notfallnachrichten schnell zu übertragen und es den Betroffenen ermöglichen, über diese Kanäle Rückfragen zu stellen, was Notfallnummern entlasten würde. Ein weiter Vorteil ist, dass diese Kanäle nicht nur Behörden zur Verfügung stehen, sondern weitere Branchen und Betreiber kritischer Infrastrukturen sie ebenfalls nutzen können.
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14 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Warnung der Öffentlichkeit in Deutschland Bis zur Verbreitung von Smartphones wurden Sirenen zur Warnung eingesetzt. Mittlerweile haben Apps, die für die Warnung vor Gefahren entwickelt wurden, diese Rolle übernommen. Dazu gehören etwa die Warn-App NINA (Notfall-Informations-und- Nachrichten-App) oder die vom Fraunhofer Institut im Auftrag der Versicherungswirtschaft entwickelte App KATWARN. Die EU-Gesetzgebung zum öffentlichen Warnsystem legt EU- Mitgliedsstaaten nahe, eine den Mobilfunkdiensten zuzuordnende Technologie zu nutzen. Dies bedeutet, dass jeder Bürger mit einem eingeschalteten Mobiltelefon auch ohne die Nutzung einer App eine Warnung erhält, sollte er oder sie sich in einem akuten Gefahrengebiet aufhalten. Deutschland hat sich als Konsequenz aus der Flutkatastrophe im Sommer 2021 auf die Aktivierung der Cell-Broadcast-Technologie in den Mobilfunknetzen geeinigt. Im Notfall soll eine SMS-ähnliche Warnmeldung mit einem lauten Ton an alle eingeschalteten Mobiltelefone auf eine Gefahr hinweisen. Dieser Ansatz ist bereits vielversprechend, kann und sollte aber noch im Sinne einer systemischen Ende-zu- Ende-Betrachtung weitergedacht werden. Alles beginnt mit dem Notruf Ob ein eingehender Notruf einer Katastrophenlage zuzuordnen ist, zeigt sich, wenn binnen kurzer Zeit viele weitere unabhängige Anrufe zur selben Gefahrenlage eingehen. Landkreise und kreisfreie Städte sind zunächst in der Verantwortung, bei einem eingehenden 112-Notruf entsprechende Einsatzkräfte zu entsenden. Handelt es sich um einen Krisenfall (wie einer Flut), obliegt dieser dem Verantwortungsbereich des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), entsprechend melden die Notrufbehörden ihre Daten und Einschätzungen an eben dieses. Das BBK sorgt dafür, die einzelnen Informationsströme aus den betroffenen Kreisen und Städten zu einem gesamtheitlichen und umfassenden Lagebild zusammenzuführen, zu analysieren, zu bewerten und letztendlich über die notwendigen Warnmeldungen an die Bevölkerung zu entscheiden. Grundsätzlich gilt: Je breiter und vielfältiger die Anzahl der Warnkanäle ist, umso größer ist die Chance, möglichst viele Bürger im betreffenden Gebiet direkt zu erreichen. Neben den bekannten Kanälen wie Cell Broadcast, Warn-Apps, Radio und TV sowie Sirenen sollten weitere Kanäle mit großer Reichweite eingebunden werden. So nutzen bereits Jede Sekunde zählt Wie digitale Kanäle die Bevölkerung im Notfall besser warnen Markus Bornheim Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 wurde die Bevölkerung - aus diversen Gründen - nicht rechtzeitig gewarnt. Seitdem ist das Thema „Public Warning“ wieder aktuell, denn auch in vielen anderen Fällen beobachten wir zu lange Warnzeiten in Notfallsituationen. Dabei könnten gerade responsive digitale Kanäle, wie SMS oder Social Media, dabei helfen, Notfallnachrichten schnell zu übertragen und es den Betroffenen ermöglichen, über diese Kanäle Rückfragen zu stellen, was Notfallnummern entlasten würde. Ein weiter Vorteil ist, dass diese Kanäle nicht nur Behörden zur Verfügung stehen, sondern weitere Branchen und Betreiber kritischer Infrastrukturen sie ebenfalls nutzen können. Leitstelle. © Avaya 15 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation heute viele Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) Social Media-Kanäle wie Twitter zur zeitnahen Information ihrer Follower. Rückmeldung von Bürgern als Reaktion auf Public Warning Haben die Warnungen die Zielgruppe effektiv erreicht, kann diese entsprechende Vorkehrungen treffen. Allerdings können die für Cell Broadcast genutzten Mobilfunkzellen gerade in ländlichen Bereichen deutlich größer sein als das gefährdete Gebiet