Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0065
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2023
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Wildnis Hauptwache
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Natalie Heger
Ruth Schlögl
„Wildnis Hauptwache“ ist ein Projekt der Frankfurt University of Applied Sciences, welches gemeinsam mit Frankfurter*innen der Frage nachgeht, welche Tiere und Pflanzen im Herzen der Stadt leben. An Forschungsrad und Forschungstisch vor Ort werden die Fragen der Workshop-Teilnehmer*innen beantwortet: Was krabbelt, fliegt und wächst denn hier? In der Kooperation unterschiedlicher Disziplinen entsteht ein (Mit)Bestimmungsbuch für den urbanen Raum und die Möglichkeit neue Perspektiven im Stadtraum einzunehmen. Oft ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die zukünftige Um- und Weiterentwicklung von zentralen Freiräumen.
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46 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Die Hauptwache in der Innenstadt von Frankfurt am Main ist ein Ort der weit über die Stadt hinaus bekannt ist. Die Hauptwache ist ein Platz zum Umsteigen, ein Startpunkt für die Samstags-Shopping-Tour auf der Zeil oder ein Treffpunkt für das anschließende Lunch Meeting um die Ecke. Für die Frankfurter*innen ist es auch ein Ort, an dem man sich im September in der Schlange für die ÖPNV- Schülerkarte die Füße platt steht oder an dem es zu Weihnachten nach gebrannten Mandeln duftet. Die wenigsten aber kennen die Hauptwache als einen Lebensraum für Tiere und Pflanzen mitten in der Stadt. Jeden Tag passieren 95 000 Fahrgäste die Hauptwache [1]. Der zentrale Knotenpunkt für viele U-Bahn- und S-Bahnverbindungen ist gleichzeitig Teil einer der meistbesuchten Einkaufsstraßen Deutschlands. Über 9 000 Menschen durchqueren die Zeil pro Stunde [2]. Ein Raum in der Stadt, der also vieles leisten muss: von zuverlässiger Infrastruktur, über Austragungsort für Märkte und Rummel, bis hin zum weltbekannten Skater-Spot. Wildnis Hauptwache Mit anderen Augen auf altbekannte Plätze blicken Artenvielfalt, Reallabor, Partizipation, Interventionen im Stadtraum Natalie Heger, Ruth Schlögl „Wildnis Hauptwache“ ist ein Projekt der Frankfurt University of Applied Sciences, welches gemeinsam mit Frankfurter*innen der Frage nachgeht, welche Tiere und Pflanzen im Herzen der Stadt leben. An Forschungsrad und Forschungstisch vor Ort werden die Fragen der Workshop-Teilnehmer*innen beantwortet: Was krabbelt, fliegt und wächst denn hier? In der Kooperation unterschiedlicher Disziplinen entsteht ein (Mit)Bestimmungsbuch für den urbanen Raum und die Möglichkeit neue Perspektiven im Stadtraum einzunehmen. Oft ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die zukünftige Um- und Weiterentwicklung von zentralen Freiräumen. Bild 1: Die Hauptwache in Frankfurt am Main ist einer der zentralen Knotenpunkte in der Innenstadt und den meisten Bewohner*innen ein Begriff, mit Biodiversität, Grün und Natur verbinden ihn aber die Wenigsten. © Robert Metsch 47 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Was wächst, krabbelt und fliegt in der Stadt? Doch welche Pflanzen und Tiere leben eigentlich an der Hauptwache? Was wächst in den Ritzen? Was kreucht und fleucht hier über den Asphalt? Wer fliegt am Himmel? Diesen Fragen geht das Team der Frankfurt University of Applied Sciences im Projekt „Wildnis Hauptwache“ gemeinsam mit Bürger*innen Frankfurts nach. Was lebt hier, neben, unter und über uns? Und was können wir für die Vielfalt an diesem Ort tun? Im Rahmen des urbanen Reallabors Wohnzimmer Hauptwache, koordiniert durch das Deutsche Architekturmuseum DAM und umgesetzt im Rahmen des vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen