Transforming cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0034
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Graffiti – Pro und Contra
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Antje Flade
Graffiti fällt wegen seiner knalligen Buntheit ins Auge. Das Erscheinungsbild der öffentlichen Räume in Städten wird inzwischen dadurch geprägt. Für die einen ist es zeitgemäße Kunst, für die anderen eine unerlaubte Aneignung des öffentlichen Raums.
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32 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Graffiti und Street Art sind in vielen Städten weit verbreitet, sodass sie längst als Massenphänomen gelten können. Ob sie es wollen oder nicht, werden die Menschen damit konfrontiert. Wie angesichts dieser enormen Präsenz zu erwarten, ist das Thema Graffiti längst in den Fokus der Medien und wissenschaftlicher Analysen geraten und hat dadurch das Interesse daran noch verstärkt. Es gibt etliche Publikationen, darunter das online Journal „Street Art & Urban Creativity“ (abgekürzt SAUC), in dem sich Autorinnen und Autoren aus vielen Ländern mit den diversen Aspekten von Graffiti und Street Art auseinandersetzen [1]. Graffiti, im ursprünglichen Sinne etwas an die Wand Gekratzes, und Street Art, farbenfrohe Bilder im öffentlichen Raum der Städte haben eine kommunikative Funktion, sie sollen unbedingt auffallen. Schon vor mehr als 4 000 Jahren gab es in Ägypten gekratzte Inschriften auf Tempeln, Statuen und Mauern. Auch in der römischen Stadt Pompeji waren Graffiti keine Seltenheit. Eine lange Tradition also. Was ist es, was die gegenwärtigen von den früheren Wandbeschriftungen unterscheidet? Auf den ersten Blick fällt auf, dass das heutige Graffiti außerordentlich bunt, sehr flächig, enorm verbreitet und an Orten anzutreffen sind, an denen sich viele Menschen einfinden, sodass möglichst viele Menschen sie zu sehen bekommen. Sie haben dort ein Publikum. Nicht nur Fassaden, Wände, Mauern, Tunnel, Unterführungen und Lärmschutzwälle, sondern auch Bahnen dienen heute als Flächen für Graffiti, was ihre Sichtbarkeit noch verstärkt. Die Meinungen, ob Städte durch Graffiti ästhetisch ansprechender werden oder ob es sich eher um eine Verschandelung und Sachbeschädigung handelt, sind geteilt. Für die Befürworter ist Graffiti Kunst. Kritiker bringen dagegen Graffiti eher mit Sachzerstörung und Vandalismus in Verbindung. Ein differenzierter Blick auf das Phänomen Graffiti lohnt, um das Pro und Contra unvoreingenommener gegeneinander abzuwägen. Zu klären ist: Ist Graffiti Kunst? Ist die Buntheit essentiell? Wer sind die Akteure? Kunst? Graffiti wird zur Kunst, wenn man sie als Street Art deklariert. Das fällt leicht, denn Schauplatz ist in beiden Fällen der öffentliche Raum. Graffiti ist in erster Linie „Writing“, Street Art sind vor allem Bilder. Graffiti ist Schrift-Kunst, Street Art ist Bild-Kunst. Beides wird unter Street Art oder auch Urban Art subsumiert [2]. Sie werden als neues Genre im urbanen Alltag proklamiert. „Keine Großstadt ist heute mehr frei von kleinen und großen Malereien, die an legalen oder illegalen Plätzen gegen oder ohne Bezahlung entstanden sind“ [3]. Die weite Verbreitung in Städten wie Basel, Barcelona und Kopenhagen, Stockholm usw. dient als Argument, dass es sich um eine neue zeitgenössische Form von Kunst handelt. „Schon heute ist erkennbar, dass die Stigmatisierung von Graffiti, Street Art und Urban Art bzw. deren pauschale Vorverurteilung als Vandalismus nicht mehr zeitgemäß sind“ [4]. Buntheit Graffiti und Street Art sind bunt. Sie fallen allein schon wegen ihrer Farbigkeit ins Auge. Man könnte daraus