eJournals Transforming cities 8/1

Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0012
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2023
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Multiple Krisen als lokaler Stresstest

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2023
Rita Haverkamp
Ina Hennen
Anne-Marie Jambon
Marie Kaltenbach
Die Bewältigung der Corona-Pandemie ist ein Stresstest für Kommunen und lokale Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS), die hierbei mit zwei Herausforderungen konfrontiert sind: Wie kann zum einen die Akzeptanz von Maßnahmen in der Bevölkerung gestärkt werden und wie können BOS und Kommunen zum anderen ihre Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse der Krisensituation anpassen? Diesen Fragen stellt sich das BMBF-Verbundprojekt „Legitimation des Notfalls (LegiNot)“. Im Beitrag werden erste Zwischenergebnisse präsentiert.
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42 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Multiple Krisen als lokaler Stresstest Zur kommunikativen Herstellung von Akzeptanz am Beispiel der Corona-Pandemie Akzeptanz, BOS, Corona-Pandemie, Kommunen, Kommunikation, Krise Rita Haverkamp, Ina Hennen, Anne-Marie Jambon, Marie Kaltenbach Die Bewältigung der Corona-Pandemie ist ein Stresstest für Kommunen und lokale Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS), die hierbei mit zwei Herausforderungen konfrontiert sind: Wie kann zum einen die Akzeptanz von Maßnahmen in der Bevölkerung gestärkt werden und wie können BOS und Kommunen zum anderen ihre Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse der Krisensituation anpassen? Diesen Fragen stellt sich das BMBF-Verbundprojekt „Legitimation des Notfalls (LegiNot)“. Im Beitrag werden erste Zwischenergebnisse präsentiert. © Michael Hofmann auf Pixabay 43 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Im Krisenmodus Das 21. Jahrhundert steht bislang im Zeichen von Krisen. Charakteristisch sind ihre zeitliche und räumliche Entgrenzung, ihr globales Auftreten und die Verflechtung verschiedener Krisenphänomene. In der Literatur wird daher von multiplen Krisen gesprochen, die durch die Komplexität der Problemlagen und ihre Dynamik zu Überforderung führen [1]. In den letzten Jahren haben nicht nur die Corona-Pandemie, sondern auch andere Krisen mit ihren Kaskadeneffekten (zum Beispiel: Ukraine- Krieg 2022 unter anderem einhergehend mit Energiekrise) Kommunen sowie BOS belastet und häufig überlastet. Die Corona-Pandemie als globale Krise muss lokal bewältigt werden und die Effektivität der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung hängt dabei maßgeblich von der Kooperation der Bevölkerung ab. Grundlage hierfür bilden das Vertrauen in staatliche Institutionen und die Akzeptanz von Maßnahmen, was beispielhaft Bild 1 mit der Entwicklung der Akzeptanz von Maßnahmen und des Vertrauens in Gesundheitsinstitutionen im Vergleich zu den Inzidenzen von März 2020 bis einschließlich August 2022 veranschaulicht. Die Bewältigung einer Pandemie erfordert von Kommunen und BOS somit die Herstellung und Aufrechterhaltung von Akzeptanz in der Bevölkerung sowie eine entsprechende Krisenkommunikation. Akzeptanz in der Bevölkerung durch Verfahrensgerechtigkeit Krisensituationen wie die Corona-Pandemie bringen einen Wandel der Sicherheitsgewährleistung mit sich. Staatliche Eingriffe in Grundrechte erfordern eine besondere Sensibilität seitens der Sicherheitsbehörden und bedürfen einer vorausgegangenen Legitimierung. Vor dem Hintergrund multipler Krisen ist daher eine differenzierte empirische Beschäftigung mit Legitimitätsanforderungen an