eJournals Transforming cities 8/1

Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0015
36
2023
81

Hochwasser und die Modellierung Kritischer Infrastrukturnetzwerke

36
2023
Roman Schotten
Daniel Bachmann
Hochwasser (HW) haben neben Konsequenzen für Mensch und Gesundheit und ökonomischen Folgen auch erheblichen Einfluss auf die kritische Infrastruktur (KRITIS) und deren Dienstleistungen. KRITIS ist in engmaschigen Netzen organisiert, in denen einzelne Ausfälle zu Kaskadeneffekten oft mit weitreichenden Folgen führen. KRITIS-Netzwerk-Modellierungen helfen dabei, Ausfälle, ausgelöst durch HW, zu überblicken, zu quantifizieren und Maßnahmen zu planen. Datenverfügbarkeit und limitierte intersektorielle Zusammenarbeit sind wesentliche Voraussetzungen dafür, KRITIS-Netzwerke zu modellieren und die Vorteile greifbar zu machen.
tc810056
56 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Hochwasser und die Modellierung Kritischer Infrastrukturnetzwerke Chancen und Herausforderungen für Hochwasserschutzmaßnahmen im Bereich der KRITIS-Versorgung Kritische Infrastruktur, Hochwasser, Hochwasserrisiko, Kaskadeneffekte, Netzwerkanalyse, modellbasiert Roman Schotten, Daniel Bachmann Hochwasser (HW) haben neben Konsequenzen für Mensch und Gesundheit und ökonomischen Folgen auch erheblichen Einfluss auf die kritische Infrastruktur (KRITIS) und deren Dienstleistungen. KRITIS ist in engmaschigen Netzen organisiert, in denen einzelne Ausfälle zu Kaskadeneffekten oft mit weitreichenden Folgen führen. KRITIS-Netzwerk-Modellierungen helfen dabei, Ausfälle, ausgelöst durch HW, zu überblicken, zu quantifizieren und Maßnahmen zu planen. Datenverfügbarkeit und limitierte intersektorielle Zusammenarbeit sind wesentliche Voraussetzungen dafür, KRITIS-Netzwerke zu modellieren und die Vorteile greifbar zu machen. In unserer modernen Welt sind wir es gewohnt, dass beispielsweise Strom oder Wasser fast immer und überall vorhanden sind und Telekommunikation jederzeit möglich ist. Dafür sorgen die Kritischen Infrastrukturen (KRITIS), die die Lebensadern unserer modernen Gesellschaft bilden. In normalen Zeiten © Markus Distelrath auf Pixabay funktionieren kritische Infrastrukturen in Deutschland sehr zuverlässig; Krisenzeiten und Extremereignisse hingegen decken Schwächen im System auf. Hochwasserereignisse aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass die Versorgung durch kritische Infrastruktur und und deren Bereitstellung 57 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Versorgungsausfall die Funktionsfähigkeit anderer Sektoren ein oder verhindert diese vollständig. Ein Beispiel zeigt Bild 1, wenn ein Stromausfall zur Disruption von Telekommunikationsanlagen führt, was beides wiederum zur Funktionsunfähigkeit von Wasseraufbereitungsanlagen führt. In einem solchen Fall ist die Zivilbevölkerung gleich mehrfach betroffen. Das Beispiel zeigt auch, wie die Disruption eines anliegenden Telekommunikationsmasts durch eine redundante Verbindung mit einem weiteren höher liegenden Umspannwerk vermieden werden könnte. Während des Hochwassers in Magdeburg im Jahr 2013 wurde für das Umspannwerk in Rothensee ein solcher Kaskadeneffekt befürchtet. Unter enormen Anstrengungen wurde das Umspannwerk mit Sandsäcken vor eindringendem Wasser geschützt. Denn das Umspannwerk war unter anderem verantwortlich für die Energieversorgung von Hochwasserentlastungspumpen, die das Wasser aus der Innenstadt fernhielten. Ein Ausfall der Stromversorgung hätte so zu erheblichen Folgen für die Innenstadt geführt. Modellierung von KRITIS -Netzwerken Eine Herausforderung, der sich die Forschungsarbeit im Bereich Hochwasser und KRITIS derzeit stellt, ist die Identifizierung und Abbildung solcher potenzieller Kaskadeneffekte für verknüpfte KRITIS- Sektoren. Um die komplexen Interaktionen der KRI- TIS-Elemente und ihre Kaskaden zu quantifizieren, werden Ansätze entwickelt, die aus einer Kombination von numerischer Modellierung des