geförderten Forschungsprojektes Post-Corona-Stadt, wurde im Spätsommer 2022 eine mobile Forschungsstation - in Form eines Lastenfahrrads mit ausklappbaren Forschungstisch - erstmals konzipiert und für die Dokumentation der Biodiversität in Städten ausgerüstet. Das Forschungsrad ist der Startpunkt für Forschungsworkshops gemeinsam mit interessierten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen rund um das Thema Artenvielfalt. Es ist mobil und kann an jeden beliebigen Ort in der Stadt weiterfahren, um neue Räume zu erkunden. Gleichzeitig ist es eine wichtige visuelle Basis für die Teilnehmer*innen und die Kommunikation rund um das Thema Verlust von Artenvielfalt. An der Hauptwache dient es also gleichermaßen als Forschungsstation, als auch als Informationsstand und Hinweisgeber. Neugierige Spürnasen werden hier mit Stift, Erfassungsbögen, Lupen und Bestimmungs-App ausgestattet und können sich, neben der selbstständigen Bestimmung der Pflanzen- und Tierwelt an der Hauptwache, bei der Expertin für Insektenkunde des Senckenberg- Naturmuseums oder den Wissenschaftlerinnen der Frankfurt University of Applied Sciences Unterstützung holen. Mit Workshops und offenen Angeboten, macht das Projekte „Wildnis Hauptwache“ an einem fast gänzlich versiegelten Platz in der Stadt auf den Verlust von Biodiversität aufmerksam und zeigt gleichzeitig die Potenziale von Städten für mehr Vielfalt auf. Was fehlt? Während das Artensterben in Wald, Feldern und Naturschutzgebieten voranschreitet, stellen Städte zunehmend alternative Habitate dar. Diese zu erhalten oder zu schaffen ist eine Aufgabe für uns alle. Unser tägliches Verhalten, welche Räume und Angebote wir schaffen, hat Einfluss auf die Biodiversität. 75 % der Landoberfläche sind heute durch menschlichen Einfluss verändert [3]. Die Fülle der bei uns heimischen Insekten hat in den vergangenen 30 Jahren in Deutschland dramatisch abgenommen, viele Arten sind gefährdet oder vom Aussterben bedroht, darunter Wildbienen und Schmetterlingsarten, aber auch viele weniger bekannte Insekten. Eine Studie des Bundesamts für Naturschutz sieht 42 % der Insektenarten in Deutschland als bestandsgefährdet, extrem selten oder bereits ausgestorben [4]. Vom Rückgang der Insekten sind andere Tiere, die sich von ihnen ernähren ebenfalls betroffen. Aber vor unserer Haustür, im naturnahen Garten und sogar im innerstädtischen Bereich können Insekten, die keine besonderen Ansprüche an ihren Lebensraum stellen, überleben. Dafür brauchen sie jedoch Nahrung und einen geeigneten Platz, an dem ihre Nachkommen aufwachsen können. Wir müssen grundsätzlich in den Städten mehr „Wildnis“ wagen und zulassen. Die Forschungsworkshops „Wildnis Hauptwache“ zur Untersuchung der Artenvielfalt in den Städten sollen auf diese Thematik aufmerksam machen und sowohl jungen als auch älteren Stadtbewohner*innen die Möglichkeit bieten, die Tiere bei ihren spannenden Aktivitäten direkt zu beobachten. Neben der Frage, welche Pflanzen und Tiere in den Städten leben, widmet sich das Projekt auch dem Thema stadträumliche Perspektivwechsel. Inwiefern kann ein Projekt zur Artenvielfalt die Identifikation der Bewohner*innen mit ihrem eigenen Lebensraum verändern und was bewirkt dies im eigenen Umgang mit dem öffentlichen Raum? Wie kann der sehr bewusste Perspektivwechsel auf einen bekannten Ort die Identifikation mit diesem stärken? Für die teilnehmenden Kinder war im Vorfeld meist interessant, wo es an der Hauptwache die besten Pommes gibt und wo sich der verlockende Gummibärchenladen befindet. Für die Erwachsenen Bild 2: An Forschungsrad und Forschungstisch werden die Fragen der Workshop- Teilnehmer*innen beantwortet. © Felix Krumbholz 48 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt