eJournals Transforming cities 9/4

Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2024-0049
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2024
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Fahrradinfrastruktur auf beengten Straßen

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2024
Leo Caseyhttps://orcid.org/0009-0007-7169-2111
Dennis Dreher
Lutz Gaspers
Radverkehr auf Fahrbahnen mit einer Breite von weniger als 7 m kann problematisch sein. Pkw können Radfahrende bei Gegenverkehr nur ohne ausreichenden Sicherheitsabstand überholen. Dies wirkt sich negativ auf die Sicherheit und auf das Sicherheitsgefühl von Radfahrenden aus. Um auf solchen Straßen trotzdem Radverkehr zu ermöglichen, existieren mehrere Lösungen. So können Fahrradstraßen eingerichtet oder Piktogrammketten markiert werden. Ein in Deutschland noch nicht angewandtes Konzept sind 2-minus-1-Straßen, wie sie z. B. in Dänemark gängig sind.
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Fahrradinfrastruktur auf beengten Straßen Das Konzept 2-minus-1-Straße zur Stärkung der Sicherheit von Radfahrenden Fahrrad, Infrastruktur, Schutzstreifen, 2-minus-1-Straßen, Piktogrammketten, Verkehrssicherheit Leo Casey, Dennis Dreher, Lutz Gaspers Radverkehr auf Fahrbahnen mit einer Breite von weniger als 7 m kann problematisch sein. Pkw können Radfahrende bei Gegenverkehr nur ohne ausreichenden Sicherheitsabstand überholen. Dies wirkt sich negativ auf die Sicherheit und auf das Sicherheitsgefühl von Radfahrenden aus. Um auf solchen Straßen trotzdem Radverkehr zu ermöglichen, existieren mehrere Lösungen. So können Fahrradstraßen eingerichtet oder Piktogrammketten markiert werden. Ein in Deutschland noch nicht angewandtes Konzept sind 2-minus-1-Straßen, wie sie z. B. in Dänemark gängig sind. Einführung Bei der Planung von Straßen konkurrieren die Nutzungsansprüche unterschiedlicher Verkehrsmittel und Nutzer: innen mit einem begrenzten Flächenangebot und wirtschaftlichen Zwängen. Ein Verkehrsmittel, das davon besonders betroffen ist, ist das Fahrrad. Während die Mehrheit der Radfahrenden sich auf baulich getrennten Radwegen am sichersten fühlt [1], ist diese Lösung nicht überall umsetzbar. Selbst Schutz- und Radfahrstreifen, die sich in den vergangenen Jahren als fester Bestandteil der deutschen Radinfrastruktur etabliert haben, sind auf Straßen mit schmalen Fahrbahnen nicht immer möglich. 34 4 · 2024 TR ANSFORMING CITIES DOI: 10.24053/ TC-2024-0049 begrenzt [4]. Während Fahrradstraßen zumeist innerorts eingesetzt werden, sind sie auch außerorts möglich. Auch dort gilt die Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/ h, weshalb die außerörtlichen Einsatzmöglichkeiten in der Praxis begrenzt sind. Eine einheitliche Gestaltungsvorgabe für Fahrradstraßen existiert nicht. Obgleich die ERA 2010 empfehlen Fahrradstraßen Vorfahrt gegenüber einmündenden Straßen zu gewähren, sind über die Hälfte der deutschen Fahrradstraßen nicht oder nur teilweise bevorrechtigt gestaltet [4]. Die empfohlenen Fahrbahnbreiten bewegen sich im Bereich von 4,00 m bis 4,50 m [5]. Der Grund ist offensichtlich: Baulich unterscheidet sich eine Fahrradstraße in der Regel nicht von einer konventionellen Straße mit Mischverkehr. Bei höheren Fahrbahnbreiten und Kfz-Freigabe ist mit engen Überholvorgängen gegenüber Radfahrenden zu rechnen. Fahrradstraßen sind insbesondere für Hauptverbindungen des Radverkehrs vorgesehen, auf denen ein hohes Radverkehrsaufkommen herrscht. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs- Ordnung (VwV-StVO) ermöglicht die Einrichtung von Fahrradstraßen auf Straßen „mit einer hohen oder zu erwartenden hohen Fahrradverkehrsdichte, einer hohen Netzbedeutung für den Radverkehr oder auf Straßen von lediglich untergeordneter Bedeutung für den Kraftfahrzeugverkehr“. In der Praxis funktionieren Fahrradstraßen wie gewünscht, wenn über den Verlauf eines Tages das dortige Radverkehrsaufkommen mindestens so hoch ist wie das Kfz-Verkehrsaufkommen [6]. Fahrradstraßen sind als verhältnismäßig sicher zu bewerten. So geschehen im Schnitt pro Fahrradstraße nur ca. vier Unfälle pro fünf Jahre. Davon ist wiederum nur ein Drittel der Unfälle direkt auf die Infrastruktur der Fahrradstraße zurückzuführen. Trotz der Fokussierung auf den Radverkehr sind in drei Viertel der Unfälle Kfz die Hauptverursacher. Auffällig ist eine