schließen, dass es sich um einen Protest gegen eine graue, eintönige, farblose Stadt handelt. Das Motto „Bunt statt Grau“ war schon vor hundert Jahren hoch aktuell gewesen, als Bruno Taut in Magdeburg Baudirektor war. Der Aufruf zum farbigen Bauen wurde 1921 in den Magdeburger Zeitungen veröffentlicht [5]. Das Leitbild der farbigen Stadt wurde realisiert. Rathaus und etliche Hausfassaden wurden bunt angestrichen, sodass für Graffiti und Street Art kein Platz gewesen wäre. Doch es gab kritische Kommentare. Andere Architekten waren der Meinung, dass man „das Problem der Farbe in der Architektur“ nicht durch Farbanstriche, sondern allein durch die Verwendung verschiedenartiger Baumaterialien lösen könne. Heute sind die Hausfassaden in der baugenossenschaftlichen Wohnsiedlung in der Otto-Richter-Straße in Magdeburg wegen ihrer extremen Farbigkeit ein touristisches Highlight. Graffiti - Pro und Contra Graffiti, Street Art, öffentlicher Raum, jugendliche Subkultur Antje Flade Graffiti fällt wegen seiner knalligen Buntheit ins Auge. Das Erscheinungsbild der öffentlichen Räume in Städten wird inzwischen dadurch geprägt. Für die einen ist es zeitgemäße Kunst, für die anderen eine unerlaubte Aneignung des öffentlichen Raums. 33 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Warum Farbigkeit vorteilhaft sein kann, lässt sich begründen. Die psychologische Ästhetiktheorie sagt aus, dass Umwelten bevorzugt werden, die einen mittleren Grad an Komplexität aufweisen. Das Verlangen nach Farbigkeit wird auf das Bedürfnis nach einer Umwelt zurückgeführt, die weniger monoton und grau ist, die man, so wie im Wanderlied „Aus grauer Städte Mauern ziehn’ wir durch Wald und Feld“, gern hinter sich lässt. Graue reizarme Mauern werden durch Farbe komplexer und damit reizvoller. Auch wenn es zutrifft, erklärt das jedoch nicht das gesamte Phänomen, denn bereits mit schönster farbiger Street Art versehene Mauern, die überhaupt nicht grau sind, werden mit Graffiti übersprüht (Bild-1). Es muss also mehr sein als das Bedürfnis, graue in farbige Städte zu verwandeln. Der Experte Schlusche spricht von Überreaktionen, wenn kunstvolle Murals mit Graffiti bedeckt werden: Es wird nichts Angepasstes und offiziell Erlaubtes toleriert. Akteure Wer sind diejenigen, die überreagieren? Und wer sind die Produzenten der nicht erlaubten Straßenkunst? Es sind die in großen Städten lebenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich ganz bewusst und möglichst deutlich von der etablierten, von Erwachsenen beherrschten Kultur absetzen wollen. Die jugendliche Hip-Hop-Subkultur setzt auf provokante Ausdrucksformen. Die Abgrenzung erfolgt an mehreren Fronten, so auch im Kleidungsstil, in Musik-Vorlieben, bevorzugten Treffpunkten und Aktivitäten sowie in der Sprache. Zahlreiche Begriffe wie Getting-up, Tag, Piece, Bubble letters, Throwups, Crossen, Adbustung, Paste-Ups, Stickern, Stencils, Urban Knitting, Murals usw. wurden kreiert. Es sind kreative Ausdrucksformen einer jugendlichen Subkultur, wobei suggeriert wird, dass man sie kennen muss, um überhaupt „mitreden“ zu können [6]. Was die jugendlichen Akteure betrifft: Ihr Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird befriedigt. Sie eignen sich ihre Umwelt aktiv an, indem sie eine graue Mauer oder schon bemalte Wand oder eine S-Bahn knallbunt machen. Sie gehören dazu und bekommen Anerkennung in ihrer Gruppe, wenn sie an besonders exponierten, nur schwer zu erreichenden Orten, Wänden und Fassaden ihre Tags anbringen. Bottom-up und Top-down Graffiti ist in den meisten Fällen unerlaubt [7]. Die Illegalität ist ein Wesensmerkmal, denn ohne diese fehlt der angestrebte Thrill, das