Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0010
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2023
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Sicherheit und Sicherheitsgefühle in Bahnhofsvierteln
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Tim Lukas
Saskia Kretschmer
Mit der Sicherheitspartnerschaft „Kooperation Sicherheit Innenstadt/Döppersberg (KoSID)“ wurden rund um den Wuppertaler Hauptbahnhof akteursübergreifend abgestimmte Maßnahmen umgesetzt und wissenschaftlich begleitet [1]. Nach dem Ende der wissenschaftlichen Begleitforschung liegt nun eine Handreichung der Stiftung „Lebendige Stadt“ vor, in der die Ergebnisse des Projekts, seine Umsetzung und die Lernerfolge vorgestellt werden, von denen andere Städte und Kommunen bei der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung nicht nur in Bahnhofsvierteln profitieren können.
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32 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Sicherheit in der Stadt Die Forschungsgruppe Räumliche Kontexte von Risiko und Sicherheit des Fachgebiets Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit an der Bergischen Universität Wuppertal verfolgt seit 2014 das übergeordnete Gesamtprojekt „Sicherheit in der Stadt“, in dem Aspekte der Wahrnehmung von subjektiver Sicherheit und der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum wissenschaftlich untersucht und begleitet werden. Im Rahmen des Gesamtprojekts werden unterschiedliche räumliche Kontexte im Hinblick auf Sicherheit und Unsicherheit erforscht. Mit der Integration von Ergebnissen aus zahlreichen empirischen Fallstudien trägt das Projekt dazu bei, unterschiedliche Voraussetzungen für die Entstehung von Kriminalität und kriminalitätsbezogenen (Un-)Sicherheitsgefühlen wissenschaftlich fundiert abzubilden und auf diese Weise verallgemeinerbare Handlungsempfehlungen für kommunales Handeln im Umgang mit Kriminalität und Ordnungsstörungen zu entwickeln. Das Gesamtprojekt verfolgt damit das übergeordnete Ziel, verschiedene urbane Problemlagen und kommunale Sicherheitsarchitekturen systematisch zu erheben, um so das Bild einer bundesweiten Risiko- und Bedarfsanalyse stetig zu erweitern. So können zentrale Mechanismen der Entstehung von (Un-) Sicherheitsgefühlen nachvollzogen und evaluierte Maßnahmen der Kriminalprävention zum Ausbau effizienter Sicherheitsstrategien entwickelt und den Kommunen zur Verfügung gestellt werden. Sicherheit im Bahnhofsviertel - Das Wuppertaler Projekt KoSID Ein besonderer räumlicher Fokus liegt dabei auf Bahnhofsumgebungen und zentrumsnahen Bereichen. Bahnhöfe und ihre angrenzenden Stadtviertel bilden das Tor zur Innenstadt. Zugleich konzentrieren sich in ihnen Delikte der Massen- und Straßenkriminalität. Es verwundert daher kaum, dass sich Diskussionen um Fragen der Stadtentwicklung und Sicherheit im öffentlichen Raum häufig am besonderen Stadtraum des Bahnhofsviertels festmachen [2]. Kaum ein anderer Ort im Gefüge der Stadt weist eine derartige Gleichzeitigkeit von Aufwertungsdynamik und sozialer Marginalisierung auf. Neue Wohngebiete, Geschäftszentren und Bürokomplexe treffen auf Phänomene von Obdachlosigkeit, Drogenkonsum und Straßenprostitution. Die Transformation des Bahnhofsviertels zu einer Visitenkarte der Stadt verläuft allzu häufig nicht frei von Konflikten und hat paradoxe Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl der verschiedenen Nutzerinnen und Nutzer. Aufwertungsdynamiken vollziehen sich exemplarisch auch im Umfeld