Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0036
65
2023
82
Gehört Hochhäusern die Zukunft?
65
2023
Simon Dietzfelbinger
Stefanie Lütteke
Städte verbinden Arbeit mit Wohnen und Kultur – nicht umsonst zieht es Jahr für Jahr mehr Menschen in die Metropolen dieser Welt. Gleichzeitig ist freier Raum für Wachstum in innerstädtischer Lage rar. Hochhäuser können dazu beitragen, die erforderliche Nachverdichtung in flächenschonender Weise zu ermöglichen. Standen sie früher im Verruf der sozialen Kälte und Isolation, werden Hochhäuser heute mit der richtigen Planung und der Verbindung von unterschiedlichen Nutzungsklassen zu wichtigen städtischen Anlaufpunkten und vertikal durchmischten Quartieren.
tc820040
40 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt International bestimmen Hochhäuser das Bild zahlreicher Metropolen. In Deutschland prägen sie mit der Ausnahme von Frankfurt noch kaum eine Sky- Gehört Hochhäusern die Zukunft? Die vertikale Stadt als nachhaltiger Begegnungs-, Wohn- und Produktionsort Urbanisierung, Nachverdichtung, Hochhäuser, Stadtquartiere, Durchmischung Simon Dietzfelbinger, Stefanie Lütteke Städte verbinden Arbeit mit Wohnen und Kultur - nicht umsonst zieht es Jahr für Jahr mehr Menschen in die Metropolen dieser Welt. Gleichzeitig ist freier Raum für Wachstum in innerstädtischer Lage rar. Hochhäuser können dazu beitragen, die erforderliche Nachverdichtung in flächenschonender Weise zu ermöglichen. Standen sie früher im Verruf der sozialen Kälte und Isolation, werden Hochhäuser heute mit der richtigen Planung und der Verbindung von unterschiedlichen Nutzungsklassen zu wichtigen städtischen Anlaufpunkten und vertikal durchmischten Quartieren. Bild 1: Bosco verticale, Milano. © Mattia Spotti on unsplash line. Zukünftig könnte ihnen jedoch eine zentrale Funktion bei der Schaffung von liebens- und lebenswerten urbanen Zentren unserer Großstädte zu- 41 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt hältnis von Nutzzur Grundfläche wird beim Hochhaus die versiegelte Fläche minimiert, während gleichzeitig Wohn- und Arbeitsraum für eine sehr große Anzahl an Einwohnern entsteht. Städte wie Berlin, Frankfurt, Düsseldorf und Dresden haben bereits sogenannte Hochhausleitbilder oder Hochhausrahmenpläne für sich definiert. Diese sollen verschiedene Interessen aus der Nachverdichtung, den Investitionsabsichten des Immobilienmarkts und den Wünschen und Bedürfnissen der Stadtgesellschaft in Einklang bringen. So definieren die Hochhausleitbilder Anforderungen und Maßnahmen an Hochhausvorhaben, wie hohe städtebauliche und architektonische Qualitäten, nachhaltige Nutzungskonzepte oder Angebote, die einen Mehrwert für das Umfeld und die Allgemeinheit schaffen. Hochhäuser sind gestapelte Wiederholungen Lange Zeit haftete Hochhäusern aufgrund ihrer Vollklimatisierung und einem hohen Anteil an Technik- und Verkehrsfläche der Ruf von Energie- und Ressourcenverschwendern an. Heute stehen moderne Planungs- und Bauprozesse zur Verfügung, die Ressourcen schonen, höchste Energie- und Nachhaltigkeitsstandards umsetzen und eine langfristige Nutzung sowie Kreislauffähigkeit ermöglichen. Zu nachhaltigen und langfristigen Nutzungsmöglichkeiten tragen zum Beispiel flexible Teilungskonzepte bei, die von Anfang an in die Planung einbezogen werden können. Solche Teilungskonzepte sollten in zwei Richtungen offen sein: Zum einen sollten sie es ermöglichen, zwischen verschiedenen Nutzungsarten zu wechseln, also zum Beispiel eine Bürofläche in ein Hotel zu transformieren. Zum anderen geht es um die Umkonzeptionierung innerhalb einer Nutzungsart. Das bedeutet, es muss beispielsweise möglich sein, Wohnungen zusammenzulegen oder aus einer großen Wohnung kleinere Einheiten zu generieren. So kann der Bauherr später auf mögliche Marktveränderungen erfolgreich reagieren. Zudem sind