Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0020
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2023
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Digitale Risikotreiber in Smart Cities
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2023
Ulrich Ufer
Sadeeb Simon Ottenburger
Resiliente Stadtplanung muss schädliche oder kritische Umweltbedingungen und drohende Gefahren erkennen, um sie zu reduzieren oder sogar zu verhindern. Das Idealbild einer Smart City ist, mit diesem Ziel möglichst viele Dienstleistungen, Ressourcennutzungen und Interaktionen zu digitalisieren. Allerdings zeigt ein historisch vergleichender Blick auf urbane Risikotreiber, dass ein stetiger Anstieg der Nutzerinnen und Nutzer wie auch der eingesetzten technischen Geräte innerhalb einer im Grunde endlichen und dadurch immer stärker belasteten Infrastruktur zu langfristigen Schäden systemischen Ausmaßes beitragen kann.
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78 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Wir betrachten hier nicht bereits manifeste und messbare urbane Risiken, sondern wir wollen die Risikoentwicklung bzw. Risikoevolution in Smart Cities betrachten. Dazu stellen wir unsere Konzeption von systemischen Risikotreibern vor, die den bereits manifesten und im Sinne der klassischen Risikodefinition klassifizierbaren Risiken zeitlich vorgelagert sind. Im Kontext von Smart Cities und urbaner Digitalisierung werden wir die spezifische Risikotreiberin digitale Massifizierung betrachten, die sich derzeit in einer fortschreitenden Entwicklung befindet, jedoch zugleich noch im blinden Fleck langfristiger Governance-Betrachtungen für Smart Cities liegt. 2 Digitale Risikotreiber in Smart Cities Ein neues regulatorisches Anforderungsfeld Urbane Resilienz, Smart City, Risikotreiber, Risikoevolution, digitale Massifizierung Ulrich Ufer, Sadeeb Simon Ottenburger 1 Resiliente Stadtplanung muss schädliche oder kritische Umweltbedingungen und drohende Gefahren erkennen, um sie zu reduzieren oder sogar zu verhindern. Das Idealbild einer Smart City ist, mit diesem Ziel möglichst viele Dienstleistungen, Ressourcennutzungen und Interaktionen zu digitalisieren. Allerdings zeigt ein historisch vergleichender Blick auf urbane Risikotreiber, dass ein stetiger Anstieg der Nutzerinnen und Nutzer wie auch der eingesetzten technischen Geräte innerhalb einer im Grunde endlichen und dadurch immer stärker belasteten Infrastruktur zu langfristigen Schäden systemischen Ausmaßes beitragen kann. 1 Beide Autoren haben mit gleichem Anteil zu diesem Aufsatz beigetragen. © Gerd Altmann auf Pixabay 2 Eine umfassendere Version der hier dargelegten Argumentation wurde publiziert in der Zeitschrift Risk Analysis: http: / / doi.org/ 10.1111/ risa.14102 79 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Digitale Massifizierung Die wissenschaftliche Literatur befasst sich nur sehr eingeschränkt mit Treibern systemischer Risiken, wenn überhaupt finden wir dazu Spuren in der Finanz- und Gesundheitsforschung [1, 2]. Generell fehlt ein analytischer Ansatz, um inkrementelle, schleichende und kontinuierliche Verschlechterungsprozesse innerhalb einer langfristigen Risikoevolution in den Blick zu nehmen, die gerade aufgrund dieser Merkmale von gesellschaftlichen Gewöhnungs- und Anpassungsphänomenen über mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte begleitet wird. Allerdings kann diese ungehinderte Risikoevolution schließlich eine Risikoschwelle überschreiten, also zur Risikotransition führen. Ist diese Schwelle überschritten, dann entfalten bislang als einzelne Unannehmlichkeiten oder Komfortverluste wahrgenommene Phänomene schließlich ihre Eigenschaften als manifeste Risiken mit potenziell auch systemischen Auswirkungen. Abstrakt betrachtet ist der evolutionäre Langzeitprozess von Risikoevolution in Smart Cities also die stetige und unregulierte Zunahme von Marktteilnehmern, Verbrauchern und