stand oft die Frage im Vordergrund, wie sie den Platz am schnellsten wieder verlassen, weil ein Verweilen an diesem Ort gar nicht zur Debatte stand. Die eingehende Erkundung des Platzes, auf der Suche nach Pflanzen und Tieren, ermöglicht eine neue Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem städtischen Raum. Das geheime Versteck der schwarzen Wegameise unter den Stufen der Katharinenkirche oder die kleinen Bäume, die aus den Bodengittern hinter dem Café sprießen, rückten so manchen Ort erst ins Bewusstsein. Wie wir in Städten mit Pflanzen und Tieren leben und welche Räume wir für sie schaffen, wird in unterschiedlichen Projekten erkundet. Neben der Methode Animal-Aided-Design von Thomas Hauck und Wolfgang Weisser [5], bei der es darum geht, Tiere bereits frühzeitig in Planungsprozessen von Architektur und Stadt mitzudenken und zu integrieren, verfolgt das Projekt Krautschau der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung das Ziel, den „Ritzenrebellen“ mehr Wertschätzung zu verschaffen, - Pflanzen die sich ihren Weg zwischen Pflastersteinen, in Rinnsteinfugen und Mauerritzen bahnen [6]. Neben Wissenschaft und Praxis richten auch künstlerische Interventionen ihren Blick auf die Natur in der Stadt. Zum Beispiel bei Folke Köbberlings Aktion „Testphase 4“ [7], in der sie im November 2021 Passant*innen aufforderte, mit ihr gemeinsam entlang der „Parade der Apfelbäume“ in Chemnitz versiegelte Flächen durch händische Entsiegelung zurückzugewinnen. Die Auseinandersetzung mit städtischen Räumen und ihrer Beziehung zur Artenvielfalt ist eine wichtige Aufgabe, die nicht neu ist. Ihre Bedeutung ist deshalb aber nicht kleiner geworden, denn es ist noch viel zu tun, bevor Tiere und Pflanzen sich ein Stück Stadt zurückholen können (Rewilding), bis ausreichend Orte der Biodiversität geschaffen werden und bis keine Versiegelung weiterer Freiflächen stattfindet. Was bleibt? Ziel von „Wildnis Hauptwache“ ist es, einen Diskurs zum Thema Biodiversität in urbanen Freiräumen anzustoßen und gleichzeitig die Identifikation der Bewohner*innen mit ihrem Wohnumfeld und den persönlichen Bezug zu ihrem Lebensraum zu stärken. Das Projekt widmet sich der Akzeptanz von Pflanzen und Tieren und ihrer Rolle im Ökosystem und eröffnet den Austausch aus einer neuen Perspektive. Durch die unmittelbare Beteiligung der Bürger*innen am Forschungsprojekt wird ermöglicht, am Wissensprozess teilzuhaben und selbst aktiv zu werden. Im besten Fall nehmen die Bürger*innen aus dem Projekt einen wichtigen Bild 3: Pflanzen finden einen Weg zu wachsen. Auch an vielfrequentierten und versiegelten Plätzen wie der Hauptwache in Frankfurt. © Natalie Heger Bild 4: Mikroskokop, Bestimmungsbögen und Lupenbecher stehen für die eingehende Beobachtung von Pflanzen und Tieren bei der mobilen Forschungsstation zur Verfügung. © Felix Krumbholz Bild 5: Winzige Läuse verstecken sich an der Graswurzel. Genauer beoachten kann man sie unter dem Mikroskop. © Felix Krumbholz 49 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Anstoß für einen nachhaltigen Umgang mit Natur und Ressourcen mit, genauso wie einen neuen Blick auf einen allseits bekannten Ort. Zum Abschluss kommt jedes Wildnis-Projekt, mit der Dokumentation aller Pflanzen und Tiere die durch die Workshop-Teilnehmer*innen bestimmt werden konnten ins sogenannte (Mit)Bestimmungsbuch. So liegt für jeden erkundeten Ort - wie die Hauptwache in Frankfurt am Main - am Ende ein Büchlein vor, das man jederzeit wieder zur Hand nehmen kann, wenn die Frage aufkommt welches Tier hier krabbelt, welcher Vogel hier zwitschert oder welcher Baum sich hier zwischen den Betonplatten seinen Weg erkämpft hat. Die Leser*innen und Bestimmer*innen erfahren mehr