Sicherheitsakteure in Ausnahmesituationen angezeigt: beispielsweise die Frage nach der Akzeptanz von Freiheitseinschränkungen durch die Bevölkerung in der Corona-Pandemie. Im Fokus der Theorie der Verfahrensgerechtigkeit (procedural justice theory) steht die Frage nach den Voraussetzungen für die Befolgung von Regeln und warum Menschen Anordnungen von Sicherheitsakteuren freiwillig nachkommen. Ein Schlüsselfaktor für die Akzeptanz von Regelungen und Maßnahmen stellt dabei die Legitimität der diese vollziehenden Behörden dar. Die Frage ist, welche Faktoren die Herstellung von Legitimität bei BOS in interaktiven Prozessen begünstigen oder beeinträchtigen. Das Konzept geht davon aus, dass die Art und Weise der zwischenmenschlichen Kommunikation von Sicherheitsakteur*innen und Bürger*innen das Entstehen von Legitimität beeinflusst [2]. Aus Studien 2000 1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 Inzidenz 2020 - 2022 7 6 5 4 3 2 1 03. Mär 05. Mai 23. Jun 10. Aug 21. Sep 02. Nov 08. Dez 17. Dez 27. Dez 06. Jan 15. Jan 24. Jan 02. Feb 11. Feb 20. Feb 01. Mär 10. Mär 19. Mär 28. Mär 06. Apr 15. Apr 24. Apr 03. Mai 12. Mai 21. Mai 30. Mai 08. Jun 17. Jun 26. Jun 07. Jul 20. Jul 02. Aug 13. Aug 26. Aug 08. Sep 19. Sep 30. Sep 13. Okt 26. Okt 08. Nov 19. Nov 02. Dez 15. Dez 11. Jan 24. Jan 04. Feb 17. Feb 02. Mär 15. Mär 29. Mär 11. Apr 25. Apr 06. Mai 19. Mai 02. Jun 29. Jun 12. Jul 25. Jul 05. Aug 18. Aug Inzidenz Vertrauen in Gesundheitsinstitutionen Maßnahmen übertrieben finden Vertrauen: 1 (sehr wenig) bis 7 (sehr viel) Maßnahmen: 1 (angemessen) bis 7 (sehr übertrieben) Bild 1: Entwicklung der Akzeptanz von Maßnahmen und des Vertrauens in Gesundheitsinstitutionen während der Corona-Pandemie im Vergleich zu den Inzidenzen. Gesundheitsinstitutionen: RKI, BZgA, BMG, Gesundheitsministerien der Länder. Selbst erstellte Grafik nach Angaben des RKI zu den Inzidenzen und nach Daten der Cosmo-Studie. © Haverkamp et al. 44 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen ergibt sich, dass Autoritätspersonen unter anderem durch eine faire Behandlung ihres Gegenübers Legitimität schaffen können [3]. Den Grundstein für eine als verfahrensgerecht wahrgenommene Kommunikation legen vier Kernelemente: die neutrale, unvoreingenommene Einstellung, die Möglichkeit zur Meinungsäußerung, Respekt und Vertrauenswürdigkeit. Die Legitimität von Sicherheitsbehörden steht damit als Voraussetzung für eine freiwillige Befolgung durch Bürger*innen. Die Grundannahmen der Theorie lassen sich auf Krisenlagen übertragen, so dass in solchen Situationen ein hohes Vertrauen in Sicherheitsakteure zu größerer Akzeptanz und zur Einhaltung von möglicherweise neu eingeführten Notfallmaßnahmen führen könnte. Sich fair verhaltende BOS sollten in Ausnahmesituationen folglich mehr Kooperation in der Bevölkerung erreichen. Fraglich ist jedoch, inwiefern diese Annahme in dynamischen und lang anhaltenden Krisen zutrifft, in denen sich Regeln schnell ändern und das allgemeine Verständnis der Bevölkerung für die vielfältig ausgestalteten und kurzfristig anberaumten Maßnahmen schwindet. Wie ist es um die Verfahrensgerechtigkeit bestellt, wenn der Vertrauensvorschuss, der Politik und Sicherheitsbehörden zugestanden wird, verloren geht? Antworten hierauf sind bedeutsam für den Umgang von Sicherheitsakteuren mit der Bevölkerung in unsicheren Zeiten. Im kriminologischen Teilprojekt von LegiNot werden die Annahmen der procedural justice theory in Deutschland unter Krisenbedingungen getestet. In einer Onlinevignettenstudie werden den Befragten mehrere Szenarien über verfahrens(un)gerechte Interaktionen mit verschiedenen Sicherheitsakteuren zur subjektiven