Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2023-0098
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2023
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Feinmobilität statt neuer Stadtmauern
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Konrad Otto-Zimmermann
Hohe Fahrzeuge versperren Sichtbeziehungen im Straßenraum. Dies bringt Einbußen an Lebensqualität, erhöhte verkehrliche Gefährdung, verminderte Orientierung und subjektives Unsicherheitsempfinden. Ein Problembewusstsein bei Stadtpolitik, Stadtplanung und Ordnungsbehörden tut not. Eine Trendumkehr von der Gigantomanie bei der Fahrzeugwahl hin zu feinerer Mobilität kann durch Anreize und Restriktionen bewirkt werden – Leitbild „Feinmobilität“. Die neue Einstufung von Fahrzeugen nach Größe (G-Klassifikation) dient als Handwerkszeug zur Bevorzugung kleiner, niedriger, wendiger Fahrzeuge.
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92 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Neulich beschrieb ich einer Bekannten, die als Besucherin das Stadtquartier erkunden wollte, den Weg. Sie solle auf der linken Straßenseite bleiben, gegenüber dem türkischen Imbiss links in einen schmalen Gehweg abbiegen, später durch einen kleinen Torbogen einen Platz erreichen; von dort gehe eine Feinmobilität statt neuer Stadtmauern Hohe Autos versperren Straßenraum, blockieren Sichtbeziehungen, verhindern Orientierung Feinmobilität, Fahrzeughöhe, Raumnahme, Straßenraum, Verkehrssicherheit, G-Klassifikation Konrad Otto-Zimmermann Hohe Fahrzeuge versperren Sichtbeziehungen im Straßenraum. Dies bringt Einbußen an Lebensqualität, erhöhte verkehrliche Gefährdung, verminderte Orientierung und subjektives Unsicherheitsempfinden. Ein Problembewusstsein bei Stadtpolitik, Stadtplanung und Ordnungsbehörden tut not. Eine Trendumkehr von der Gigantomanie bei der Fahrzeugwahl hin zu feinerer Mobilität kann durch Anreize und Restriktionen bewirkt werden - Leitbild „Feinmobilität“. Die neue Einstufung von Fahrzeugen nach Größe (G-Klassifikation) dient als Handwerkszeug zur Bevorzugung kleiner, niedriger, wendiger Fahrzeuge. Bild 1: Wo die Sicht auf gegenüberliegende Fassaden, Vorgärten, Bäume, Grünflächen, Straßenlaternen blockiert ist, wird die Wahrnehmung des Stadtbildes gestört. © The Urban Idea 93 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Wohnstraße ab, an der eine beliebte Bäckerei liege, für den Fall, dass sie sich hungrig gelaufen habe. Eine Stunde später rief sie mich frustriert an. Sie habe sich offenbar verlaufen. Den türkischen Imbiss habe sie nicht gefunden, den Torbogen nicht gesehen, den Platz erreicht und die Wohnstraße entlang geschaut, aber keine Bäckerei gesehen. Hatte ich den Weg falsch erklärt? Am nächsten Tag sind wir die Strecke noch einmal abgelaufen und in der Tat, sie konnte die Wegmarken nicht erkennen. Die Sicht war jeweils verstellt durch Mauern hoher Fahrzeuge. Neue Stadtmauern Dieses Erlebnis hat noch einmal verdeutlicht: Wir haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten neue Stadtmauern aus Fahrzeugen - oder besser Stehzeugen - geschaffen. Im Wortsinne unübersehbare Wände, die die Straßenräume stückeln, Sichtbeziehungen blockieren und den Überblick behindern. Mit Worten kann diese urbane Realität nicht eindrücklicher beschrieben werden als durch Bilder. Die Bilder 1 bis 3 zeigen, wie das Autowachstum unsere Sicht begrenzt und unser Stadterlebnis einengt. Wir haben es mit einem dreifachen Autowachstum zu tun. Zum einen werden die Fahrzeuge eines Modells von Generation zu Generation größer