Hochwassers und und einem KRITIS-Netzwerkmodell bestehen. Mit Hilfe von Informationen und Daten werden KRI- TIS-Versorgungspunkte, Verbindungen und dazugehörige Versorgungsflächen in einem schematischen Netzwerkmodell zusammengesetzt. Modelle sind ein vereinfachtes Abbild der Natur mit dem Vorteil, dass unterschiedliche Randbedingungen oder Maßnahmen leicht getestet, analysiert und bewertet Bild 1: Ausschnitt eines fiktiven Versorgungsnetzwerks zur Versorgung einer dörflichen und städtischen Siedlung. Ein am Fluss gelegenes Umspannwerk (rot umkreist) gibt einen Ausfall durch Hochwasser an weitere Elemente anderer Sektoren weiter. Funktionsfähige Elemente sind grün umrandet. © Schotten von zentraler Wichtigkeit ist. Ein Beispiel sind die Schwierigkeiten bei der Versorgung durch KRITIS im Ahrtal nach den Hochwasserereignissen 2021. Über Wochen und Monate gab es Ausfälle und auch Ende 2022 ist eine komplette Wiederherstellung noch nicht erreicht. Die Effekte zu Auswirkungen des Hochwassers auf kritische Infrastrukturelemente sorgten für den Ausfall von Transportwegen, Telekommunikation, Strom-, Wasser- und Energieversorgung. Diese Ausfälle sind dabei nicht gleichmäßig an einem Ort zu finden, sondern können sich entsprechend der Versorgungsnetzgestaltung unterschiedlich und für jedes Gebiet individuell verteilen. Daraus ergeben sich Herausforderungen für die Planung von Versorgungsnetzen, aber auch für die akute Krisenbewältigung in hochwassergefährdeten Lagen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich aufgrund der EU-Hochwasserrahmenrichtlinie ein strukturiertes Vorgehen für ein Hochwasserrisikomanagement in Europa etabliert: Hochwassergefahrenkarten, Hochwasserrisikokarten und Hochwasserrisikomanagementpläne sind seitdem gesetzlich vorgeschrieben und werden entsprechend entwickelt und aktualisiert. So werden technische Maßnahmen wie Deiche oder Talsperren, die Stärkung des natürlichen Wasserrückhalts und Hochwasservorsorgemaßnahmen unterstützt. Kritische Infrastrukturen bilden dabei jedoch noch eine untergeordnete Rolle. Liegen beispielsweise Einrichtungen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder kritische Versorgungsinfrastrukturen im Überflutungsgebiet? In der Wissenschaft werden daher Ansätze gefordert und entwickelt, um die systemische Versorgungsleistung von KRITIS im Rahmen von Hochwasserrisikoanalysen, aber auch anderen Gefährdungsereignissen besser beurteilen zu können [1, 2]. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe unterscheidet die KRITIS-Sektoren in Energie, Ernährung, Finanz- und Versicherungswesen, Gesundheit, Informationstechnik und Telekommunikation, Medien und Kultur, Siedlungsabfallentsorgung, Staat und Verwaltung, Transport und Verkehr sowie Wasser. Die Funktionsfähigkeit der kritischen Infrastrukturen ist in diesem System von KRITIS-Sektoren mit einer Reihe von Abhängigkeiten organisiert, die ein Netzwerk bilden. Einen Einblick in die Verflechtung und Vielfalt dieser Netzwerke erhält man schon bei einem Blick auf die Versorgungsleitungen unter der Straßenoberfläche (Bild 1). Die Abhängigkeiten dieser Sektoren untereinander können im Falle einer Disruption, wie zum Beispiel durch Hochwasser, für eine kaskadenartige Folge von Ausfällen sorgen. Dann schränkt der 58 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen werden können. Eine Modellierung bietet sich also auch bei KRITIS-Netzwerken an. Für die modellbasierte Darstellung eines KRITIS-Netzwerkes muss zunächst der Detaillierungsgrad des Netzwerkes im Modell passend zur Fragestellung festgelegt werden. Das Stromversorgungsnetz muss nicht zwangsläufig bis zum Haushaltsanschluss abgebildet sein, sondern auch eine Darstellung auf Ebene der Umspannwerke kann von hinreichender Genauigkeit sein. Um ein Netzwerk abzubilden, sind neben der Lage und Funktionsweise der Netzwerkversorgung weitere Kennzahlen und Prozessinformationen wichtig: Welche Redundanz haben einzelne Elemente? Wie