Hochhäuser im Prinzip gebaute Wiederholungen. In diesem Sinne kann man sie als gestapelte Komposition von Modulen betrachten. Durch modulare Planung und eine Rationalisierung der Gebäudegeometrie kann die Anzahl der verschiedenartigen Konstruktionen um bis zu 80 % gesenkt werden - ohne Abstriche bei Ästhetik und Funktionalität. Gleiche Flächen und Konstruktionen wie Fassadenelemente, Haustechnikbaugruppen, ganze Wohneinheiten oder Bestandteile des Innenausbaus werden nur einmal geplant und in einem Katalog abgelegt. Im Idealfall lassen sich einzelne Module anschließend industriell vorfertigen und kommen. Dabei geht es nicht um das Brechen weiterer Höhenrekorde, sondern um die Verbindung eines ökologisch sinnvollen Bauens in die Höhe mit lebendigen und durchmischten Nutzungen. Durch die Vereinigung verschiedener Assetklassen wie Wohnen, Büro, Handel, Hotellerie und Logistik, verbunden mit begrünten öffentlichen Flächen sowie Angeboten für Freizeit, Gastronomie, Begegnung und Kultur, entstehen gemischte Stadtquartiere in der Vertikalen. Sogenannte Vertical Villages, also vertikale Dörfer, haben das Potenzial, ländliches Gemeinschaftsgefühl in die Stadt zu integrieren. Es handelt sich um keine reinen Wohnhäuser mit zahlreichen Apartments, in denen das Leben anonym vonstatten geht - im Gegenteil: Neben Privaträumen gibt es Begegnungsstätten und Gemeinschaftsflächen, die die Funktion des Dorfplatzes übernehmen. Die vertikale Stadt im Hochhaus kann beispielsweise im Erdgeschoss eine Shopping Mall, Restaurants, Bistros und andere öffentliche Bereiche enthalten, in höheren Etagen das citynahe Hotel, darüber Wohnungen mit Ausblick sowie Wellness- und Sport- Angebote. Ergänzt wird das Konzept durch Büros, deren Nutzer*innen in den Pausen und nach Feierabend auf die anderen Einrichtungen im Gebäude zurückgreifen können. Geplante oder bereits realisierte Hochhäuser, die dem Konzept des Vertical Village folgen, finden sich in verschiedenen Ländern weltweit. Für die Gebäudenutzer*innen ermöglicht die Vereinigung vielfältiger Angebote kurze Wege im Sinne der 15-Minuten-Stadt. Viele Nutzer*innen an einem Ort bilden zudem die Voraussetzung für einen attraktiven ÖPNV, was zur Entlastung des städtischen Verkehrs beitragen kann und im Idealfall dazu führt, dass der private PKW überflüssig wird. Mit Nachverdichtung gegen Flächenfraß In Deutschland werden pro Tag rund 55 Hektar Neufläche für Siedlungs- und Verkehrsflächen erschlossen. Das entspricht etwa 77 Fußballfeldern. Zwar liegt der Verbrauch damit bereits deutlich niedriger als noch bis Mitte der 2000er Jahre mit um die 120- Hektar, im Sinne der Klimaschutzstrategie ist er jedoch noch immer viel zu hoch. Bis 2030 möchte die Bundesregierung den Flächenneuverbrauch auf 30- Hektar pro Tag senken, bis 2050 soll er im Rahmen einer Flächenkreislaufwirtschaft bei Null liegen. Das bedeutet, dass netto keine weiteren Flächen für Siedlungen und Infrastruktur bebaut werden. Dennoch muss gebaut werden, jedoch bevorzugt auf bereits versiegelten Flächen, zum Beispiel auf Brachflächen, oder in die Höhe. Durch das Ver- 42 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt später termingerecht zur Baustelle liefern, wo die Montage nur noch einen Bruchteil der Zeit in Anspruch nimmt, verglichen mit einer kompletten Vor- Ort-Installation. Wichtige Argumente für eine modulare Planung und Ausführung sind heute unter anderem Schlagworte wie Fachkräftemangel, Zeitersparnis, Qualitäts- und Kostensicherheit. Die Modularität birgt zudem enorme Vorteile bei der Sanierung der Gebäude. So haben verschiedene Bauteile unterschiedliche Lebenszyklen. Beim Rohbau geht man von einer Lebenszeit von bis zu 80 Jahren aus, bei der technischen Gebäudeausrüstung (TGA) von etwa 20-Jahren und beim Innenausbau von Büros wird mit bis unter zehn Jahren gerechnet. Diese unterschiedlichen