selbst. Dadurch empfangen Bürger die Warnung, obwohl sie gar nicht direkt betroffen sind. Das Resultat: eine alarmierte Bevölkerung, die möglicherweise zu unnötigen oder gefährdenden Reaktionen und Handlungen neigt. Um dies zu verhindern, kann eine über Public Warning-Kanäle versandte Nachricht mit einer Feedback-Möglichkeit, wie etwa einem eingebetteten Link mit nachgelagerter Web-Applikation, versehen werden. Über diesen Link wird der Empfang der Nachricht quittiert, präzise lokalisiert und der Empfänger sieht über die Web-Applikation, ob er sich im Gefahrengebiet aufhält. Mittels im Krisenmanagementsystem eingebundener Analytik-Tools werden dann Heatmaps erstellt, die die tatsächliche Anzahl potenziell gefährdeter Menschen aufdeckt. Die Web-Applikation ermöglicht es der Bevölkerung zudem, eine digitale Notfallmeldung abzusetzen und somit die Lage vor Ort noch transparenter für die Einsatzkräfte zu gestalten. Der Vorteil: Es muss kein eingehender Notruf in der Leitstelle angenommen und bearbeitet werden, was zu einer Entlastung beiträgt. Umsetzbarkeit der „Rückruf- Warnung“ Wie ist es um die Umsetzbarkeit einer solchen digitalen Bevölkerungswarnung bestellt? Zunächst sollte eine digitale Kopplung der kommunalen Einsatzleitsysteme an eine übergeordnete Krisenmanagementplattform stattfinden. Hier werden relevante Details zum Notfall registriert, diese tragen zu einem übergeordneten Lagebild bei. In Notfallsituationen ist jeder für klare, leicht verständliche Anweisungen dankbar. So sollte sich in der Web-Applikation für jeden Bürger eine individuelle Situationsdarstellung wiederfinden, gekoppelt an eine Handlungsempfehlung: Wie sollte man sich am besten verhalten und welche Maßnahmen müssen für die eigene Sicherheit vorgenommen werden? Befindet sich also eine Person in einer Notfallsituation und entscheidet sich dazu, die digitale Anwendung für die Meldung an die Notfallorganisationen zu nutzen, ist in erster Linie ein hohes Maß an Automatisierung sowohl in ebendieser Anwendung als auch in der Einsatzleitstelle oder im BBK gefordert. Besonders dann, wenn die ursprüngliche Notfallwarnung über Social Media-Kanäle mit teils sehr vielen Followern abgesetzt wurde. Ein Chatbot kann dabei helfen, diese Anfragen zu filtern und zu sortieren. Anschließend sorgt die Geolokalisierung für die Zuordnung des realen Standortes der/ des Betroffenen zur zuständigen Leitstelle. Auch diese kann oder sollte über digitale Kanäle in die K risenmanagement- Plat t form eingebunden werden, wenn gewünscht. Ähnlich wie bei einer Notruf- App braucht es eine Applikation sowie eine fortgeschrittene Digitalisierung aller beteiligten Behörden. Explizit für die Leitstellen sind Multimedia-Erweiterungen sinnvoll, mit denen sich zusätzlich zum Telefon und neben dem Text-Chat auch Bilder oder sogar Videoaufnahmen bidirektional und in Echtzeit austauschen lassen. So können die vom Chatbot generierten Informationen und die digitalen Kontakte (also die meldenden Personen) aufgenommen, erweiterte Erkenntnisse über die Multimedia-Inhalte geteilt, und, wenn notwendig, kann direkt zurückgerufen werden. Diese multimedialen Fähigkeiten könnten tendenziell über zukünftige Erweiterungen der vom Expertenforum Universelle Leitstellenschnittstelle (EFULS) entwickelten Schnittstelle „UCRI“ (Universal Control Room Interface) eingebracht werden. Schon heute finden wir ähnliche Anwendungsbeispiele in großflächig digitalisierten Branchen wie etwa dem Kundenservice im Online-Handel. Hier wird häufig Künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt, die auf Basis der ihr zur Verfügung stehenden Informationen kontinuierlich dazu lernt und so ein recht autark agierendes System bildet. So können Kundenanfragen bereits gelöst werden, ohne eine reale Person hinzuziehen zu müssen. Dasselbe Prinzip ist auf den Notruf anwendbar: Stehen der KI ausreichend Daten zur Verfügung, kann diese individuelle Anweisungen für die Bürger erzeugen und damit zur Entlastung des Notrufwesens beitragen. AUTOR Markus Bornheim Practice Lead Public Safety and Emergency Services Avaya International Kontakt: bornheim@avaya.com