eJournals Transforming cities 8/1

Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0009
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2023
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Urbane Sicherheit: integral und vorausschauend

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2023
Tillmann Schulze
Laura Fischer
Christian Wandeler
Die Sicherheitsanforderungen an Städte verändern sich laufend. Die Schweizer Stadt Luzern hat mit ihren „Sicherheitsberichten“ einen Weg gefunden, um mit Kontinuität und vorausschauender Planung Sicherheit zu gewährleisten – risikobasiert und integral, von kriminellen Alltagsdelikten bis zu Amoktaten oder einer Pandemie.
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28 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen 2005: In der Zentralschweiz regnet es extrem. In der Folge kommt es zu einem Hochwasser, das auch Teile der historischen Luzerner Innenstadt unter Wasser setzt. Die Schäden in der siebtgrößten Schweizer Stadt sind groß. Die Verantwortlichen stellen sich die Frage, wie sie solche Ereignisse künftig verhindern können. Damit verbunden drängt sich auch die Frage auf, welchen Stellenwert der Hochwasserschutz im Vergleich zu anderen sicherheitsrelevanten Themen haben soll. Die damalige Luzerner Sicherheitsdirektorin erinnerte sich an ihre Zeit, als sie noch im Gesundheitswesen tätig war. Das Krankenhaus, in dem sie arbeitete, verfügte über ein Risikomanagement: Alle relevanten Gefährdungen für den Betrieb waren erfasst und wurden regelmäßig überprüft. Erforderliche Maßnahmen, um die erkannten Risiken zu minimieren, wurden definiert und umgesetzt. Die Vision der Sicherheitsdirektorin: eine umfassende, integrale Analyse der gesamten Sicherheitslage in der Stadt Luzern. Es sollte unabhängig von tagesaktuellen Sicherheitsthemen klar werden, wo die größten Risiken für die Stadt liegen und wie diesen vorausschauend entgegengewirkt werden kann. Die Idee für den ersten Luzerner Sicherheitsbericht war geboren. Luzern betritt Neuland Auf Worte folgten Taten: 2006 begannen die Arbeiten. Die auf Sicherheitsplanungen spezialisierte Firma EBP Schweiz AG unterstützte die Sicherheitsdirektion dabei, ihre Vision umzusetzen. Aber auch für das damalige EBP-Projektteam bedeutete der erste Luzerner Sicherheitsbericht „Neuland“. Es war Urbane Sicherheit: integral und vorausschauend Urbane Sicherheit, Risikomanagement, Hochwasserschutz, Pandemie, Klimawandel Tillmann Schulze, Laura Fischer, Christian Wandeler Die Sicherheitsanforderungen an Städte verändern sich laufend. Die Schweizer Stadt Luzern hat mit ihren „Sicherheitsberichten“ einen Weg gefunden, um mit Kontinuität und vorausschauender Planung Sicherheit zu gewährleisten - risikobasiert und integral, von kriminellen Alltagsdelikten bis zu Amoktaten oder einer Pandemie. Bild 1: Hochwasserschutz in der historischen Luzerner Innenstadt. © Stadt Luzern 29 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen bis dahin kein Beispiel einer Sicherheitsplanung bekannt, die sowohl den Anspruch hat, alle sicherheitsrelevanten Themen abzudecken, als auch eine gesamte Stadt zu betrachten. Die Arbeiten zum ersten Bericht waren nicht immer einfach. Die eigens für das Projekt gebildete Arbeitsgruppe, bestehend aus Sicherheitsakteuren der Stadt Luzern, galt es von dem damals neuen Ansatz des risikobasierten Planens zu überzeugen; die Skepsis war zu Beginn teilweise groß. Doch es zeigte sich schon schnell der hohe Mehrwert der Vernetzung zwischen den Sicherheitsakteuren: Das Feuerwehrkommando hatte beispielsweise Kontakt zu Fachpersonen von der Stadtplanung, die Polizei diskutierte mit Mitarbeitenden der Jugendarbeit. Obwohl unterschiedliche Sichtweisen zu Themen wie zum