Bewertung vorgelegt. Ziel ist es, Empfehlungen für BOS zu entwickeln, wie das eigene Verhalten in der wechselseitigen Interaktion mit der Bevölkerung deren Legitimität fördern kann. Akzeptanz im Kontext organisationaler Entscheidungen In Krisensituationen müssen BOS und Kommunalverwaltungen Regeln durchsetzen und für Sicherheit sorgen. Bei diesen Akteuren löste die Corona- Pandemie auch eine starke Selbstbetroffenheit aus. Infektionsschutzmaßnahmen beispielsweise müssen innerhalb der Organisationen zur Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit umgesetzt werden. Der Krisen anhaftende hohe Zeit- und Handlungsdruck zeigte sich insbesondere zu Beginn der Corona-Pandemie, als die Kommunen und BOS die Corona-Landesverordnungen in praktisch umsetzbare Maßnahmen, nach einer Interviewperson aus einem Gesundheitsamt „in die Welt von Normalsterblichen“, übersetzen mussten. Krisen setzen Handlungsroutinen außer Kraft und erfordern schnelle Entscheidungen. In den Akutphasen der Corona-Pandemie bedienten sich Kommunen und BOS hierzu verschiedener Krisenmanagementstrukturen. Integraler Bestandteil des Krisenmanagements ist die Krisenkommunikation. Diese soll das Vertrauen in eine Organisation und deren Glaubwürdigkeit gewährleisten und zielgruppenorientiert ausgelegt sein [4]. Um die Legitimität des Handelns der Organisationen aufrechtzuerhalten, bedarf es demgemäß einer Krisenkommunikation, bei der die Bevölkerung die Maßnahmen als Teil der Lösung der Krise anerkennt [5]. Zu Beginn der Pandemie waren Entscheidungen mit Rücksicht auf die öffentliche Gesundheit relativ unstrittig, doch mit Ausweitung der Pandemie drängten immer mehr Akteure auf Mitsprache bei der Auswahl der Mittel zur Krisenbewältigung [6]. Erste Zwischenergebnisse aus unserer qualitativen Studie zu Kommunikations- und Entscheidungsprozessen während der Pandemie zeigen, dass Kommunen und BOS anfangs auf die Konzentrierung von Entscheidungen auf wenige Köpfe setzten. Dabei verwiesen Interviewpersonen aus der kommunalen Verwaltung auf die Gefahr, hierdurch die Legitimität von Entscheidungen langfristig zu gefährden. Unserer Studie zufolge griffen Behörden bereits in den akuten Phasen der Pandemie auf Strategien zurück, um dem drohenden Akzeptanzverlust durch Beteiligung entgegenzuwirken. Betroffene Gruppen und ihr Wissen wurden aktiv in Entscheidungsprozesse einbezogen, indem kommunale Entscheidungsträger*innen unter anderem Vertreter*innen aus der Wirtschaft, dem Kulturbereich oder aus Sportvereinen anhörten. Das dialogische Vorgehen mit der Bevölkerung erwies sich dabei nicht nur als notwendiger Wissenszugewinn, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Vielmehr war es laut einer weiteren Interviewperson auch „dem sozialen Frieden in einer schwierigen gesellschaftlichen Situation“ zuträglich. Nicht immer eignen sich jedoch staatliche Akteure zur Vermittlung von Maßnahmen an bestimmte Zielgruppen. So verfügen Multiplikator*innen aus der Zivilgesellschaft in bestimmten Bevölkerungsgruppen über einen Vertrauensvorschuss und erweisen sich als Türöffner*innen zur Akzeptanz behördlicher Maßnahmen. Krisenkommunikation setzt somit eine Sensibilität für die Kulturen verschiedener Bevölkerungsgruppen voraus [7]. 