des Wuppertaler Hauptbahnhofs. Der einst unübersichtliche und zum Teil verwahrloste Übergang vom Bahnhof in die Innenstadt gehörte über lange Zeit zu den zentralen Sicherheit und Sicherheitsgefühle in Bahnhofsvierteln Handlungsempfehlungen der Wuppertaler Sicherheitspartnerschaft KoSID Bahnhofsviertel, Handlungsempfehlungen, kommunale Kriminalprävention, öffentlicher Raum, Sicherheitskooperation, urbane Sicherheit Tim Lukas, Saskia Kretschmer Mit der Sicherheitspartnerschaft „Kooperation Sicherheit Innenstadt/ Döppersberg (KoSID)“ wurden rund um den Wuppertaler Hauptbahnhof akteursübergreifend abgestimmte Maßnahmen umgesetzt und wissenschaftlich begleitet [1]. Nach dem Ende der wissenschaftlichen Begleitforschung liegt nun eine Handreichung der Stiftung „Lebendige Stadt“ vor, in der die Ergebnisse des Projekts, seine Umsetzung und die Lernerfolge vorgestellt werden, von denen andere Städte und Kommunen bei der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung nicht nur in Bahnhofsvierteln profitieren können. 33 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Angsträumen der Stadt Wuppertal [3]. Nach einer umfangreichen Umgestaltung wich die angstbesetzte Unterführung einer hellen und weitläufigen Einkaufsbrücke, die Platz für eine komplette Neugestaltung der unmittelbaren Bahnhofsumgebung schaffte (Bild 1). Die inzwischen nahezu abgeschlossenen Umbauarbeiten haben einen attraktiven und funktionalen Ort hervorgebracht, der die Bedarfe verschiedener Nutzungsgruppen miteinander vereint. Der Bahnhofsvorplatz erscheint als ein qualitätsvoller Ort, der als „Tor zur Stadt“ einladend wirkt und vielfältige Nutzungsmöglichkeiten bietet. Als urbaner Stadtraum ist der sogenannte Neue Döppersberg jedoch nicht nur ein Ort des Transits und des Konsums, er ist auch Aufenthaltsort marginalisierter Bevölkerungsgruppen, denen mit einem Kontaktcafé im angrenzenden Wupperpark-Ost eine neue Anlauf- und Beratungsstelle geschaffen wurde. Die Erwartungen von Stadtgesellschaft und Politik waren dabei von Beginn an darauf ausgerichtet, ein repräsentatives Stadtbild zu erzeugen, das unterschiedliche Nutzungsgruppen integriert. In der Folge entstanden Grünflächen und großzügige öffentliche Plätze, die jedoch nur dann zu Verweilzonen für die Bürgerinnen und Bürger werden können, wenn auch das Sicherheitsempfinden dazu einlädt. Dieser Aufgabe widmete sich die im neuen Stadtraum eingerichtete Sicherheitspartnerschaft „Kooperation Sicherheit Innenstadt Döppersberg (KoSID)“, die von April 2019 bis Juni 2022 gefördert und durch die Bergischen Universität Wuppertal koordiniert und wissenschaftlich begleitet wurde [4]. Die im Projektverbund geteilte und gemeinsam getragene Sicherheitsverantwortung umfasste dabei verschiedene Akteursgruppen aus den Bereichen der Sozial- und Stadtplanung, der Verkehrsbetriebe, der lokalen Wirtschaft wie auch der Ordnungs- und Sicherheitsbehörden. Mit dem Ziel der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung und der Stärkung des Sicherheitsgefühls für alle Nutzerinnen und Nutzer des Neuen Döppersbergs zeichnete sich das Projekt durch eine Kombination aus wissenschaftlicher Grundlegung und praxisbezogener Umsetzung aus [4]. Die Erfolge des Projekts haben dazu geführt, dass die entwickelten Ansätze fortgesetzt und auf Dauer gestellt werden. Die erprobten Methoden und das entstandene Netzwerk werden zukünftig in den etablierten Strukturen der sozialen Ordnungspartnerschaften weitergeführt und auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet. Nicht