Zeitspannen machen deutlich, dass die modulare Bauweise einen Austausch beziehungsweise eine Sanierung der Gewerke unterstützt. Module können ganzheitlich entfernt und durch neue vorgefertigte Module einfach ersetzt werden. In der Planung bereits Sanierung und Rückbau mitdenken Material, das bei Sanierung oder Abriss eines Gebäudes anfällt, landet meist auf der Deponie oder als Füllmaterial im Straßenbau. Angesichts der Klimakrise, des Rohstoffmangels und hoher Energie- und Entsorgungskosten sowie gestiegener Baupreise ist dies eine nicht mehr tragbare Verschwendung. Bemühungen um mehr Wiederverwertung und kreislauffähiges Bauen nehmen zu. Die Rohstoffsubstanz der Gebäude in Deutschland wird auf etwa 15 bis 16- Milliarden Tonnen geschätzt. Im Kontext des Urban Mining, dem „Bergbau in der Stadt“, werden Gebäude deshalb als riesige Rohstofflager betrachtet, deren Schätze temporär im Gebäude schlummern und im Zuge einer Sanierung oder am Ende des Gebäudelebenszyklus wieder gehoben werden können. Ein wirtschaftliches Urban Mining unterstützt auch ein sogenannter digitaler Gebäuderessourcenpass. In ihm ist festgehalten, in welcher Menge und Qualität welche Materialien im Gebäude verbaut sind. Zu den potenziell wiederverwendbaren Materialien zählen neben Beton, Holz, Kunststoff und Stahl auch Bauteile wie Fenster und Türen, aber auch kreislauffähige Vorhänge, Teppichböden oder Hightech-Textilien wie Mesh und Verkleidungen aller Art für innen wie außen. Diese Philosophie einer Kreislaufwirtschaft liegt auch dem Cradle to Cradle- Designprinzip zugrunde. Hinter dem Konzept steckt die Idee, Prozesse und Gebäude bereits beim Entwurf so zu gestalten, dass sie gesund für den Menschen und sicher für die Umwelt sind. Gebäude, die nach dem Cradle to Cradle-Prinzip errichtet werden, setzen auf gesunde, recyclebare, sortenrein trennbare und damit wiederverwertbare Materialien - ein Plus für das Rohstoffdepot wie für Bewohnerinnen und Gebäudenutzer und deren Wohn- und Aufenthaltsqualität. Übersetzt bedeutet Cradle to Cradle, kurz C2C, „von der Wiege zur Wiege“. Erreicht ein nach C2C-Richtlinien konzipiertes Gebäude das Ende seiner Lebensdauer, wird jeder Bestandteil in den technischen oder den biologischen Kreislauf zurückgeführt. So führt das System dazu, dass eingesetzte Ressourcen potenziell unendlich in Kreisläufen zirkulieren können und Gebäude zu Rohstofflagern werden. In Brüssel setzt das sogenannte „ZIN-Projekt“ von Befimmo auf Cradle to Cradle. Das Projekt umfasst die Türme 1 und 2 des Brüsseler World Trade Centers, die teils abgebaut, neu gestaltet und miteinander verbunden werden. Dabei steht die Kreislaufwirtschaft im Vordergrund: Ein Großteil der vorhandenen Materialien wird entweder beibehalten, an anderen Standorten wiederverwendet oder recycelt. Ein Materialpass wird zeigen, dass ein Großteil der neuen Materialien nach C2C oder einem ähnlichen Standard zertifiziert ist. Nach seiner Fertigstellung wird das multifunktionale Gebäude auf rund 110 000 m² Wohn-, Büro-, Co-Working- und Hotelflächen beherbergen. Im Gebäudebau allgemein, aber auch im Hochhausbau spielt der Werkstoff Holz eine wachsende Rolle. Holz verspricht eine nachhaltige Alternative Bild 2: Parkroyal Collection Pickering, Singapur. © Felix Fuchs on unsplash 43 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt zu Beton und Stahl zu sein, zumal es als nachwachsender Baustoff eine positive Ökobilanz besitzt und über das im Material gespeicherte CO 2 hilft, die globalen Emissionen zu reduzieren. Die Entwicklung der Technologien im Holzbau geht rasant voran und es werden weltweit immer mehr Gebäude mit Höhen von rund 100 Metern erstellt. Durch die Anfälligkeit gegenüber Feuchtigkeit, der Brennbarkeit des Materials sowie der geringeren Spannweiten der Konstruktionen kann Holz jedoch nicht die alleinige Lösung für