viele Verbraucher sind an Strukturen angeschlossen? Wie lang dauert es, eine beschädigte Struktur instand zu setzen? Ab welchem Wasserstand ist eine Funktion nicht mehr oder nur eingeschränkt möglich? Die Beantwortung dieser Fragen benötigt partizipative Ansätze mit Vertretern aller KRITIS-Sektoren und Behörden, um ein umfassendes und multi-sektorielles Netzwerkmodell erstellen zu können. Neben den verschiedenen Anlaufstellen für die individuellen Sektoren besteht eine weitere Herausforderung in der Daten- und Informationsbeschaffung. KRITIS-Daten und Informationen sind aus datenschutzrechtlicher Sicht nicht verfügbar oder nur schwer von KRITIS-Betreibern zu bekommen. Gründe dafür sind die Sensibilität von Nutzerdaten, das Gefahrenpotenzial solcher Daten in den falschen Händen, aber auch die Bewahrung von Betriebsgeheimnissen der KRITIS-Betreiber. Es gilt jedoch: Je besser die Datenlage, umso höher die Chance, ein qualitativ hochwertiges und aussagekräftiges Modell erstellen zu können und die Möglichkeiten, die im Bereich der Netzwerkmodellierung bestehen, zu heben und zu validieren. Für die Zukunft ist zu empfehlen, dass sich Behörden für organisierte Zusammenarbeit verschiedener KRITIS-Betreiber vor dem Hintergrund von Extremwetterereignissen und der Datenverfügbarkeit engagieren. Für vergangene Katastrophenfälle sollten in klar abgesteckten Zeiträumen und Gebieten Datensätze zusammengetragen werden, die verschiedene Sektoren und ihre Ausfälle parallel darstellen. Des Weiteren wird der verstärkte Datenaustausch zwischen KRITIS-Betreibern und Ersteinsatzkräften im Katastrophenfall mit Berücksichtigung der Nutzeranonymisierung empfohlen. Eingangsdaten und Modellergebnis Der an der Hochschule Magdeburg-Stendal entwickelte Modellierungsansatz ist anhand von Modellen in Accra und der Weißen Volta in Ghana sowie in Teheran, Iran oder auch in Stolberg bei Aachen getestet, plausibilisiert und erweitert worden [2]. Bild-2 zeigt das Untersuchungsgebiet in Accra inklusive der KRITIS-Elemente verschiedener Sektoren und ihrer zugehörigen Verbindungen. Als Eingangsdaten für eine erste Modellversion sind Daten aus der OpenStreetMap Datenbank verwendet worden. Diese Modellversion wurde in bilateralen Gesprächen mit lokalen Experten aller KRITIS-Sektoren weiterentwickelt. In einem finalen Iterationsschritt der Modellerstellung wurden Vertreter aller berücksichtigten Sektoren gemeinsam eingeladen, um die letzten Detailinformationen hinzuzufügen und das bisherige Modellgerüst zu validieren. Das Modell wird genutzt, um den aktuellen Ist-Zustand für das Hochwasserrisiko der KRITIS-Elemente anhand der Personenzahl multipliziert mit der Dauer der Ausfälle von KRITIS in Accra zu identifizieren. Damit kann auf besonders gefährdete Elemente hingewiesen werden, die ein hohes Potenzial haben, Kaskadeneffekte auszulösen. Bild 2 zeigt einen Ausschnitt aus dem Untersuchungsgebiet in Accra und die Verteilung von Telekommunikationsmasten sowie die stromversorgenden Umspannwerke. Rot überlagerte Icons deuten auf ausgefallene Infrastrukturelemente hin. Die schraffierten Polygone zeigen dann die Bereiche des Telekommunikationssektors an, die durch ein Hochwasserszenario abgeschnitten sind. Dieses Beispiel zeigt, wie sich die Einwirkung von Hochwasser direkt auf ein Umspannwerk und indirekt auf die Telekommunikationsversorgung auswirkt, also von einem in den nächsten Sektor kaskadiert. Diese Dynamik ist in dem Modell für weitere voneinander abhängige Sektoren zu beobachten. Neue Hochwasserschutzmaßnahmenmöglich durch berücksichtigung der KRITIS Netzwerke Nach der Beschreibung des Ist-Zustandes können im Modell verschiedene Anpassungsmaßnahmen getestet werden. Grundsätzlich bietet sich ein Bild 2: Übersicht des KRITIS-Netzwerkmodells nach Sektoren aufgeschlüsselt für das Untersuchungsgebiet Accra, Ghana. © Roman Schotten Hintergrund: ESRI Satellite (ArcGIS - World_Imagery), Input Daten: Roman Schotten & map data copyrighted