Erleben von Spannung und lustvoller Erregung. Deshalb ist es auch nicht damit getan, Leinwände aufzuspannen oder Wände frei zu geben, die ganz legal bunt gemacht werden dürfen. Es darf nicht erlaubt sein. Man agiert nach dem Bottom-up-Prinzip von unten nach oben und lehnt die Wirkrichtung des Top-down, von oben kommende Vorgaben und Auftragswerke, ab. Murals, erlaubte, von der Stadt, anderen Institutionen oder Hauseigentümern in Auftrag gegebene großformatige Wandbemalungen, verkörpern das Top-down-Prinzip (Bild 2). Bild 1: Drei Etappen. © Flade 34 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Schlussbemerkung Schauplatz von Graffiti ist der öffentliche Raum. Dieser ist vergleichbar einer Allmende mit begrenzten Ressourcen, die alle Berechtigten nutzen dürfen. Problematisch wird es, wenn einige zuviel beanspruchen, sodass die Allmende übernutzt wird [8]. Wird der öffentliche Raum im Übermaß mit Graffiti übersät, indem Jugendliche und Heranwachsende Mauern, Wände, Hausfassaden, Untertunnelungen und Bahnen für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit beanspruchen, geht zwar die Stadt nicht zugrunde, es ändert sich jedoch ihr Erscheinungsbild. Wird das gewollt? Eine Gesellschaft, in der Graffiti und Street Art positiv konnotiert werden, ist individualistisch, der öffentliche Raum ist darin nicht nur ein sozialer Ort für alle, sondern vor allem auch eine Bühne für Individualisten. In einer kollektivistischen Kultur wäre eine solche Zurschaustellung nicht denkbar. Markus und Kitayama haben das mit einer Metapher, einem Brett, in dem ein Nagel hervorsticht, erläutert. In einer kollektivistischen Kultur würde der Nagel umgehend wieder eingeschlagen („the nail that stands out gets pounded down“ [9]). In einer individualistischen Kultur ließe man den Nagel hervorstechen. Die enorme Verbreitung von Graffiti in den Städten der westlichen Welt ist Ausdruck einer individualistischen Gesellschaft, in der die Leitidee „Gemeinschaftsprojekt Stadt“ es nicht leicht hat, sich durchzusetzen. Ein Ansatzpunkt, angeregt durch die Aktivitäten der jugendlichen Subkultur, ist ein Aufgreifen der Idee der bunten Stadt. Die oftmals farblosen Hausfassaden in den derzeit entstehenden großen Wohnsiedlungen könnte man durchaus farbiger gestalten. Es wäre kein Contra gegen die jugendliche Subkultur, denn diese verfügt über noch andere kreative Ausdruckformen. LITERATUR [1] Jacobson, M.: The dialectic of graffiti studies. A personal record of documenting and publishing on graffiti since 1988. Street Art & Urban Creativity (SAUC), November, (2015) S. 99 - 103. DOI: https: / / doi.org/ 10.25765/ sauc.v1i2.36 [2] Reinecke, J.: Street-Art: eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz. Bielefeld: transcript, 2012. [3] Schlusche, K. H.: StreetArt Basel & Region. Hamburg: Gudberg Nerger, (2015) S. 190. [4] Schlusche, a.a.O., S. 202. [5] Stöneberg, M.: „Neuschöpfung modernen Lebens“. Der Beitrag kommunaler Stadtplanung und Architektur zur Modernisierung Magdeburgs. In: Köster, G., Poenicke, C. Volkmar, C. (Hrsg.): Die Ära Beims in Magdeburg (2021) S. 199 - 241. Halle: mitteldeutscher verlag. [6] Reinecke, a.a.0. [7] Helmstetter, R.: Unerlaubte Kunst: der öffentliche Raum als künstlerische Arena. Bielefeld: transcript, 2022. [8] Hardin, G.: The tragedy of the commons. Science, 162, (1968) S. 1243 - 1248. [9] Markus, H. R., Kitayama, S.: Culture and the self: Implications for cognition, emotion, and motivation. Psychological Review, 98, (1991) S. 224. Bild 2: Mural. © Flade Dr. Antje Flade Diplom-Psychologin Angewandte Wohn- und Mobilitätsforschung (AWMF), Hamburg Kontakt: awmf-hh@web.de AUTORIN