45 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Ausblick Vertrauen in staatliche Institutionen, das die Akzeptanz für freiheitseinschränkende Maßnahmen in Krisen fördert, ist ein wichtiger Klebstoff für unsere Demokratie und unentbehrlich für die Bewältigung von Krisen. Diese Akzeptanz versuchen Kommunen und BOS herzustellen, indem einerseits Sicherheitsakteure einen respektvollen Umgang mit den Bürger*innen pflegen und andererseits Einrichtungen eine offene und transparente Krisenkommunikation innerhalb der jeweiligen Organisation und gegenüber der Bevölkerung verfolgen. Bislang liegen hierzulande jedoch kaum Erkenntnisse zur Herstellung und Gewährleistung von Akzeptanz in Krisensituationen vor. Diesem Defizit möchte das noch am Anfang stehende BMBF-Verbundprojekt LegiNot abhelfen. Bereits eine während der Corona-Pandemie entwickelte, praxisnahe Herangehensweise steht mit dem sogenannten „4-Es-Ansatz“ („Engagement“, „Explanation“, „Encouragement“, „Enforcement“) aus England zur Verfügung, der das Vertrauen in die Polizei und damit die Kooperation in der Bevölkerung erhöhen soll [8]. Dieser Ansatz könnte Impulse für BOS und Kommunen zur Weiterentwicklung ihrer unterschiedlichen Kommunikationsstrategien enthalten. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass bewährte Bewältigungsstrategien sowohl in anderen Krisen übernommen werden als auch über den Krisenmodus hinaus bestehen bleiben könnten. Der Artikel basiert auf ersten Forschungen im Verbundprojekt „Legitimation des Notfalls - Legitimationswandel im Notfall (LegiNot)“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Bekanntmachung „Zivile Sicherheit - Gesellschaften im Wandel“ für drei Jahre (2022 - 2025) gefördert wird. Das interdisziplinäre Projekt zielt darauf ab, eine systematische Analyse des Covid-19-Pandemiegeschehens als dynamische Notfalllage vorzulegen und über die Pandemie hinaus gültiges Orientierungswissen für den Umgang mit ausgedehnten Krisenlagen zu entwickeln. Das Projektkonsortium besteht aus der Universität Tübingen als Verbundkoordination (Prof. Dr. Rita Haverkamp, Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement), der Universität Bielefeld (Prof. Dr. Christoph Gusy, Lehrstuhl für öffentliches Recht) und der Universität Freiburg (Prof. Dr. Stefan Kaufmann, Centre for Security and Society). Weitere Informationen unter: https: / / www.leginot.de/ Prof. Dr. Rita Haverkamp Stiftungsprofessorin Universität Tübingen Juristische Fakultät, Lehrstühle Strafrecht Kontakt: rita.haverkamp@uni-tuebingen.de Ina Hennen Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Tübingen Juristische Fakultät, Lehrstühle Strafrecht Kontakt: ina.hennen@uni-tuebingen.de Anne-Marie Jambon Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Tübingen Juristische Fakultät, Lehrstühle Strafrecht Kontakt: anne-marie.jambon@uni-tuebingen.de Marie Kaltenbach Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Tübingen Juristische Fakultät, Lehrstühle Strafrecht Kontakt: marie.kaltenbach@uni-tuebingen.de AUTORINNEN LITERATUR [1] Brand, U.: Die Multiple Krise: Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik. Berlin, (2009) S. 1. [2] Tyler, T.: Procedural Justice, Legitimacy, and the Effective Rule of Law. Crime and Justice 30(1), (2003) S. 283 - 357. [3] Sunshine, J., Tyler, T. R.: The role of procedural justice for legitimacy in shaping. Law & Society Review 37 (3), (2003) S. 513 - 548. [4] Bundesministerium des Inneren: Leitfaden Krisenkommunikation. Berlin, (2014) S 13. [5] Jäger, T.: Strategische Führung in Krisen. In: Jäger, T., Daun, A., Freudenberg, D. (Hrsg.): Politisches Krisenmanagement: Wissen, Wahrnehmung, Kommunikation. Berlin, (2016) S. 7. [6] Boin, A., McConnell, A., t ‘Hart, P.: Governing the Pandemic: The Politics of Navigating a Mega-Crisis. Basingstoke, (2021) S. 54. [7] Taylor, S.: Die Pandemie als psychologische Herausforderung: Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement. Gießen, (2020) S. 124. [8] Aitkenhead, E., Clements, J., Lumley, J., Muir, R., Redgrave, H., Skidmore, M.: Policing the Pandemic. London, 2022.