Internet of Things (IoT)-Geräten bzw. -Anwendungen (Bild 1). Massifizierung im Straßenverkehr Eine kurze historische Analogie zwischen Stauphänomenen im Straßen- und Datenverkehr vermag die sich anbahnenden Risiken der digitalen Massifizierung für Smart Cities zu verdeutlichen. Deutschland wird international als der Idealtyp einer autofreundlichen Gesellschaft angesehen. Intra- und interurbane Verkehrsinfrastrukturen wurden über Jahrzehnte kontinuierlich erweitert, dennoch hat aus systemischer Sicht die Massifizierungsdynamik das deutsche Straßen- und Autobahnsystem immer wieder an seine physikalischen Grenzen geführt, einhergehend mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Anpassung und Gewöhnung an den Stau: Nach gut drei quasi staufreien Jahrzehnten auf deutschen Autobahnen entstand im Jahr 1963 der erste registrierte Stau, die gesamte Staulänge in diesem Jahr betrug 33 km. Springen wir in das Jahr 2020: Trotz massiver Infrastrukturinvestitionen stößt das soziotechnische System „Straßenverkehr“ in Deutschland an seine Grenzen, da die Ressource Land zur Bereitstellung von Straßenraum im Wettstreit mit anderen Flächennutzungen begrenzt ist und die Anzahl der technischen Objekte in diesem System unreguliert angestiegen ist. Auf deutschen Autobahnen betrug die Staulänge im Jahr 2021 aufgrund der Zunahme von Fahrzeugen und Fahrern 850 000 km, es wurden rund 685 000 Stauereignisse gezählt, und die Deutschen verbrachten fast 350 .000 Stunden im Autobahnstau [3]. Dieser historische Fall ist in zweierlei Hinsicht lehrreich. Erstens veranschaulicht er den Prozess der Massifizierung eines soziotechnischen Systems Bild 1: Langfristige Risikoevolution in Smart Cities unter Einfluss der Risikotreiberin digitale Massifizierung hin zu einer Risikotransition. © Ottenburger, Ufer, 2023 [4] 80 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen mit anfänglich inkrementellen Verschlechterungen, schleichendem Komfortverlust und gesellschaftlicher Gewöhnung an daraus hervorgehende Unannehmlichkeiten aufgrund einer kontinuierlichen Zunahme von Nutzern und technischen Geräten in einem physisch begrenzten soziotechnischen System. Zweitens zeigt er, wie auf dieser Basis ungebremste Risikoevolution und schließlich Risikotransition zu direkten und systemischen Schäden führen können: Neben manifesten staubedingten gesundheitlichen Risiken stehen auch negative wirtschaftliche Auswirkungen von Staus, insbesondere in urbanen Kontexten, seit einigen Jahren im Fokus der internationalen Forschung [5, 6]. Massifizierung im Datenverkehr Auf Basis der rückblickend betrachteten Risikoevolution durch Massifizierung im Straßenverkehr können wir uns nun prospektiv unseren Überlegungen zur Risikoevolution in zukünftigen Smart Cities durch digitale Massifizierung und Datenstau zuwenden. Ähnlich wie Verkehrsteilnehmende und Fahrzeuge von Stau betroffen sind, können auch Datenpakete daran gehindert werden, rechtzeitig ihr Ziel zu erreichen. Gleich dem Straßenverkehr operiert auch der Datenverkehr innerhalb eines schlussendlich physisch begrenzten Systems. Und ebenso können Datenverkehrsstaus direkte und sekundäre Schäden auf Systemebene verursachen, wenn kritische Dienste betroffen sind. Dem Ausbau des Straßenverkehrssystems vergleichbar haben Steigerungen von Bandbreite, Rechenkapazität und andere technische Innovationen die physikalischen Grenzen von Volumen und Geschwindigkeit bei der Datenübertragung kontinuierlich verschoben: von den erstmals 1993 in Deutschland installierten und rasch als „Datenautobahn“ bezeichneten Glasfasernetzen hin zu aktuellen 5G- und zukünftigen 6G-Funktechnologien. Aber selbst die neuesten technologischen Innovationen stoßen an physikalische Grenzen, zum Beispiel an den Commodity-Switches, die mit begrenzter Rechenleistung zu Engstellen an Knotenpunkten des Datentransfers werden, oder im Falle baulicher Blockaden für Funkwellenübertragungen in einem sich verändernden Stadtbild. Laut