OpenStreetMap contributors and available from https: / / www.openstreetmap.org 59 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen breites Spektrum an, um das Hochwasserrisiko zu verändern und die möglichen Konsequenzen für KRITIS-Nutzer gering zu halten. Zum einen können die bereits erwähnten „klassischen“ Hochwasserschutzmaßnahmen geprüft werden; zum anderen wird eine Analyse von neuen Maßnahmentypen, die das KRITIS-Versorgungsnetz stärken, möglich. Beispiele sind mehr redundante Verbindungen im Netz, Schutz oder Verlegung von betroffenen Elementen oder die Anschaffung von Notfallstrukturen wie Generatoren. Damit wird wird ein neuer Typ von Maßnahmen dem aktiven Hochwasserrisikomanagement hinzugefügt. Auch klimatische Veränderungen können durch solche Modelle evaluiert werden. Eine Veränderung durch den Klimawandel kann über Faktoren für die Niederschlagsmengen und damit schließlich auf die Hochwasserabflüsse berücksichtigt werden. Zum einen erlaubt dies eine Aussage über die Hochwasserkonsequenzen in verschiedenen möglichen Klimawandelszenarien, zum anderen die Prüfung der Wirksamkeit von Maßnahmen in einem vom Klimawandel betroffenen Untersuchungsgebiet. Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass KRITIS- Netzwerk-Modellierungen großes Potenzial haben, die Infrastruktur auf Hochwasser vorzubereiten, den möglichen Handlungsspielraum durch weitere Maßnahmen zu vergrößern und mit den KRITIS- Betreibern weitere Akteure in das Thema Hochwasserrisikomanagement einzubeziehen. KRITIS- Netzwerkmodelle berücksichtigen nicht nur die individuelle Versorgungsleistung eines Elements, sondern ziehen die Funktion und Auswirkung auf weitere Sektoren mit in Betracht. Im Zuge eines sich verändernden Klimas und der steigenden Anzahl prognostizierter Extremwetterereignisse ist dies eine lohnende Perspektive, die uns umgebende Infrastruktur systemischer wahrzunehmen. Zudem hat die Zusammenarbeit individueller KRITIS-Sektoren vor dem Hintergrund des Hochwasserrisikomanagements auch einen Mehrwert für andere Krisenereignisse, die unsere Versorgungssysteme unter Stress setzen. Beispiele solcher Krisen sind andere Arten von Naturkatastrophen, Pandemien, physische oder Cyber-Angriffe. Diese Forschungsarbeit wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Zuge des Forschungsprojekts PARADeS („Participatory assessment of flood disaster prevention and development of an adapted coping system in Ghana“) gefördert. LITERATUR [1] Kuhlicke, C., Albert, C., Bachmann, D., Birkmann, J., Borchardt, D., Fekete, A., Greiving, S., Hartmann, T., Hansjürgens, B., Jüpner, R., Kabisch, S., Krellenberg, K., Merz, B., Müller, R., Rink, D., Rinke, K., Schüttrumpf, H., Schwarze, R., Teutsch, G. et al.: Fünf Prinzipien für klimasichere Kommunen und Städte, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, 2021. [2] Schotten, R., Bachmann, D.: Critical Infrastructure Network Modelling for Flood Risk Analysis: Approach and Proof of Concept in Accra, Ghana, Journal of Flood Risk Management (in Revision), vol. TBA, 2023. [3] Bachmann, D.: ProMaIDes - Knowledge Base, 2022. https: / / promaides.myjetbrains.com (Letzter Zugriff: 7.1.2023). Dipl.-Ing. Roman Schotten Wissenschaftlicher Mitarbeiter Arbeitsgruppe Hochwasserrisikomanagement Hochschule Magdeburg-Stendal Kontakt: roman.schotten@h2.de Prof. Dr.-Ing. Daniel Bachmann Hochschule Magdeburg-Stendal Kontakt: daniel.bachmann@h2.de AUTOREN Bild 3: Rot markierte Telekommunikationsmasten werden direkt und indirekt von Hochwasser betroffen. Rot markierte und betroffene Umspannwerke leiten Ihren Ausfall ebenfalls an Telekommunikationsmaster weiter und sind mit gelbem Pfeil markiert. Der Ausfall der Telekommunikation in der Fläche wird von den schraffierten Gebieten markiert. © Roman Schotten Hintergrund: ESRI Satellite (ArcGIS - World_Imagery) Input Daten: Roman Schotten & map data copyrighted OpenStreetMap contributors and available from https: / / www.openstreetmap.org