Beispiel Videoüberwachung oder Verkehrssicherheit auf den Tisch kamen, war die Arbeitsgruppe immer bereit, konstruktiv einen Mittelweg zu finden. Hier ist sicherlich von Vorteil, dass konsens-orientiertes Arbeiten tief in der Schweizer Kultur verankert ist. Im Sommer 2007 trat die Luzerner Sicherheitsdirektorin mit dem fertigen Sicherheitsbericht vor die Medien. Er umfasste:  Eine kurze Darstellung der Ist-Situation: Wer sind die zentralen Sicherheitsakteure in der Stadt? Was waren in der jüngeren Vergangenheit die wichtigsten sicherheitsrelevanten Ereignisse?  Eine vertiefte Analyse der insgesamt 21 als relevant beurteilten Gefährdungen: Wie stellt sich die Gefährdungssituation in der Stadt Luzern dar? Welche Entwicklungen gab es? Welche Entwicklungen sind zu erwarten?  Eine Risikoanalyse der relevanten Gefährdungen: Wie oft kommt es zu einem sicherheitsrelevanten Ereignis auf dem Stadtgebiet bzw. mit Auswirkungen auf die Stadt? Und wenn es dazu kommt, was sind die Schäden bzw. die Auswirkungen?  Eine Liste von 58 Maßnahmen, die geeignet sind, um die Sicherheitslage in Luzern zu halten oder sogar zu verbessern.  Generelle Erkenntnisse und übergeordnete Empfehlungen zum weiteren Vorgehen. Die Öffentlichkeit zeigte sich überrascht von den Ergebnissen. Sie erwartete wohl, dass alltagsnahe Gefahren wie Verkehrsunfälle oder Pöbeleien im öffentlichen Raum von besonderer Bedeutung für Luzern sind. Nun lieferte der Sicherheitsbericht aber ein unerwartetes Ergebnis: Eines der größten Risiken für Luzern sind Erdbeben! Teile der Stadt stehen auf einem Boden, der sich im Fall eines starken Bebens verflüssigen könnte. Ein ganzes Quartier würde komplett zerstört. Hier bestätigte sich der Vorteil des Ansatzes risikobasierter Planung: Auch sehr seltene Ereignisse sind Teil der Analysen. Wenn diese - wie im Fall eines Erdbebens - aber zu sehr großen Schäden führen, ist das Risiko (Häufigkeit multipliziert mit dem Schadensausmaß) ähnlich groß wie bei häufigen Ereignissen mit deutlich kleineren Schäden. Ein weiteres zentrales Ergebnis der Arbeiten war der enge Austausch zwischen den städtischen Sicherheitsakteuren, der den Nährboden für eine fruchtbare Sicherheitskultur in Luzern schaffte. Diese besteht bis heute und führt auch weiterhin bei der täglichen Arbeit zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit innerhalb der städtischen Sicherheitsplanungen. Eine der vorgeschlagenen Maßnahmen aus dem Sicherheitsbericht von 2007: Luzern brauche eine Person, die sich um die Sicherheitslage in all ihren Facetten kümmert und die auch dafür zuständig ist, die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen zu koordinieren. Der Stadtrat, die politische Entscheidungsinstanz in Luzern, war schnell überzeugt von dieser Empfehlung; die „Stelle für Sicherheitsmanagement“ wurde geschaffen. Bei dieser liegt seitdem auch die Projektleitung für die nachfolgenden Sicherheitsberichte. Denn auch davon hatte sich der Stadtrat überzeugen lassen: Sicherheitsplanung muss kontinuierlich sein. Alle drei Jahre beurteilt die Stadt Luzern seitdem ihre Sicherheitslage neu. Bild 2: Sicherheitsberichte der Stadt Luzern. © Stadt Luzern Stadt Luzern, Sicherheitsdirektion Sicherheitsbericht für die Stadt Luzern Mai 2007 Direktion Umwelt, Verkehr und Sicherheit Sicherheitsbericht Stadt Luzern 2010 Beurteilung der Sicherheitslage im Stadtgebiet Luzern 30. Juni 2010 Stadt Luzern Sicherheitsbericht Stadt Luzern 2019 Beurteilung der Sicherheitslage Klimawandel und Sicherheit Sozial- und Sicherheitsdirektion September 2019 30 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Vergleichbarkeit der Ergebnisse ist zentral So folgten in den Jahren 2010, 2013, 2016 und 2019 weitere Sicherheitsberichte. Um die Ergebnisse