gebaut. Zum anderen steigen Fahrzeugnutzer bei der Wahl des Nachfolgefahrzeugs vielfach auf größere Modelle um, entscheiden sich für ein SUV, einen Kleinbus oder legen sich ein Wohnmobil zu. Zum dritten wächst die Zahl der zugelassenen PKW weiter an. Die Fahrzeughöhen stellen ein gravierendes Problem dar, werden aber weder in der Fachwelt noch in der Verkehrspolitik diskutiert. Die kompakten Karosserieformen mit niedrigeren, flachen Dächern, niedrigen Motorhauben und niedrigen Hecks der früheren Stufenheck-Limousinen sind passé. Heutige PKW sind mit wenigen Ausnahmen zwar nicht extrem lang, aber recht breit und hoch. Nicht wenige sehen aus wie rollende Eier. Die Fahrzeughöhen überschreiten zunehmend die Augenhöhe erwachsener Menschen und die Front- und Heckpartien die Augenhöhe von Kindern. Da hilft auch kein Elektroantrieb. Stadtraum - Straßenräume In einer Stadt befinden wir Menschen uns in einem gegliederten Raum. Je nach Stadtstruktur kann er monoton oder vielfältig gestaltet sein. Es gibt Straßenräume und Plätze. Wenn wir aus einer Haustür treten, zu Fuß gehen oder auf einer Bank sitzen, Fahrrad fahren oder durch eine Windschutzscheibe blicken, befinden wir uns in einem dreidimensionalen Raum. Wir nehmen unsere Umwelt mit unseren Sinnen wahr: Wir hören vielfältige Geräusche, riechen allerlei Gerüche, fühlen Lufttemperatur und -feuchte, vor allem aber sehen wir Räume und ihre Begrenzungen (Hauswände, Mauern, Hecken, Werbetafeln…) sowie Elemente in diesen Räumen (Bäume, Zäune, Bänke, Kiosks). Wir sehen Menschen bummeln, eilen, einkaufen gehen, ihren Hund ausführen, Gepäck tragen, andere treffen und plaudern. In verkehrsarmen Straßen sehen wir Kinder Ball spielen, mit ihren Fahrzeugen herumfahren, Kreidebilder zeichnen. Wir nehmen Straßenräume als Aufenthalts-, Bewegungs- und Kommunikationsräume wahr. Aber trifft dies überhaupt noch zu? Sind die Straßen nicht vorwiegend Kanäle, in denen Kraftverkehr fließt? Ist die verbindende Funktion von Straßenräumen nicht längst einer trennenden Wirkung gewichen? Vor allem: stehen die Straßen nicht voller Kraftfahrzeuge? Werden Straßenräume nicht längst zum Lagern von Stehzeugen missbraucht? Verschluchtung Dieser Beitrag soll die Aufmerksamkeit auf den heutigen Bestand an hohen Fahrzeugen lenken, und zwar besonders wenn sie als Stehzeuge fungieren - und das ist im Durchschnitt zu 95 % der Zeit der Fall. Parkende Fahrzeuge blockieren zunehmend die Sichtbeziehungen im Straßenraum. Wo die Sicht auf gegenüberliegende Fassaden, Vorgärten, Bäume, Grünflächen, Straßenlaternen blockiert ist, wird die Wahrnehmung des Stadtbildes und all dessen, was von Architekten, Landschaftsgärtnern und Designern zum Genuss für Bewohner und Besucher gestaltet worden ist, gestört. Bild 2: Die Fahrzeughöhen stellen ein gravierendes Problem dar, werden aber weder in der Fachwelt noch in der Verkehrspolitik diskutiert. © The Urban Idea 94 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Wo Blicke auf den gegenüberliegenden Gehweg versperrt sind, können wir nicht mehr sehen, wer da läuft und was dort geschieht, nicht mehr andere Anwohner sehen, sie grüßen oder zu einem Schwatz treffen; die soziale Funktion des Straßenraums ist verloren. Wo die Sicht auf Hauseingänge und Hausnummern, Laden- und Büroeingänge, Schaufenster, Beschriftungen, ja auf gegenüberliegende Einmündungen von Wegen und Straßen sowie auf Straßennamenschilder blockiert ist, geht Orientierung verloren. Wo für Zufußgehende die Sicht auf die Straße und den Straßenverkehr und umgekehrt für Autofahrende die Sicht auf