einer Studie von Ericsson könnte die Gesamtzahl der mit dem Internet verbundenen Geräte weltweit bis zum Jahr 2050 24 Milliarden überschreiten [7]. Ganz offensichtlich generiert die stetige Zunahme an Marktteilnehmern, Verbrauchern und IoT-Geräten in Smart Cities immer größere Datenmengen und geht auch mit einer Zunahme datenintensiver Anwendungen einher, vollzieht sich allerdings schlussendlich ebenfalls innerhalb eines begrenzten physikalischen Systems. Bereits seit den ersten datenstaubedingten Zusammenbrüchen des Internets im Oktober 1986 arbeiten Netzwerkingenieure an dem auch 36 Jahre später weiterhin aktuellen Problem, die tolerierbare maximale Anzahl von Geräten für ein stabiles Netzwerk zu bestimmen und kontinuierlich zu erweitern. Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass die erwartete Zunahme von IoT-Geräten zu schweren Überlastungen führen kann und sogar ein hohes Risiko eines Zusammenbruchs durch Überlastung birgt [8]. Dies gilt insbesondere für datenintensive und zugleich latenzsensible kritische IoT-Anwendungen in Smart Cities, bei denen der unverzögerte und kontinuierliche Transfer von Datenpaketen entscheidend ist, bei denen aber zugleich die enorme Heterogenität von Geräten und Software hohe technische Komplexität verursacht. Als Beispiele seien hier das intelligente Transportwesen, die Telemedizin oder andere kritische Echtzeitdienste genannt, die nicht unter Störungen, Verzögerungen oder Datenstaus leiden dürfen. Neben der Netzkapazität sind somit auch niedrige Latenzzeiten zu einem wichtigen Quality-of-Service-Parameter für Smart Cities geworden [9]. Fazit Jüngste Trends in der Erforschung und Entwicklung verlässlicher Netzwerktechnik unterstreichen, dass unsere Analyse digitaler Massifizierung als Risikotreiberin für Smart Cities sehr konkrete und drängende Probleme in den Blick nimmt. Hier entsteht ganz eindeutig ein neues soziotechnisches regulatorisches Anforderungsfeld. Technikseitig stehen aktuell Verbesserungen bei Paketplanungsalgorithmen und -protokollen, Edge-Computing- Technologien oder Priority Queuing im Zentrum der Lösungsversuche, um die komplexen IoT-Systeme in Smart Cities vor Zusammenbrüchen zu schützen. Innovative Technologien zur Vermeidung von Verarbeitungs- und Warteschlangenverzögerungen beim Transfer von Datenpaketen gehen allerdings auch mit sozialen Fragen der Fairness einher, wenn zum Beispiel in Krisensituationen für die Aufrechterhaltung kritischer Infrastrukturen Auswahlkriterien zur Priorisierung des einen Teils der Netzteilnehmer greifen müssen, die gleichzeitig Komforteinbußen bzw. wirtschaftliche und weitere Benachteiligungen eines anderen Teils bedingen. Wir befinden uns derzeit in einer vergleichsweise frühen Phase der durch digitale Massifizierung vorangetriebenen Risikoevolution in Smart Cities. Diese Phase ähnelt der Phase früher Staus im Straßenver- 81 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen kehrssystem, als Massifizierung und bevorstehende Risikotransition noch nicht ersichtlich waren bzw. aufgrund von Gewöhnungseffekten noch nicht in das gesellschaftliche Bewusstsein und in regulatorische Maßnahmen vorgedrungen waren. Mit zunehmender Digitalisierung und der zu erwartenden weiteren Zunahme von Marktteilnehmern, Verbrauchern und IoT-Geräten in Smart Cities scheint die Risikotransition - der Übergang von einer risikotreibenden Dynamik hin zu manifesten und messbaren Risiken - aus unserer analytischen Perspektive nur eine Frage der Zeit zu sein. Erschwerend kommt hinzu, dass - im Gegensatz zum soziotechnischen System Straßenverkehr - weder eine Begrenzung der Anzahl von Marktteilnehmern und Nutzern durch Lizenzen oder Führerscheine, noch eine Begrenzung der Anzahl von Geräten durch ein TÜV-Äquivalent oder andere Qualitätskontrollen gegeben ist. Aktuell vollzieht sich die digitale Massifizierung in einem nahezu vollständig liberalisierten Markt für urbane Digitalisierung [10]. Und sie