vergleichen zu können, blieb das Vorgehen weitgehend gleich: Eine vertiefte Analyse der relevanten Gefährdungen bildet jeweils das Fundament der Arbeiten; die risikobasierte Darstellung zeigt den Verantwortlichen auf, welche Themen in den Sicherheitsplanungen besonders hoch zu priorisieren sind. Für alle relevanten Gefährdungen wird geprüft, ob es Maßnahmen gibt, mit der sich die Situation verbessern ließe. Ergänzend vertieft der Sicherheitsbericht seit 2010 immer ein anderes Fokusthema:  2010 fusioniert die Stadt Luzern mit der angrenzenden Gemeinde Littau: Die dortige Sicherheitslage wird besonders gründlich analysiert.  2013 bildet die künftige Stadtentwicklung/ Stadtplanung und ihre Auswirkung auf die Sicherheitslage den Schwerpunkt.  Mit der Sicherheitslage der älteren Bevölkerungsgruppen in der Stadt befasst sich der Bericht von 2016.  Die Folgen des Klimawandels auf die Sicherheitslage gilt es im 2019er-Bericht zu analysieren. Für den Sommer 2023 ist nun der nächste Sicherheitsbericht geplant. Der Abstand von vier Jahren erklärt sich aus der Covid-Pandemie; die Stadt musste ihre Prioritäten anders setzen, wodurch es zu dem einen Jahr Verzögerung kam. Auch das Fokusthema des neuen Berichts ist geprägt von der Pandemie und ihren Auswirkungen. Es gilt die Sicherheitslage in Luzerns öffentlichen Räumen zu überprüfen. Der Nutzungsdruck auf die bereits dicht genutzten Räume wie beispielsweise eine Grünfläche am direkt an die Stadt angrenzenden Vierwaldstättersee verschärfte sich vor allem in den warmen Monaten der Jahre 2020 und 2021 stark. Nun stellt sich die Frage, ob diese intensivierte Nutzung bestehen bleibt und welche Konsequenzen daraus resultieren. Unverzichtbares Planungsinstrument mit Strahlkraft Der Sicherheitsbericht ist über die Jahre für die Verantwortlichen der Stadt zu einem unverzichtbaren Planungsinstrument geworden. Die politisch Verantwortlichen haben seit dem ersten Bericht von 2007 mehrfach gewechselt und auch der langjährige Sicherheitsmanager hat die Stadt vor zwei Jahren verlassen. Der Sicherheitsbericht jedoch hat Kontinuität und Stabilität in der Sicherheitsplanung geschaffen. Er ist etabliert und anerkannt - und das nicht nur in der Stadtverwaltung. Auch die kantonalen Fachpersonen, die bei gewissen Fragestellungen mitarbeiten, schätzen dieses Instrument. Seit 2013 wird zudem immer auch eine sogenannte „Echogruppe“ in die Arbeiten mit einbezogen. In dieser Gruppe sind Vertreterinnen und Vertreter ganz unterschiedlicher Bevölkerungs- und Interessensgruppen vertreten: das Jugendparlament beispielsweise, Seniorinnen und Senioren, die örtlichen Verkehrsbetriebe, das Gewerbe oder der Tourismusverband. Diese Organisationen schätzen die Möglichkeit sehr, ihre Anliegen und Bedürfnisse im Rahmen moderierter, partizipativer Workshops zu äußern. Auch können sie Vorschläge für Maßnahmen einbringen, die dann in den Bericht einfließen. Auf die Luzerner Sicherheitsberichte sind über die Jahre auch die Sicherheitsverantwortlichen anderer Städte und Gemeinden aufmerksam geworden. Auch wenn es zumindest im deutschsprachigen Bild 3: Über die Jahre zeigt sich die Veränderung der Risiken für die Stadt Luzern. © Stadt Luzern 31 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Raum bislang keine andere Stadt gibt, die gleich umfassend ihre Sicherheitslage analysiert - von Alltagsdelikten über Themen wie Verkehr und Kriminalität bis hin zu Naturgefahren, Gefahrgutunfällen und Terroranschlägen -, so haben mittlerweile Städte in der Schweiz wie beispielsweise Biel, aber auch im Ausland - hier verfolgt München aktuell ein ähnliches Vorgehen -, den Luzerner Ansatz übernommen und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Ist damit der Luzerner