mehr Nachhaltigkeit im Hochhausbau sein. Vielmehr ist von einer breiten Anwendung eines Materialmix auszugehen. Von Energiefressern zu Energieproduzenten Nach der Fertigstellung bieten Hochhäuser ein niedriges Verhältnis von Hüllfläche zu Volumen und damit im Gebäudebetrieb das Potenzial für minimalen Heizbedarf und Unabhängigkeit vom Wetter. Zudem sind die Hochhaus-Fassaden mit architektonisch integrierter Photovoltaik (PV) wichtige Elemente der Energiekonzepte geworden. Die Dachflächen reichen bei den großen Gebäuden bei Weitem nicht aus, um alleine sinnvolle Strombeiträge zu generieren. PV-Module werden immer leistungsfähiger und, bezüglich der Integration in anspruchsvollste Architektur, immer variabler. Die absehbare Entwicklung transparenter und organischer PV durch die Integration in klassische Fenster erweitert die Möglichkeiten regenerativer Nutzung und Energieeinsparungen. Die Stromgewinnung können Mikrowindturbinen im oberen Drittel der Hochhäuser ergänzen. Über deren Formengestaltung wird mit geschickter Verengung des Luftdurchflusses der sogenannte Venturi-Effekt erzielt, indem sich der Luftzug durch Einschnürungseffekte beschleunigt und in enthaltenen Kleinturbinen elektrischen Strom erzeugt. Neben dem Strom ist das wesentliche Thema die Bereitstellung von Wärme- und Kälteenergie. Dazu gehört beispielsweise die Überlegung, ob diese mittels ausgeklügelter Geothermie-Konzepte erfolgen kann. Diese können wiederum auf Grundwasserbrunnen oder aus energetisch aktivierten Bohrpfählen basieren. Aufgrund der beschränkten Grundfläche in Hochhäusern, analog der Dachfläche für die Stromgewinnung, werden Hochhäuser oftmals in die komplette horizontale Umgebungsbzw. Randbebauung einbezogen. So ist es möglich, geothermisch größere Energiereservoire anzuzapfen, um regenerativer zu wirtschaften. Im Idealfall kann eine Einbindung in komplexe Wärmenetze der Generation 4.0 erfolgen. Auch die intelligente Verschiebung von Wärme und Kälte innerhalb des Gebäudes ist ein wesentlicher Beitrag zur Optimierung. Ermöglicht werden diese Heiz-/ Kühllastverschiebungen über ganzheitliche Simulationen inklusive der Abbildung von Nutzerprofilen von Hotels, Wohnen oder Büros in hybriden Hochhäusern. Darauf basierend können Pufferspeicher und Wärmepumpen optimal ausgelegt werden, um im Jahresverlauf ein Maximum an Energieströmen auszugleichen und somit den externen Energiebezug zu minimieren. Vertical Villages bringen Mehrwert für Gesellschaft Durch die zunehmende Dichte in den Städten handelt es sich bei den verbliebenen Freiräumen häufig um verschattete Transitzonen. Hochhäuser besitzen hier jedoch das Potenzial, neue öffentliche Räume zu schaffen, die für die Stadtbevölkerung frei zugänglich sind und zusätzliche Qualitäten, wie gute Belüftung und Belichtung, mit sich bringen. Begrünte Geschosszonen mit parkähnlichem Charakter bieten Möglichkeiten der Naherholung und tragen zusätzlich zur Verbesserung des Mikroklimas sowie der Luftqualität in der Gesamtstadt bei. In den unteren Bereichen der Hochhäuser können begrünte Fassaden mit Regenwasserversorgung eingesetzt werden. Durch Wasserverdunstung haben sie einen kühlenden Effekt und wirken im Sommer der Bildung sogenannter Hitzeinseln entgegen. Vertical Villages sind Zukunftstrend und Realität zugleich. Der Anspruch an das Hochhaus der Zukunft ist dabei hoch, allein schon aufgrund seines stadtbild-prägenden Potenzials. Doch es kann Mehrwerte bieten und der Gesellschaft etwas zurückgeben: Energie produzieren, Rohstoffe lagern und Aufenthaltsqualität für das Quartier bieten. Dipl.-Wirtsch.-Ing. Simon Dietzfelbinger Partner Head of Residential Properties Drees & Sommer SE Kontakt: wohnen@dreso.com Dipl.-Ing. Architektur, M.Sc., PMP ® Stefanie Lütteke Associate Partner Head of Property Companies Drees & Sommer SE Kontakt: propcom@dreso.com AUTOR*INNEN
