Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0094
124
2023
84
Ländlich wohnen und mobil sein ohne Auto
124
2023
Richard Kemmerzehl
Sharing mit E-Fahrzeugen funktioniert nur in den Ballungszentren? Pfarrkirchen tritt den Gegenbeweis an. Das Schaffer-Quartier steht exemplarisch dafür, wie ein elektrisches Sharingangebot erfolgreich in eine Quartiersentwicklung integriert wird. Seit März 2021 stehen den Bewohner*innen dort Carsharing, E-Bikesharing und Lastenfahrräder zur Verfügung. Das Mobilitätsangebot ist in einem Betriebskonzept für die nächsten zehn Jahre verankert und wird vom Bauherrn, von Stadt und Mobilitätsdienstleister evaluiert und – wenn nötig – angepasst.
tc840077
77 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Innovative Mobilitätskonzepte sind integrale Bestandteile nachhaltiger Planung. Die Möglichkeit, das eigene Auto zu nutzen, soll beim Bau von Wohnquartieren erhalten bleiben. Aber es soll auch anders gehen. In diesem Sinne wurde das Mobilitätskonzept des Schaffer-Quartiers in Pfarrkirchen als Best-Practice ausgezeichnet. In der bayerischen Kreisstadt mit knapp 14 000 Einwohnern wurde in Modulbauweise innerhalb von einem Jahr eine Wohnanlage mit knapp 110 hochmodernen Apartments geschaffen. Die Wohnanlage ist seit Dezember 2021 fertiggestellt und wurde im März 2022 bezogen. Das Bauvorhaben im ländlichen Raum steht auch exemplarisch dafür, wie ein Mobilitätsangebot den Bau von Stellplätzen in einem Bauvorhaben kompensieren kann. Aufgrund der Tatsache, dass der Planungsstand vor Bau Flächen erforderte, die mit der kommunalen Stellplatzsatzung im Konflikt standen, mussten Bauherr und Kommune eine Lösung finden, um die Verkehrsinfrastrukturplanung anzupassen. Die Schaffung eines Stellplatzes für jede Wohnungseinheit hätte eine Tiefgarage erfordert, welche die Baukosten immens in die Höhe getrieben hätte. Mit einem standortspezifischen Mobilitätskonzept und einem konkreten Betriebskonzept zur Absicherung der Maßnahmen, konnte der Projektentwickler die Kommune überzeugen, dass etwa 25 % der geforderten Stellplätze durch zwei Mobilitätshubs mit elektrischen Sharing-Fahrzeugen kompensiert werden. Ländlich wohnen und mobil sein ohne Auto Elektromobilität, Mobilitätskonzepte, Carsharing, Stellplatzsatzung, Verkehrsinfrastruktur Richard Kemmerzehl Sharing mit E-Fahrzeugen funktioniert nur in den Ballungszentren? Pfarrkirchen tritt den Gegenbeweis an. Das Schaffer-Quartier steht exemplarisch dafür, wie ein elektrisches Sharingangebot erfolgreich in eine Quartiersentwicklung integriert wird. Seit März 2021 stehen den Bewohner*innen dort Carsharing, E-Bikesharing und Lastenfahrräder zur Verfügung. Das Mobilitätsangebot ist in einem Betriebskonzept für die nächsten zehn Jahre verankert und wird vom Bauherrn, von Stadt und Mobilitätsdienstleister evaluiert und - wenn nötig - angepasst. Bild 1: Ladestation für E-Bikes und Lastenräder. © NX TBAU GmbH 78 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Die Wohnungswirtschaft beabsichtigt zunehmend bei Bauvorhaben und in Beständen eine zukunftsorientierte Mobilitätsversorgung zu schaffen. Auch Kommunen erkennen, dass die geltenden Stellplatzsatzungen meist die eigenen klima- und verkehrspolitischen Ziele untergraben und vielerorts nicht zu dem allseits geforderten günstigen Wohnraum führen. Gleichwohl gibt es nur wenige Praxisbeispiele, in denen ein Mobilitätskonzept tatsächlich den Weg in den operativen Betrieb gefunden hat. Häufig scheitern Mobilitätskonzepte bei Fragen der konkreten Umsetzung: Wer betreibt das Angebot dauerhaft? Welche Kosten entstehen im späteren Betrieb? Wer trägt diese? Und wie wird überprüft, ob das Mobilitätskonzept funktioniert? In Pfarrkirchen wurden auf diese Fragen schlüssige Lösungen gefunden. Seit dem Erstbezug des Schaffer-Quartiers stehen den Bewohner*innen ein elektrisches Carsharing-Fahrzeug, 16 E-Bikes sowie vier E-Lastenfahrräder zur Verfügung. Über eine Mobilitätsplattform können