zuletzt diese räumliche Erweiterung des KoSID-Ansatzes verweist auf die Übertragbarkeit des Projekts in andere Stadträume. Um auch andere Städte und Kommunen bei der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung für alle Nutzenden zentrumsnaher Bereiche unterstützen zu können, wurden die Bild 1: Der Neue Döppersberg am Wuppertaler Hauptbahnhof. © Saskia Kretschmer 34 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen zentralen Inhalte des Projekts in einer anschaulichen Handreichung zusammengefasst, die einen Überblick über die Ergebnisse des Projekts, seine Umsetzung und die Lernerfolge gibt (Bild 2). Die KoSID-Handreichung Die im Rahmen des Projekts KoSID gesammelten Erkenntnisse lassen sich grundsätzlich in sieben Handlungsfelder unterteilen: Subjektive Sicherheit, subjektiv unerwünschte Verhaltensweisen, Kriminalität und Prävention, Aufenthaltsqualität, Sauberkeit, Bahnhofsviertel im Wandel sowie Institutionelle Verankerung und Bürger*innenbeteiligung. In Anlehnung an den im Projekt „Sicherheit im Bahnhofsviertel (SiBa)“ entstandenen „Werkzeugkasten der (Kriminal-)Prävention“ [5] bieten die ausgewählten Handlungsfelder Einblicke in die im Projekt verfolgten Arbeitsschwerpunkte. Neben einer Situationsanalyse liefert die Broschüre einen Überblick über den in den jeweiligen Handlungsfeldern realisierten KoSID-Ansatz sowie Empfehlungen und Hinweise auf mögliche Stolpersteine in der Umsetzung. Dabei werden zunächst die lokalen Bedingungen der städtebaulichen Umgestaltung des Wuppertaler Bahnhofsumfelds erläutert, um anschließend die im Projektverlauf verabredeten Maßnahmen und externen Impulse darzustellen. Auf diese Weise können die im Wuppertaler Beispiel gemachten Erfahrungen abstrahiert und durch pointierte Lernerfolge nachgezeichnet werden, die auch für andere Kommunen Möglichkeiten der Optimierung des Sicherheitshandelns aufzeigen. Die Handlungsfelder ergeben zusammen das Bild eines ganzheitlichen Sicherheitsverständnisses, das verschiedene Facetten der Sicherheit und Sicherheitswahrnehmung in urbanen Räumen umfasst. Einleitend dient das Handlungsfeld der subjektiven Sicherheit dazu, das herkömmliche Verständnis des Sicherheitsbegriffs um Aspekte der Sicherheitswahrnehmung zu erweitern und Handlungsspielräume für unterschiedliche Akteursgruppen aufzuzeigen. Gute Sicherheitsarbeit zeichnet sich demnach nicht allein durch die Prävention von Kriminalität und Ordnungsstörungen aus, sondern bezieht auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Prozesse des sozialen Wandels mit ein. Um deren Berücksichtigung zu gewährleisten, bedarf es eines umfassenden Ansatzes, der neben den Ordnungs- und Sicherheitsbehörden auch weitere Akteursgruppen, wie etwa die (Straßen-)Sozialarbeit, den Einzelhandel, die Verkehrsbetriebe und schließlich auch die Bürgerinnen und Bürger integriert. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Kriminalität und Prävention. Die traditionellen Handlungsfelder im Bereich der Sicherheitsarbeit schließen neben der Polizeiarbeit auch weitreichende Bereiche der Prävention mit ein. Das Kapitel legt dar, wie wichtig es ist, notwendige Maßnahmen der Repression mit umfassenden Präventionsstrategien zur Vermeidung von Straftaten und Ordnungsstörungen im Sicherheitshandeln miteinander zu vereinen. Bereits im Planungsprozess können zahlreiche Weichenstellungen erfolgen, die jedoch stets flexibel genug sein müssen, um sich veränderten Rah- Bild 2: Feierliche Überreichung der KoSID-Handreichung an den Wuppertaler