Gehwege verstellt ist, weicht Sicherheit einem erhöhten objektiven Gefahrenpotenzial. Bewohnern von Erdgeschoßwohnungen wird der Ausblick auf den Straßenraum versperrt. In den Straßen gelagerte Autos, vor allem wenn sie beim sogenannten Längsparken wie verkettet da stehen, bilden neue Stadtmauern - aber keine, die die Stadt nach außen absichern, sondern solche, die die Stadträume zerstückeln. Diese Automauern trennen vom Straßenraum beiderseits Schluchten ab: Schluchten zwischen Haus- und Autowänden, in denen Menschen wie Asseln in einer Spalte entlanglaufen und des visuellen Genusses, der sozialen Kommunikation, der Orientierung, der Sicherheit und damit ihrer Würde beraubt sind. Nieder mit den Autos! Wie können Stadtbewohner und -besucher die Lebensqualität in den Straßenräumen und auf den Plätzen wieder zurück erlangen? Die Fahrzeuge im öffentlichen Raum müssen niedriger werden! Der Trend zu immer höheren Fahrzeugen, die Gigantomanie der Autonutzer muss gebrochen werden durch Hinwendung zu feinerer Mobilität. Aber selbst wenn ab heute nur noch feinere Autos gekauft würden, werden die frisch zugelassenen Blähmobile noch zehn, zwanzig Jahre in unseren Straßen herumstehen, und das sind nicht wenige: im ersten Halbjahr 2023 machten SUV und Geländewagen 41 % der PKW-Neuzulassungen in Deutschland aus. Deshalb muss ein Befreiungsschlag die blechernen Stadtmauern durch örtliche Regelungen aus den Stadträumen niederlegen. Wir brauchen die Möglichkeit straßenbezogener und auch flächenhafter Höhenbeschränkungen für Fahrzeuge, so wie nach Straßenverkehrsordnung auch verkehrsberuhigte Bereiche oder Tempo-30-Zonen angeordnet werden können. Für sensible Stadtbereiche sollte es die Möglichkeit geben, die Einfahrt nur Feinmobilen 1 vorzubehalten. Solche sensiblen Bereiche können historische Altstädte, Wohngebiete mit geschlossener Blockrandbebauung, Klinik- und Kurzonen und ähnliche sein. Nur so kann die Freiheit der Menschen wiedergewonnen werden, den Stadtraum unbehindert wahrzunehmen, sich im Straßenraum sicher zu bewegen, sich im Straßenraum angenehm aufzuhalten und Orientierung zu finden. Kritische Größen Was sind sozialverträgliche Fahrzeughöhen? Denken wir an Erwachsene, so erscheint es als vernünftig, die Augenhöhe des 5 %-Perzentils weiblicher deutscher Erwachsener 2 , also 146 cm, als Maßstab zu nehmen, denn um das weibliche Geschlecht nicht strukturell zu benachteiligen, sollten auch Frauen mehrheitlich über Fahrzeuge hinweg blicken können. Geradezu radikal mag es erscheinen, die Perspektive von Kindern anzusprechen. Wo sie früher noch über Kühlerhauben hinwegsehen konnten, begegnen ihnen heute nur noch Autoräder. Was soll unbehindert gesehen werden können? Das Kleinkind auf dem gegenüberliegenden Gehweg? Der Hund? Die Erwachsene? Die Bordsteinkante? Hier ist definitorische Klarstellung angesagt, für die sich die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen Verdienste erwerben könnte. Welche Teile eines Fahrzeugs blockieren den Blick, zum Beispiel für Menschen auf Gehwegen? 