die Bewohner*innen die Fahrzeuge per App anmieten. Sie haben außerdem einen Promotionscode erhalten, mit dem sie die (Lasten)räder zwei Stunden lang kostenfrei nutzen können. Die Nutzungszahlen und die Rückmeldungen seit Betriebsstart zeigen, dass das Angebot bei den Bewohner*innen viel Resonanz erfährt. Auch die Tatsache, dass es trotz Stellplatzreduktion weiterhin unvermietete Stellplätze gibt, zeigt, dass das Mobilitätskonzept funktioniert. Die Planung und Realisierung von Mobilitätskonzepten im ländlichen Raum ist mit spezifischen Herausforderungen verbunden. Die größte Herausforderung ist, dass es dort keine Sharing-Anbieter gibt, da die Voraussetzungen für einen eigenwirtschaftlichen Betrieb nicht ohne Weiteres gegeben sind. Daher ist der wichtigste Schlüssel zum Erfolg, dass das Mobilitätskonzept die Interessen und Verhaltensweisen aller Beteiligten (Bauherr, Kommune, Mobilitätsdienstleister) berücksichtigt. Das Mobilitätskonzept geht daher nicht nur über die Auflistung möglicher Maßnahmen hinaus, sondern hinterlegt konkret, wie und durch wen diese durchgeführt und dauerhaft betrieben werden. Erfolgsfaktor 1: Das Mobilitätskonzept mündet in einem Mobilitätsvertrag Der Bauherr hat ein fundiertes Mobilitätskonzept für das Vorhabensgrundstück eingereicht, um die vorgegebene KFZ-Stellplatzanzahl reduzieren zu können. Als Kompensation und Absicherung für die nicht gebauten Stellplätze wurde dieses Mobilitätskonzept in eine Verpflichtungserklärung zwischen Kommune und Bauherr überführt. Diese besagt, dass der Bauherr alternative Mobilitätsangebote im Projekt integriert und diese selbst oder durch die Eigentümergemeinschaft dauerhaft (mindestens zehn Jahre) unterhält. Erfolgsfaktor 2: Das Mobilitätskonzept wird durch einen externen und auf Bauvorhaben spezialisierten Mobilitätsanbieter betrieben. Im Auftrag der Bauherrn wurde im Schaffer-Quartier in Pfarrkirchen ein nachhaltiges Mobilitätsangebot mit entsprechenden Lademöglichkeiten geschaffen. Hierfür wurde der auf Bauvorhaben spezialisierte Mobilitätsdienstleister evhcle beauftragt, um die Fahrzeuge zu beschaffen und das Angebot gemäß der Vorgaben der Stadt zu konfigurieren. Hierbei galt es beispielsweise, die Auflage der Stadt zu berücksichtigen, so dass allen Bewohner*innen die Fahrräder für den Zeitraum von zwei Stunden kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Für die Bereitstellung der Fahrzeuge und aller Services, um diese per App vermieten zu können, entrichtet der Bauherr als Besteller (später die WEG) eine monatliche Gebühr. Der Mobilitätsbetreiber (evhcle) trägt sämtliche Kosten, die im Zusammenhang mit der Anschaffung, Instandhaltung, Wartung und dem Betrieb der Fahrzeuge anfallen. Zwischen Bauherr und Mobilitätsbetreiber wurde eine Vereinbarung geschlossen, um die Nutzererlöse mit der Bereitstellungsgebühr zu verrechnen. Die im Mobilitätskonzept vertraglich geregelte Kooperation zwischen Mobilitätsdienstleister und Besteller ist wegweisend für den erfolgreichen Betrieb: Der Mobilitätsdienstleister platziert im Mobilitätskonzept infrastrukturelle und ökonomische Notwendigkeiten, um dauerhaft ein Angebot betreiben zu können. Der Bauherr kann kalkulieren, ob die langfristige Absicherung der Stellplatzreduktionsmaßnahmen die eingesparten Baukosten aufwiegt. Bild 2: Alle Bewohner- *innen bekommen die Fahrräder für zwei Stunden kostenfrei zur Verfügung gestellt. © eVehicle for You GmbH 79 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Der Bauherr kann sich auf das Kerngeschäft konzentrieren, da der Mobilitätsanbieter sich vollumfänglich um Aufbau und Betrieb des Angebots kümmert. Der Mobilitätsdienstleister gewährleistet einen professionellen Betrieb mit regelmäßgen Serviceintervallen Der Mobilitätsvertrag schafft Planbarkeit, ermöglicht dauerhafte Kooperationen vor Ort (zum Beispiel mit örtlichen Radhändlern) und ermöglicht ein transparentes Rückverrechnungs-Modell Die Kommune, der Besteller und die Bewohner*innen