Oberbürgermeister Prof. Dr. Uwe Schneidewind. © Bo Tackenberg 35 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen menbedingungen anpassen zu können. Die KoSID- Handreichung zeigt hier vor dem Hintergrund der städtebaulichen Umgestaltung eines bestehenden Stadtraums Empfehlungen für den Planungsprozess auf. Darüber hinaus bilden subjektiv unerwünschte Verhaltensweisen ein weiteres Handlungsfeld, dem sich die Broschüre ausführlich widmet (Bild-3). Hier werden insbesondere ordnungsstörende Nutzungen unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit thematisiert, die von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als störend empfunden werden (Bild 4). Das Handlungsfeld fußt dabei auf der Akzeptanz und Anerkennung der sozialen Lage verschiedener Nutzungsgruppen im öffentlichen Raum und greift damit auf ein für den urbanen Raum zentrales Verständnis von Toleranz und Kompetenz im Umgang mit Unsicherheit zurück. Zugleich bietet die Broschüre praktikable Ansätze der Ermöglichung einer konfliktarmen Nutzung des öffentlichen Raums, mit denen sich die jeweilige Angebotsstruktur an die Bedürfnisse vor Ort anpassen lässt. Das Handlungsfeld Aufenthaltsqualität besitzt eine zentrale Bedeutung, da Umgestaltungsmaßnahmen für ein attraktives städtebauliches Umfeld nur dann erfolgreich sein können, wenn der öffentliche Raum auch angenommen und von den Bürgerinnen und Bürgern genutzt wird. Aufenthaltsqualität und Sicherheitsgefühle sind eng miteinander verwoben, weil attraktive öffentliche Räume, die zum Verweilen einladen, auch eine intensive Nutzung erfahren und insofern als belebt wahrgenommen werden. Die Anwesenheit anderer Menschen als Instanzen einer auf informelle Sozialkontrolle ausgerichteten Belebung kann zu einem verbesserten Sicherheitsempfinden beitragen. Die KoSID-Handreichung liefert hierzu wichtige Erkenntnisse aus dem Planungsprozess unterschiedlicher Nutzungsmöglichkeiten in einem neu gestalteten Stadtraum. Die schriftlich-postalische Bevölkerungsbefragung im Projekt KoSID repliziert den kriminologischen Befund, wonach Müll, Leerstand und Verwahrlosung einen Einfluss auf das Sicherheitsempfinden ausüben. Aus diesem Grund erfährt das Handlungsfeld Sauberkeit einen zentralen Stellenwert in der Handreichung. Intensiv genutzte Bereiche im öffentlichen Raum verlangen nach regelmäßigen und intensiven Reinigungstätigkeiten. Neben diesen notwendigen Arbeiten zeigt die Broschüre aber auch außergewöhnliche und kreative Lösungen auf, die zur Vorbeugung von Verschmutzungen im öffentlichen Raum beitragen und dabei die Nutzerinnen und Nutzer sensibilisieren. Über die kleinräumige Perspektive auf das Bahnhofsviertel hinaus, liefert die Handreichung auch Einblicke in gesamtgesellschaftliche Prozesse, die zwar in erster Linie Entwicklungen im Bahnhofsviertel betreffen, aber auch über die Grenzen des Quartiers hinausgehen und in den erweiterten Raum der Gesamtstadt abstrahlen. Das Kapitel Bahnhofsviertel im Wandel verweist auf Prozesse der Stadtentwicklung, die sich nicht nur in Wuppertal, Bild 3: Das Handlungsfeld der subjektiv unerwünschten Verhaltensweisen in der KoSID- Broschüre. © Stiftung Lebendige Stadt 23 22 Exkurs zum Begriff Der Begriff „subjektiv unerwünschte Verhaltensweisen“ bietet vielschichtige Interpretationsmöglichkeiten. Aus diesem Grund sollen die folgenden drei Fragen zu einem verbesserten Verständnis verhelfen: Ist der Begriff exkludierend? Einige Projektbeteiligte kritisieren eine zu enge Kopplung von störendem Verhalten und Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße. Der Begriff lasse die Interpretationsmöglichkeit zu, dass bestimmte soziale Gruppen „unerwünscht“ seien. Dagegen soll betont werden, dass störende Verhaltensweisen von unterschiedlichen sozialen Gruppen ausgehen können. Was bedeutet „subjektiv“? Subjektiv betont in diesem Kontext, dass zwischenmenschliches Verhalten höchst unterschiedlich bewertet und wahrgenommen werden kann. Der ausschließliche Fokus auf den Rechtsbegriff „Ordnungswidrigkeiten“ würde diese Ambivalenz ausklammern. Gibt es eine Alternative? Im Projektkontext wurden zahlreiche Alternativen diskutiert, jedoch konnte kein Begriff gefunden werden, der der Komplexität des Phänomens angemessen wäre. Begriffliche Klarheit und Sensibilität im Themenfeld „Ordnung und Sicherheit“ sind jedoch notwendig, um Diskriminierung und Stigmatisierung zu vermeiden. Subjektiv unerwünschte Verhaltensweisen Zu den subjektiv unerwünschten Verhaltensweisen zählen Nutzungsweisen des öffentlichen Raums, die von Teilen der Gesellschaft als störend wahrgenommen werden. In diesem Fall handelt es sich nicht um strafrechtlich relevantes Verhalten, sondern zumeist um Ordnungswidrigkeiten unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit. Situationsbeschreibung A uch wenn von derartigen Verhaltensweisen kein unmittelbares Sicherheitsrisiko ausgeht, können sie Unwohlsein oder gar Unsicherheitsgefühle auslösen ( Subjektive Sicherheit). Aus diesem Grund üben subjektiv unerwünschte Verhaltensweisen einen Einfluss auf die Nutzung und den Aufenthalt im öffentlichen Raum aus. Auch am Neuen Döppersberg konnten derartige Störungen festgestellt werden. In diesem Zusammenhang fielen insbesondere Fälle des öffentlichen Urinierens (in Hauseingängen), Vandalismus und nächtliches Randalieren (Abbildung 13 und Abbildung 14), Pöbeleien einer Jugendgruppe und verbale Belästigungen von Frauen in den Morgenstunden auf. Sogenannte Incivilities oder Disorder- Phänomene können als Verwahrlosungserscheinungen des öffentlichen Raums und Zeichen mangelnder Sozialkontrolle gewertet werden. Zwar lässt sich aus den Befragungsdaten kein schwerpunktmäßig wahrgenommenes subjektiv unerwünschtes Verhalten herauslesen, jedoch registrieren viele Befragte vor allem den öffentlichen Konsum von Alkohol. Nicht selten werden marginalisierte Straßenszenen allgemein mit subjektiv unerwünschten Verhaltensweisen in Verbindung gebracht. Die Wahrnehmung von Wohnungslosen oder Menschen mit Suchterkrankungen kann innerhalb der Mehrheitsgesellschaft verschiedene Reaktionen auslösen, deren Ursachen nach Meinung der interviewten Expertinnen und Experten zumeist die Konfrontation mit Leid und Krankheit oder die Sorge vor willkürlicher Aggression sind. Konkrete Herausforderungen im Untersuchungsgebiet liegen diesbezüglich in einer vorrangig durch den umliegenden Einzelhandel vorgebrachten Beschwerdelage, wie sie regelmäßig auch im Blitzlicht ( Tools) der Projektbeteiligten und in einer von Studierenden durchgeführten Befragung des stationären Einzelhandels deutlich wurde. Der Aufenthalt von obdachlosen Menschen vor den Ladeneingängen wird als störend und geschäftsschädigend empfunden. Zwar seien Konflikte und strafrechtlich relevantes Verhalten wie Drogenhandel und -konsum oder Pöbeleien und Streitereien nur innerhalb der Gruppen zu beobachten, jedoch wirke die Anwesenheit des Personenkreises abschreckend auf potentielle Kundinnen und Kunden: „Mein Laden hat einen Imageschaden und bekommt die Beschreibung `da wo die Junkies stehen`.