birgt potenziell systemische Gefahren [11], da digitale Infrastrukturen selbst das Rückgrat komplexer und hochgradig vernetzter kritischer Infrastruktursysteme, wie zum Beispiel urbane Smart Grids, in zukünftigen Smart Cities bilden werden. Die globale Covid-19-Pandemie hat zweifelsohne das Potenzial aufgezeigt, wie rasch sich Aktivitäten aus nicht-digitalen in digitale Bereiche verlagern können. Zugleich sind hier Überlastungseffekte der digitalen Netzwerke bereits deutlich hervorgetreten. Der liberale Smart City-Markt verspricht, reibungsfrei ablaufende, effizienzsteigernde und unkomplizierte Lösungen für urbane Herausforderungen durch ubiquitäre urbane Digitalisierung bereitzustellen. Eingedenk der hier angestellten Überlegungen zur digitalen Massifizierung sollte jedoch die mit urbaner Digitalisierung einhergehende Risikoevolution gesellschaftlich wahrgenommen und regulatorisch adressiert werden. Eine Sensibilisierung für systemische Risikoevolution scheint uns eine Grundvoraussetzung für den Aufbau resilienter Smart Cities zu sein. LITERATUR [1] Halden, R. U., Rolsky, C., Khan, F. R.: Time: A Key Driver of Uncertainty When Assessing the Risk of Environmental Plastics to Human Health. Environmental Science & Technology, acs.est.1c02580, 2021. https: / / doi.org/ 10.1021/ acs.est.1c02580 [2] Weiß, G. N. F., Bostandzic, D., Neumann, S.: What factors drive systemic risk during international financial crises? Journal of Banking & Finance, 41, (2014) S. 78 - 96. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.jbankfin.2014.01.001 [3] Statista: Themenseite: Straßen in Deutschland. Statista, 2022. https: / / de.statista.com/ themen/ 1199/ strassen-in-deutschland/ . [4] Ottenburger, S. S., Ufer, U.: Smart cities at risk: Systemic risk drivers in the blind spot of longterm governance. Risk Analysis, risa.14102, 2023. https: / / doi. org/ 10.1111/ risa.14102. [5] Levy, J. I., Buonocore, J. J., von Stackelberg, K.: Evaluation of the public health impacts of traffic congestion: A health risk assessment. Environmental Health, 9 (1), (2010) S. 65. https: / / doi.org/ 10.1186/ 1476-069X-9-65. [6] Weisbrod, G., Vary, D., Treyz, G.: Measuring Economic Costs of Urban Traffic Congestion to Business. Transportation Research Record: Journal of the Transportation Research Board, 1839(1), (2003) S. 98 - 106. https: / / doi.org/ 10.3141/ 1839-10. [7] Khanh, Q. V., Hoai, N. V., Manh, L. D., Le, A. N., Jeon, G.: Wireless Communication Technologies for IoT in 5G: Vision, Applications, and Challenges. Wireless Communications and Mobile Computing, 2022, (2022) S. 1 - 12. https: / / doi.org/ 10.1155/ 2022/ 3229294. [8] Bouzouita, M., Hadjadj-Aoult, Y., Zangar, N., Tabbane, S.: On the risk of congestion collapse in heavily congested M2M networks. 2016 International Symposium on Networks, Computers and Communications (ISNCC), (2016) S. 11 - 5. https: / / doi.org/ 10.1109/ ISNCC.2016.7746063. [9] Briscoe, B., Brunstrom, A., Petlund, A., Hayes, D., Ros, D., Tsang, I.-J., Gjessing, S., Fairhurst, G., Griwodz, C., Welzl, M.: Reducing Internet Latency: A Survey of Techniques and Their Merits. IEEE Communications Surveys & Tutorials, 18(3), (2016) S. 2149 - 2196. https: / / doi.org/ 10.1109/ COMST.2014.2375213 [10] Parag, Y., Sovacool, B. K.: Electricity market design for the prosumer era. Nature Energy, 1(4), (2016) S. 16032. https: / / doi.org/ 10.1038/ nenergy.2016.32 [11] Helbing, D.: Systemic Risks in Society and Economics. In Helbing, D. (Ed.): Social Self-Organization (2012) pp. 261 - 284. Springer Berlin Heidelberg. https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-642-24004-1_14 Dr. Ulrich Ufer Senior Researcher Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Kontakt: ulrich.ufer@kit.edu Dr. rer. nat. Sadeeb Simon Ottenburger Abteilungsleiter Institut für Thermische Energietechnik und Sicherheit (ITES) Karlsruhe Institut für Technologie (KIT) Kontakt: sadeeb.ottenburger@kit.edu AUTOREN
