eJournals Transforming cities 8/4

Transforming cities
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2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0080
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Kompass für Kommunen

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2023
Martin Huber
Johannes Bracke
15 Mio. E-Autos sollen bis 2030 auf Deutschlands Straßen unterwegs sein – etwa ein Drittel aller PKW wäre damit elektrisch betrieben. Städte und Kommunen stehen derzeit vor der enormen Herausforderung, ihre Infrastruktur für den Markthochlauf der E-Mobilität fit zu machen. Für die Verwaltungen ist es jetzt wichtig, ihren zukünftigen Bedarf an öffentlicher Ladeinfrastruktur zu ermitteln und ein Umsetzungskonzept als langfristige Planungsgrundlage zu erstellen. Die Stadt Wiesbaden hat deshalb gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen Drees & Sommer SE ein Konzept zum Aufbau öffentlicher Ladeinfrastruktur in der hessischen Landeshauptstadt erarbeitet. Darauf aufbauend ist ein Leitfaden entstanden, der anderen Städten und Kommunen als Kompass und Orientierungshilfe bei ihren Vorhaben dienen kann.
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16 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Wiesbaden ist eine der wenigen deutschen Großstädte ohne U-Bahn- oder Straßenbahnnetz, weshalb der Individualverkehr stark ausgeprägt ist: Im Jahr 2021 kamen in Wiesbaden 96,2- PKW auf 100 Haushalte - statistisch gesehen besaß also fast jeder Haushalt ein Auto. Den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) bedienen Busse, S-Bahnen und haben oder derzeit planen. Für eine valide Planungsgrundlage empfiehlt sich eine Bedarfsermittlung mindestens für die kommenden 10 Jahre. Im Rahmen des Umsetzungskonzeptes für die Stadt Wiesbaden wurde der Bedarf an öffentlicher Ladeinfrastruktur im Stadtgebiet bis zum Jahr 2030 ermittelt. Dabei wurden Hochlaufszenarien und der zukünftige Energiebedarf der Elektrofahrzeuge als Prognosegrößen eingesetzt. Das Ergebnis: Bis 2030 werden in Wiesbaden rund 50 000 Elektrofahrzeuge erwartet, was einem Anteil von 35-% an den Gesamtzulassungen entspricht. Daraus ergibt sich für 2030 ein Bedarf von insgesamt rund 1 700 öffentlichen Ladepunkten. Besonders hoch ist der Bedarf im innerstädtischen Gebiet, wo den Bewohner*innen von Mehrfamilien- und Mietshäusern nur selten private Lademöglichkeiten am Wohnhaus zur Verfügung stehen. Mangelnde Transparenz und viele Beteiligte Eine Herausforderung bei der Bedarfsermittlung auf kommunaler Ebene stellen fehlende Daten zu Ladepunkten im privaten Raum dar: Diese müssen zwar dem Netzbetreiber gemeldet werden, unterliegen aber dem Datenschutz. Kommunen erhalten deshalb meistens keine detaillierten Informationen darüber, wo genau im Stadtgebiet bereits private Ladepunkte installiert wurden. Ebenfalls sind Informationen zu abgerufenen Fördermitteln im Stadtgebiet, aus denen Rückschlüsse auf den Bestand privater Ladeinfrastruktur gezogen werden können, für Kommunen nur schwer einsehbar. Um eine bedarfsgerechte und wirtschaftlich sinnvolle Erweiterung der Ladeinfrastruktur im gesamten Stadtgebiet zu gewähr- Kompass für Kommunen Aufbau öffentlicher Ladeinfrastruktur Martin Huber, Johannes Bracke 15 Mio. E-Autos sollen bis 2030 auf Deutschlands Straßen unterwegs sein - etwa ein Drittel aller PKW wäre damit elektrisch betrieben. Städte und Kommunen stehen derzeit vor der enormen Herausforderung, ihre Infrastruktur für den Markthochlauf der E-Mobilität fit zu machen. Für die Verwaltungen ist es jetzt wichtig, ihren zukünftigen Bedarf an öffentlicher Ladeinfrastruktur zu ermitteln und ein Umsetzungskonzept als langfristige Planungsgrundlage zu erstellen. Die Stadt Wiesbaden hat deshalb gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen Drees & Sommer SE ein Konzept zum Aufbau öffentlicher Ladeinfrastruktur in der hessischen Landeshauptstadt erarbeitet. Darauf aufbauend ist ein Leitfaden entstanden, der anderen Städten und Kommunen als Kompass und Orientierungshilfe bei ihren Vorhaben dienen kann. Regionalbahnen. Die ohnehin angespannte Verkehrssituation im Stadtgebiet wird zu den Hauptverkehrszeiten durch zahlreiche Einpendelnde noch verschärft. Bis 2019 hat Wiesbaden die Grenzwerte des Stickstoffdioxid- Jahresmittelwerts mehrfach überschritten. Die Aufgaben für die kommenden Jahre lauten deshalb: den Anteil an Elektrofahrzeugen im Individualverkehr erhöhen, Rad- und Fußverkehr fördern, den klimafreundlichen ÖPNV stärken und innovative Konzepte für den innerstädtischen Lieferverkehr entwickeln. Wiesbaden macht sich fit für die E-Mobilität Gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie will die Stadt Wiesbaden im Rahmen des Forschungsprojektes „E-Mobility-Hub“ die öffentliche Ladeinfrastruktur gezielt aufbauen und hat Drees & Sommer mit einem Umsetzungskonzept beauftragt. Darüber hinaus unterstützt