“ (Interviewnotizen Gewerbe und Handel) Zu berücksichtigen ist aber auch, dass Obdachlosigkeit zu einem überwiegenden Teil nicht frei gewählt wird und die davon betroffenen Menschen auf die Nutzung des öffentlichen Raums angewiesen sind. Sicherheitsgefühle von Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße finden jedoch oftmals keine Berücksichtigung bei der Planung und Umsetzung kriminalpräventiver Maßnahmen (Lukas & Hauprich 2022). KoSID-Ansatz/ Maßnahmen Der kontinuierliche Austausch im Projektverbund ermöglichte eine zeitnahe Identifizierung von Problemlagen, um mit zielgruppenspezifischen Maßnahmen und orientiert an lokalen Bedarfen gemeinsam zu agieren. In enger Zusammenarbeit mit einem Träger der Jugendhilfe, der Wichernhaus Wuppertal gGmbH ( Steckbriefe), konnte so eine Lösungsstrategie für Beschwerden über skatende Jugendliche erarbeitet werden. Unter Einbeziehung der Beteiligten konnte für Beschädigungen des öffentlichen Mobiliars sensibilisiert werden. Angesichts einer skandalisierenden Medienberichterstattung über Vandalismusschäden am Neuen Döppersberg konnte der Stigmatisierung des neu entstandenen Stadtraums mit einer versachlichenden Pressemitteilung entgegengewirkt werden. Mit einer stärkeren Präsenz der Polizei wurden aggressive Belästigungen (insbesondere gegenüber Frauen) durch Jugendliche verhindert. Gegen das öffentliche Urinieren half der Einsatz eines Dixi-Urinals, das im Rahmen einer Zwischennutzung auf einem Baufeld am Neuen Döppersberg errichtet werden konnte ( Sauberkeit). Wachsende Beschwerden über Gruppen von Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße führten zu einem aufsuchenden Dialog zwischen Anliegenden und Vertretungen der sozialen Träger, in dem konkrete Lösungsansätze abgestimmt wurden. Insbesondere die Verlegung des Café COSA ( Steckbriefe) und die während der Coronapandemie ausgesetzten Streetwork-Angebote konnten dabei als Ursachen einer Verlagerung der Szene identifiziert werden, die durch die Wiedereröffnung der Einrichtung am Neuen Döppersberg umgekehrt werden konnte. Das moderne Abbildung 13 Wildes Urinieren am Schwebebahnhof Hauptbahnhof/ Döppersberg führte zu Beschwerden Abbildung 14 Zerstörtes Zwischenelement aus Metall an einer Brüstung des Neuen Döppersbergs Gebäude wurde zentral, aber etwas abseits vom Eingang zur Fußgängerzone angesiedelt. Bild 4: Unerwünschte Verhaltensweisen im Stadtraum. © Jolande auf Pixabay 36 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Handreichung „Wie schaffen Städte Sicherheit und Ordnung in Bahnhofsvierteln? “ steht den Kommunen somit eine umfassende und zugleich ansprechende Broschüre zur Verfügung, die den positiven Wandel am Wuppertaler Döppersberg als ein Best Practice-Beispiel beschreibt, das den Weg für die Entwicklung sicherer Innenstadträume auch in anderen Großstädten ebnet. Die Stiftung Lebendige Stadt bietet die Broschüre auf ihrer Homepage zum kostenlosen Download an [7]. LITERATUR [ 1] Lukas, T., Coomann, B., Kretschmer, S.: Kooperative Sicherheitsarbeit in neuen Stadträumen. Die Wuppertaler „Kooperation Sicherheit Innenstadt/ Döppersberg (KoSID)“. In: Transforming Cities 4 (2021), S. 60 - 64. [2] Faigle, M., Härle, L., Hennen, I., Hohendorf, I.: Sicherheit im Ludwigsburger Bahnhofsviertel (SiLBer). In: forum kriminalprävention 4 (2021), S. 12 - 14. [3] Stadt Wuppertal (Hrsg.): Angstraumkonzept. Wuppertal: Geschäftsbereich Soziales, Jugend & Integration, 2012. [4] Lukas, T., Kretschmer, S., Coomann, B.: Plurale Sicherheitsarbeit in einem