Sicherheitsbericht eine reine Erfolgsgeschichte? Sind die Menschen in Luzern sicherer als in anderen Städten? Fakt ist: Wie in jeder Stadt kann es auch in Luzern keine vollständige Sicherheit geben. Unsicherheiten gehören zum Alltag. Vielmehr zeigt der Sicherheitsbericht Handlungsfelder auf, wo die Sicherheit verbessert werden kann, und er ist ein Hilfsmittel, um Sicherheit zu gestalten. Doch bekanntlich ändert ein Hilfsmittel allein noch gar nichts an der Sicherheitslage. Es braucht die Menschen dahinter, die mit dem Bericht und seinen Erkenntnissen arbeiten:  Es braucht das Bewusstsein der politisch Verantwortlichen, dass eine integrale und risikobasierte Sicherheitsplanung für die Stadt von Vorteil ist.  Es braucht personelle Ressourcen und die jeweilige Kompetenz auf der operativen Ebene der Stadtverwaltung, um die Ergebnisse des Berichts umzusetzen und den erforderlichen Koordinationsaufwand betreiben zu können.  Es braucht die Bereitschaft der Fachpersonen aus der Stadt, des Kantons sowie Dritter, an dem Bericht zu partizipieren - und vor allem auch konstruktiv zu überlegen, wie sich Sicherheitsfragen gemeinsam lösen lassen.  Es braucht die Bereitschaft der Sicherheitsorganisationen mit ihren Akteurinnen und Akteuren, die Ergebnisse und Maßnahmen zu akzeptieren sowie auch umzusetzen. Sich von tagesaktuellen Ereignissen nicht dominieren lassen Die Arbeiten für den neuen Sicherheitsbericht, der im Juni 2023 veröffentlicht werden soll, laufen derzeit wie geplant. Der neue Sicherheitsmanager hat ein eingespieltes Team von internen Fachstellen und externen Fachpersonen im Rücken, die nun zum sechsten Mal zusammenarbeiten. Die aktuell sicherheitsrelevanten Krisen wie Covid, die Energiemangellage oder auch der Krieg in der Ukraine mit seinen Auswirkungen auf die Schweiz werden in den 2023er-Bericht einfließen. Dennoch bleibt es ein zentrales Anliegen, Sicherheit umfassend zu verstehen und sich von den tagesaktuellen Gefährdungen oder Entwicklungen nicht komplett einnehmen zu lassen. Ziel des Berichts ist es, das Augenmerk auf jene Themen zu richten, von denen das größte Risiko für die Stadt und seine Bevölkerung ausgeht. Und auch das Sicherheitsempfinden fließt in die Beurteilungen mit ein. So zeigte der Workshop mit der Echogruppe von Ende 2022, dass die Themen Verkehrssicherheit und Konflikte in öffentlichen Räumen stärker beschäftigen als die - zumindest in den Medien und politischen Agenden - dominierenden Krisen. Für die Sicherheitsverantwortlichen von Luzern bleibt es zentral, bei ihren Planungen weiterhin jene Sicherheitsthemen zu berücksichtigen, bei denen es aus der Sicht der Fachpersonen Verbesserungsbedarf gibt. Gleichzeitig gilt es den Handlungsdruck zu berücksichtigen, der aus der öffentlichen Berichterstattung entsteht sowie die Anliegen der Bevölkerung und Interessensgruppen. Mehr denn je ist Sicherheitsplanung in einer und für eine Stadt eine anspruchsvolle Aufgabe. Aber mit ihren Sicherheitsberichten verfügt Luzern über ein etabliertes und seit über fünfzehn Jahren bewährtes Analyse- und Planungsinstrument, das den Verantwortlichen auch in „unruhigen Zeiten“ dabei hilft, überlegt und fundiert Einfluss auf die Sicherheit in der Stadt Luzern zu nehmen und damit Sicherheit proaktiv zu gestalten. So bleibt Luzern auch künftig eine sichere und damit lebenswerte Stadt. Dr. Tillmann Schulze Sicherheitsplaner und -berater Geschäftsbereich Sicherheit EBP Schweiz AG Zürich Kontakt: Tillmann.Schulze@ebp.ch Laura Fischer Stadtsoziologin Geschäftsbereich Raum- und Standortentwicklung EBP Schweiz AG Zürich Kontakt: laura.fischer@ebp.ch Christian Wandeler Sicherheitsmanager Sozial- und Sicherheitsdepartement Stadt Luzern Kontakt: christian.wandeler@stadtluzern.ch AUTOR*INNEN