haben einen Ansprechpartner für ein multimodales Sharing-Angebot ( E-Bikes, E-Lastenfahrräder und E-Carsharing), das über eine App gebucht wird. Erfolgsfaktor 3: Nachweispflicht des Bauherrn durch proaktives Reporting an die Stadt. Als Nachweis der Realisierung und des Betriebs erstellt evhcle als Mobilitätsbetreiber ein vierteljährliches Reporting. Dieses Reporting dient sowohl dem Bauherrn als auch der Stadt, um die Wirksamkeit der Mobilitätsmaßnahmen zu prüfen. Teil dieses Reportings ist ein Dashboard, auf welchem anonymisierte Nutzungsstatistiken (Anzahl Fahrten, Anzahl Nutzer, Anzahl gefahrene Kilometer, eingespartes CO 2 , ...) ersichtlich sind. Damit wird das Argument vieler Kommunen, dass die Überprüfung von Mobilitätskonzepten eigene Ressourcen bindet, entkräftet. Erfolgsfaktor 4: Flexibilität des Fahrzeugmix Ergeben sich wesentliche Änderungen im Rahmen des Mobilitätkonzepts, kann es flexibel angepasst werden. Grundlage hierfür sind die Nutzungsdaten. Zeigt sich beispielsweise, dass es eine Überversorgung mit E-Bikes gibt, aber das Carsharingangebot besser als erwartet genutzt wird, so besteht die Möglichkeit, den Fahrzeugmix anzupassen. Hierzu müssen die räumlichen Gegebenheiten vorhanden und die Änderung von der Kommune genehmigt sein. Kleine Änderungen, beispielsweise einen Kleinwagen durch einen größeren Kombi zu ersetzen oder ein neues Fahrradmodell zu erproben, bedarf keiner Abstimmung mit der Stadt. Nach knapp zwei Jahren Betrieb wird derzeit überlegt, ob man das Carsharingangebot um ein weiteres E-Auto erweitert. Ausblick Es gibt mittlerweile kein mittleres oder großes Bauvorhaben mehr, dass in der Planungsphase nicht das Thema zukunftsfähige Mobilitätsversorgung streift. Mobilitätskonzepte werden Bestandteil der Baurechtsschaffung oder des B-Plan-Verfahrens. Doch häufig bleiben Mobilitätskonzepte auf Papier. Verkehrsplaner sind bezüglich Betriebsnotwendigkeiten wenig bewandert; Mobilitätsanbieter - so fern vorhanden - sind in frühen Planungsphasen meist unverbindlich. Daher empfiehlt es sich, Mobilitätskonzepte mit einem Mobility-as-a-Service-Ansatz zu verbinden, das heißt, bereits in der Konzepterstellung die Zusammenarbeit mit späteren Betreibern zu suchen, um zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme der Immobilie ein haustürnahes Mobilitätsangebot in Betrieb zu wissen. Das Beispiel aus Pfarrkirchen zeigt, wie Kommunen, Bauherr und Mobilitätsdienstleister zusammenarbeiten können, um statt überflüssiger Stellplätze nachhaltig E-Mobiliy Hubs mit gesharten und elektrischen Fahrzeugen in Wohnquartieren zu verankern. Häufig zeigen sich Schwierigkeiten oder Verzögerungen, wenn mehrere Stakeholder beteiligt sind. Gleichwohl waren in diesem Projekt nicht viele Abstimmungen notwendig, da die Interessen der Beteiligten von Anfang an klar waren. Das überzeugende Mobilitäts- und Betriebskonzept für Sharing-Angebote auch in Wohnquartieren im ländlichen Raum schuf klare Verantwortlichkeiten. Im Ergebnis hat das Mobilitätskonzept im Schaffer-Quartier zu 3 500 Fahrten mit CO 2 -freien Fahrzeugen geführt. Insgesamt wurden knapp 23.000 km zurückgelegt. Dies bedeutet eine Einsparung von 3,8 t CO 2 in der Verkehrsbilanz des Schaffer-Quartiers sowie in der Stadt Pfarrkirchen. Ein wichtiges Ziel besteht in der Übertragung solcher erfolgreicher Mobilitätskonzepte. Kommunen sollten sich ihrer Gestaltungshoheit beim kommunalen Klimaschutz bewusst sein. Plattformen wie beispielsweise GovShare unterstützen Kommunen dabei, bewährte Projekte und Klimaschutzlösungen zu finden. Miteinander und voneinander lernen heißt die Devise, um auch andernorts nachhaltige Mobilitätsformen anzustoßen. Das Schaffer-Quartier ist dabei ein bemerkenswertes Referenzprojekt, wo in einer Win-Win-Situation ein Wohnquartier mit einem zukunftsweisenden Mobilitätshub geschaffen wurde. AUTOR Richard Kemmerzehl Gründer und Geschäftsführer eVehicle for You GmbH Kontakt: richard.kemmerzehl@evhcle.com