neuen Stadtraum. Kooperation Sicherheit Innenstadt/ Döppersberg (KoSID) in Wuppertal. In: forum kriminalprävention 3 (2020), S. 18 - 21. [5] Projektverbund SiBa (Hrsg.): Werkzeugkasten der (Kriminal-)Prävention. Tübingen: Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement, 2020. [6] Ammicht Quinn, R., Bescherer, P., Gabel, F., Krahmer, A.: Leitlinien für eine gerechte Verteilung von Sicherheit in der Stadt. Tübingen: Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, 2016. [7] Stiftung Lebendige Stadt (Hrsg.): Wie schaffen Städte Sicherheit und Ordnung in Bahnhofsvierteln? Eine Handreichung der Wuppertaler Sicherheitspartnerschaft KoSID. Hamburg, 2022. Online: https: / / lebendige-stadt.de/ pdf/ Publikation_KoSID_2022.pdf (Zugriff: 20.12.2022). sondern auch in zahlreichen anderen Kommunen abzeichnen. Aufwertungsdynamiken und deren (nicht beabsichtigte) Nebenfolgen stellen nicht nur die planenden Professionen vor Herausforderungen. Als Aufwertungsquartier und Konzentrationsort sozialer Problemlagen, Mobilitätsschnittstelle für Pendelnde und Tor zur Innenstadt für Reisende und Besucherinnen und Besucher erfüllen Bahnhofsviertel verschiedene Funktionen, die potenziell miteinander in Konflikt geraten können. Das Kapitel adressiert die Strahlkraft einzelner Quartiere für die Stadtentwicklung und den Umgang mit den sozialen Folgen von Aufwertungsprozessen. Das Handlungsfeld Institutionelle Verankerung und Bürger*innenbeteiligung thematisiert die im Rahmen der Sicherheitspartnerschaft gewonnenen Erfahrungen mit den im Projektverbund beteiligten Akteursgruppen und die Erkenntnisse aus ausgewählten Beteiligungsprozessen, wie etwa der Bevölkerungsbefragung oder den unregelmäßig durchgeführten Schaufensterbefragungen. Im Projektverlauf beteiligte sich eine Vielzahl unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure, die die entscheidenden Weichen für eine gelingende Kooperation und Arbeit im Netzwerk stellten. Das Kapitel behandelt den Mehrwert einer geteilten Sicherheitsverantwortung sowie die Möglichkeiten einer Sensibilisierung einzelner Organisationen, die sich genuin nicht in der Verantwortung für die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung sehen, aber dennoch einen Beitrag leisten können. Dazu zählen auch die Bürgerinnen und Bürger, die über Beteiligungsformate und niedrigschwellige Angebote in den Prozess involviert werden können und durch Partizipation Sicherheit erschaffen und erfahren. Fazit Das Projekt KoSID bildet ein gelungenes Praxisbeispiel in der Gesamtschau des übergeordneten Projekts „Sicherheit in der Stadt“. Die gesammelten Erkenntnisse fügen sich in die Zielstellungen des Gesamtvorhabens ein, die Ursachen von kriminalitätsbezogenen Unsicherheitsgefühlen im öffentlichen Raum systematisch zu erfassen und die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung in Kommunen zu unterstützen. Ausgehend vom Grundverständnis einer an Gerechtigkeitsprinzipien ausgerichteten Verteilung von Sicherheit in der Stadt [6], speisen sich die im Projekt KoSID zur Anwendung gebrachten Maßnahmen überwiegend aus dem Handlungsrepertoire des SiBa-Werkzeugkastens und liefern damit einen weiteren Baustein zum Verständnis und der Ausgestaltung nachhaltiger Sicherheitsstrategien in deutschen Städten und Kommunen. Mit der Dr. Tim Lukas Akademischer Rat Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: lukas@uni-wuppertal.de Saskia Kretschmer, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: kretschmer@uni-wuppertal.de AUTOR*INNEN