das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML die Stadt mit einer Expertenbefragung in anderen Städten und Gemeinden, die bereits eine öffentliche Ladeinfrastruktur aufgebaut Bild 1: Bis 2030 werden in Wiesbaden rund 50 000 Elektrofahrzeuge erwartet. Mit einem Umsetzungskonzept geht die Stadt den Aufbau einer öffentlichen Ladeinfrastruktur gezielt an. © Pixabay / nathaliemeyer0 17 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität leisten und Parallelplanungen zu vermeiden, ist ein frühzeitiger Dialog mit bereits tätigen Betreibern sowie Stakeholdern des halböffentlichen und privaten Raums notwendig. Dabei sollten auch die Ausbauziele der Infrastrukturanbieter berücksichtigt werden. Zu den relevanten Stakeholdern zählen unter anderem große Arbeitgeber, Parkhausbetreiber, der Einzelhandel, Akteure der Immobilienwirtschaft sowie die Netzbetreiber. Der Austausch ist deshalb wichtig, weil jede Kommune über einen Gesamtbedarf an Ladeinfrastruktur verfügt, der sich auf den privaten, den öffentlichen sowie den halböffentlichen Raum verteilt. Die drei Räume stehen in direktem Zusammenhang zueinander: Steigt die Verfügbarkeit von Ladepunkten in einem der Räume, sinkt der Bedarf in den anderen. Eine allgemein gültige Verteilung gibt es dabei nicht. Laden bei der Arbeit, im Hub oder an der Laterne Zur privaten Ladeinfrastruktur zählen neben der sogenannten Wallbox für private Wohnhäuser auch Lademöglichkeiten bei Arbeitgebern. Immer mehr Unternehmen bauen diese aus und bilden damit eine wichtige Säule beim Ausbau der Ladeinfrastruktur, denn eine verlässliche Lademöglichkeit ist für viele Menschen eine wichtige Voraussetzung für die Anschaffung eines rein elektrischen Fahrzeugs. Sofern zuhause keine private Lademöglichkeit besteht, bekommt der Arbeitgeber als potenzieller Anbieter von Ladeinfrastruktur eine besondere Relevanz. Je nach Akkukapazität und Anfahrtsweg reichen in vielen Fällen ein bis zwei Ladevorgänge pro Woche aus, sodass ein Ladepunkt beim Arbeitgeber den Strombedarf diverser Elektrofahrzeuge abdecken kann. In Wiesbaden kommen zudem Lademöglichkeiten auf öffentlichen Parkplätzen und im halböffentlichen Raum, zum Beispiel auf Kundenparkplätzen von Supermärkten, in Frage. Schnellladesäulen eignen sich dort, wo es schnell gehen muss - beispielsweise innerorts auf öffentlichen Parkplätzen oder an Tankstellen. Ein Parkhaus außerhalb des Stadtzentrums soll zukünftig als innovativer E-Mobility-Hub fungieren, an dem unterschiedliche Mobilitätsangebote und Services miteinander verknüpft werden. PKW können hier parken und E- Fahrzeuge laden. Pendler nutzen anschließend den Umweltverbund für den Weg in die Innenstadt. Der Begriff „Umweltverbund“ bezeichnet die Gruppe der umweltverträglichen Verkehrsmittel. Dazu zählen der ÖPNV, Sharing-Angebote sowie nicht motorisierter Individualverkehr mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Eine weitere Lademöglichkeit, deren Umsetzbarkeit jedoch von verschiedenen Faktoren abhängt und in Wiesbaden voraussichtlich nicht zum Tragen kommt, ist das Laden an Straßenlaternen. Vereinfacht ausgedrückt wird die Laterne dabei mit einer Steckdose ausgestattet, sodass ein Elektroauto daran angeschlossen werden kann. Allerdings sind die Laternen in den meisten deutschen Städten gruppenweise anstatt einzeln mit der Hauptstromleitung verbunden, wodurch sich niedrige Anschlussleistungen je Laterne und damit lange Ladezeiten ergeben. Sind die Laternen auf den Innenseiten der Gehwege angeordnet, ist das Laternenladen ebenfalls keine Option, da das Ladekabel über den Gehweg geführt werden müsste. Die Machbarkeit des Laternenladens ist darum in jeder Stadt individuell zu prüfen, kann aber eine sinnvolle Alternative zu Ladesäulen sein. Leitfaden für Städte und Kommunen Auch wenn es für den Aufbau einer öffentlichen Ladeinfrastruktur keinen Standardprozess gibt, können Städte und Kommunen dennoch voneinander lernen. Deshalb haben die Stadt Wiesbaden, Drees & Sommer und das Fraunhofer IML die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Umsetzungskonzept, den Experteninterviews sowie einem Dialogprozess mit Vertreter*innen aus Politik, Stadtverwaltung, städtischem Energieversorger, Wohnungswirtschaft, Arbeitgebern, Parkhausbetreibern und Einzelhandel in einem Leitfaden gesammelt. Dieser kann anderen Städte und Kommunen als Kompass und Orientierungshilfe bei ihren eignen Konzepten dienen. Der Leitfaden steht auf der Webseite www.dreso.com im Media-Center zum Download zur Verfügung. Martin Huber Senior Consultant Drees & Sommer SE Kontakt: smart.charging@dreso.com Johannes Bracke Senior Consultant Drees & Sommer SE Kontakt: smart.charging@dreso.com AUTOREN Bild 2: Wer nicht zu Hause oder beim Arbeitgeber laden kann, ist auf öffentliche Ladeinfrastruktur angewiesen. Für Wiesbaden haben die Experten einen Bedarf von insgesamt rund 1 700 öffentlichen Ladepunkten bis 2030 ermittelt. © unsplash / Ernest Ojeh