über Tiere und Pflanzen in der Stadt. Beispielsweise, dass Stadttauben erstaunlich schlaue Tiere sind. Die Forschung hat gezeigt, dass sie sich über 100 verschiedene Bilder merken können und auch einzelne Menschen wiedererkennen, selbst wenn diese ihre Kleidung wechseln. Beim Durchblättern erfährt man aber auch, dass der feinblättrige Vogelknöterich eine Pflanze ist, die in den Alpen bis 1 500 Meter Seehöhe wächst und nachts Schlafbewegungen ausführt in dem sie die Blätter aufstellt und aneinanderlegt. Mit geschultem Auge lässt sich mit Hilfe des (Mit)Bestimmungsbuches auch die Gemeine Wespe von der Deutschen Wespe unterscheiden und bei der nächsten Begegnung mit einer Wespe, tritt man aufgrund der neu erworbenen Artenkenntnis dem Insekt vielleicht mit mehr Ruhe entgegen, da man dessen Verhalten und seine Bedeutung als Bestäuber besser einschätzen kann [8]. Somit ist das Projekt „Wildnis Hauptwache“ ein wichtiger Impulsgeber für ein Miteinander von Mensch und Natur in urbanen Räumen, ohne dabei allein die bedrohlichen Ausmaße des Verlusts der Biodiversität in den Vordergrund zu stellen. Zentraler Gedanke der Wildnis-Workshops ist es, positive Naturerlebnisse zu schaffen, den Bezug zur Pflanzen- und Tierwelt zu stärken und Verständnis für die unterschiedlichen Voraussetzungen von öffentlichen Räumen zu schaffen. Wir können in Zukunft nicht alle Plätze in blühende Insektenoasen verwandeln, Mammutbäume auf U-Bahnschächte pflanzen oder Fluchtwege durch Sumpfflächen ersetzen. Wir können aber die Versiegelung weiterer Freiflächen vermeiden und immer dann, wenn wir für mehr Grün in der Stadt sorgen die Biodiversität mitdenken und für Pflanzen und Tiere einen Lebensraum in Städten schaffen, der seine ganz eigenen Stärken gegenüber Agrarlandschaften hat. Dabei wünschen wir uns für diese vielfältigen Plätze in der Stadt, genauso wie für die Nutzer*innen, dass sie bleiben, bereit für Veränderungen, bereit Neues zu entdecken und Altes infrage zu stellen - unterwegs mit dem Forschungsrad für mehr Artenvielfalt in Städten und den Austausch untereinander. QUELLEN [1] Hauptwache Frankfurt am Main: https: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Bahnhof_ Frankfurt _(Main)_Hauptwache; Zuletzt besucht am 24.5.2023. [2] Erhebung PNB Paribas, 2021: https: / / www.realestate.bnpparibas.de/ dashboards/ footfall-dashboard; Zuletzt besucht am 24.5.2023. [3] IPBES-Assessment zu Biodiversität und Ökosystemleistungen: https: / / www.de-ipbes.de/ de/ Globales- IPBES-Assessment-zu-Biodiversitat-und-Okosystemleistungen-1934.html; Zuletzt besucht 11. Juli 2023 [4] Bundesamt für Naturschutz: https: / / www.bfn.de/ bestand-und-gefaehrdung; Zuletzt besucht am 11.7.2023 [5] Studio Animal Aided Design: https: / / animal-aideddesign.de/ ; Zuletzt besucht 16.7.2023 [6] Klein, A.-M., Krohmer, J.: Das wächst in deiner Stadt, Franckh-Kosmos Verlag, 2023 [7] Köbbernig, F.: „Testphase #1-4: 2017/ 2021: Entsiegelungen in Bonn und in Chemnitz: http: / / www.folkekoebberling.de/ 21-testphase-4-chemnitz.html; Zuletzt besucht 11.7.2023 [8] Heger, N., Schlögl, R.: (Mit)Bestimmungsbuch Hauptwache, Frankfurt University of Applied Sciences, 2022. Prof. Dr. Natalie Heger Architektin und Professorin für Städtebau und Entwerfen Frankfurt University of Applied Sciences Kontakt: Natalie.Heger@fb1.fra-uas.de Mag. Ruth Schlögl Forschungslabor Nachkriegsmoderne, Frankfurter Forschungsinstitut FFin Frankfurt University of Applied Sciences Kontakt: Ruth.Schloegl@fb1.fra-uas.de AUTORINNEN Bild 6: Workshops zur „Wildnis Hauptwache“ wurden zu unterschiedlichen Terminen angeboten. Als offenes Angebot, an dem man spontan teilnehmen konnte, genauso wie für geschlossene Gruppen von Kindern und Jugendlichen. © Cornelius Pfannkuch