1 Zur Definition und zu den fachlichen Grundlagen der Feinmobilität: www.feinmobilitaet.de 2 https: / / iba.online/ knowledge/ raeume-planen/ flachenplanung/ koerpermasse/ , abgerufen am 23.09.2023. Die Augenhöhe des 5 %-Perzentils in Deutschland lebender Erwachsener zwischen 18 und 65 Jahren gemäß DIN 33402-2 beträgt bei Frauen 143 cm. Für die Absatzhöhe werden nach DIN EN ISO 14738 weitere 3 cm hinzugerechnet. Bild 3: Hohe Fahrzeuge versperren Sichtbeziehungen im Straßenraum. © The Urban Idea 95 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Kann man vom Höhenmaß der technischen Beschreibung ausgehen, wo doch Front und Heck in der Regel niedriger sind? Muss nicht das spezifische Seitenprofil mit berücksichtigt werden, denn jeder Abschnitt eines Fahrzeugs hat ja eine andere Höhe? Wenn man jedoch das Sichtfeld einer zu Fuß gehenden, schräg vorausblickenden Person in Bezug auf eine Reihe abgestellter Fahrzeuge betrachtet, dann kann von einer nahezu lückenlosen Sichtblockierung ausgegangen werden, was auch die Bilder belegen. Deshalb kann man vereinfachend sagen, dass die Fahrzeughöhe die Sichtblockierung bedingt und das Seitenprofil vernachlässigt werden kann. „Höhe“ handhabbar gemacht Der Faktor „Höhe“ muss zum Thema gemacht werden! Eine radikale Option wäre es, das Parken vor städtebaulich wertvollen Ensembles, gestalteten Grünanlagen oder Ladenzeilen generell auszuschließen, solange hohe Fahrzeuge einen beträchtlichen Anteil im bestehenden Fahrzeugmix darstellen. Eine situationsspezifische Möglichkeit ist die Anordnung einer Höhenbegrenzung beispielsweise auf 1,5 m per Verkehrszeichen 265 der Straßenverkehrsordnung: „Verbot für Fahrzeuge über 1,5 m“. Von Höhenbeschränkungen werden ja bisweilen bei öffentlichen Parkplätzen Gebrauch gemacht, um Wohnmobile auszuschließen. Einfacher wäre es, Fahrzeuge nach bestimmten Höhen-Kategorien vom Parken oder von einer Durchfahrt ausschließen zu können, doch eine reine Höhen-Klassifikation gibt es nicht. Die Initiative Feinmobilität 3 hat es unternommen, hundert Referenzfahrzeuge nach Höhe zu reihen und zu untersuchen, ob und welche Schwellenwerte für eine Einstufung nach mehr oder weniger verträglichen Höhen sich definieren lassen. Da es den mitwirkenden Institutionen und Experten letztlich auf die Klassifikation von Fahrzeugen nach Größe als gesamtheitlichem, stadträumlich relevantem Merk- 3 https: / / www.feinmobilitaet.de/ partner-der-feinmobilitätsinitiative mal ankam, verständigten sie sich darauf, Größe als „Raumnahme“ zu definieren, in deren Berechnung außer der Höhe auch die Länge und Breite eines Fahrzeugs einfließen. Mit dem Fachlichen Standard G-Klassifikation 4 (Bild 4) gibt es nun eine Methode, um Fahrzeuge nach objektiven Kriterien in sieben Größenklassen einzuteilen: XXS, XS, S, M, L, XL und XXL. Damit bietet sich Kommunen und Straßenverkehrsbehörden ein Handwerkszeug, um größendifferenzierte Infrastrukturbemessungen vorzunehmen und verkehrsrechtliche Regelungen zu treffen. Eine mögliche Anwendung sind nach G-Klassen gestaffelte Parkgebühren, eine andere sind Zufahrtsbeschränkungen für Fahrzeuge ab einer bestimmten Größenklasse. Fazit Heutige Fahrzeughöhen beeinträchtigen Lebensqualität und Sicherheit im Straßenraum. Der Faktor „Fahrzeughöhen“ muss in die politische Diskussion gebracht werden. Die durch hohe Fahrzeuge gebildeten neuen Stadtmauern können und sollten geschleift werden. Da die Gigantomanie bei der Fahrzeugwahl anhält und politisch protegiert wird, können Kommunen bereits handeln und Fahrzeuggrößen als Maßstab bei ihren Infrastrukturplanungen und Verkehrsregelungen heranziehen. 4 Fachlicher Standard zur Klassifikation von Bewegungsmitteln nach Größe (G-Klassen), Erste Ausgabe, 28. Juli 2023, hrsg. von der Universität Kassel, Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme, Kassel 2023 Bild 4: Fachlicher Standard G-Klassifikation © Initiative Feinmobilität, Inmotion, Bergamont, Stellantis (Opel/ Fiat), Volkswagen, Renault, Ford Dipl.-Ing., Mag. rer. publ. Konrad Otto-Zimmermann The Urban Idea GmbH Kontakt: info@theurbanidea.com AUTOR