Unfallhäufung an Kreuzungen und Einmündungen, was auf die uneinheitlichen Vorfahrtsregelungen an diesen Stellen zurückzuführen ist. Deshalb sollte bei der Planung ein besonderes Augenmerk auf die dortige Gestaltung gelegt [4]. Fahrradstraßen gelten bei Radfahrenden als besonders beliebt und werden bei der Routenwahl gegenüber den meisten anderen Führungsformen bevorzugt [7]. In Summe sind Fahrradstraßen eine Lösung, die sich in der Praxis bewährt hat und dazu geeignet ist den Radverkehr zu stärken. Eine Lösung für Fahrbahnen zwischen 6 und 7 m Breite scheinen Sie eher nicht zu sein, da sie das Problem der engen Überholvorgänge nicht adressieren. Für die Anlage von Schutzstreifen beträgt die Mindestbreite der Fahrbahn den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen 2010 (ERA) zufolge 7,00 m. Auf schmaleren Fahrbahnen sollen Schutzstreifen nicht angewandt werden. Gleichermaßen gilt Mischverkehr nach aktuellem Stand der Technik bei Fahrbahnbreiten zwischen 6,00 m und 7,00 m und Verkehrsstärken von über 400 Kfz/ h als problematisch. Der Grund ist, dass auf solchen Fahrbahnen enge Überholvorgänge durch Kraftfahrzeuge (Kfz) gefördert werden. Bei schmaleren Fahrbahnen ist ein Überholen physisch nicht möglich, auf breiteren Fahrbahnen ist in der Regel genug Raum für ausreichende Seitenabstände gegeben [2]. Im Allgemeinen zeigen Erhebungen, dass Radfahrende bei fast jedem zweiten Überholvorgang zu eng passiert werden [3]. Es existiert also ein offensichtlicher Widerspruch: Gerade auf Fahrbahnen, die für den Mischverkehr nicht geeignet sind, ist die Einrichtung von Schutzstreifen nicht möglich. Wie lässt sich also auf Straßen mit schmaler Fahrbahn sichere Radinfrastruktur umsetzen? Um Radverkehr sichtbar zu machen und dessen Nutzung zu stärken, ist es von Bedeutung, eine geeignete Infrastruktur bereitzustellen. Sichere Infrastruktur ist einer der wichtigsten Faktoren, um Menschen zur Nutzung des Fahrrads zu bewegen und somit die Mobilitätswende zu stärken. Für schmale Fahrbahnen existieren bereits einige Möglichkeiten mit unterschiedlichen Einsatzbereichen. Bereits im Einsatz sind in Deutschland z. B. Fahrradstraßen. Während einige Bundesländer seit neuestem Piktogrammketten ermöglichen, existiert mit sogenannten 2-minus-1-Straßen ein Konzept das bisher nur außerhalb Deutschlands (z. B. in Dänemark und den Niederlanden) eingesetzt wird. Die genannten Konzepte werden im Folgenden vorgestellt und untereinander verglichen. Fahrradstraßen Fahrradstraßen sind speziell ausgewiesene Straßen, die hauptsächlich dem Fahrradverkehr vorbehalten sind. Diese Straßen sollen Radfahrern mehr Sicherheit und Komfort bieten und sind oft Teil von größeren Radverkehrskonzepten in Städten und Gemeinden. Anderer Fahrzeugverkehr ist im Standardfall nicht zugelassen, kann jedoch durch Zusatzzeichen ganz oder teilweise erlaubt werden. Von dieser Möglichkeit wird in der Praxis reger Gebrauch gemacht: 96 % aller Fahrradstraßen sind zumindest teilwiese für weiteren Fahrzeugverkehr freigegeben. In diesen Fällen ist der Radverkehr gegenüber anderen Verkehrsarten dennoch bevorrechtigt. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit ist in jedem Fall auf 30 km/ h THEMA Transformation urbaner Mobilität 35 4 · 2024 TR ANSFORMING CITIES DOI: 10.24053/ TC-2024-0049 cherheit für Deutschland vor. In den USA existiert bereits mit sogenannten Sharrows eine vergleichbare Lösung. Zusätzlich zu Fahrradpiktogramm wird noch ein in Fahrtrichtung zeigender Doppelpfeil markiert. Unfallanalysen ergeben, dass auf Straßen mit Sharrows im Vergleich zu Straßen im Mischverkehr ohne Sharrows weniger Unfälle auftreten. Wenn Unfälle auf Straßen mit Sharrows auftreten, fallen diese jedoch deutlich schwerwiegender aus [11]. Auch auf Sharrows steigt die subjektive Sicherheit der Verkehrsteilnehmenden deutlich an. Dies zeigt, dass die beiden Lösungen in ihren Ergebnissen vergleichbar sein können [12]. 2-minus-1-Straßen Der Begriff 2-minus-1-Straße bezeichnet eine Infrastrukturlösung, die im großen Rahmen in Dänemark angewandt wird (Im Dänischen: „2-minus-1-vej“ ). Auch in den Niederlanden findet sich diese Lösung häufiger. In geringerem Umfang nutzen auch z. B. Belgien, Frankreich, Schweden und die USA 2-minus- 1-Straßen. Vereinfacht gesagt handelt es sich dabei um eine Straße mit schmaler Fahrbahn und ein- oder beidseitigen Schutzstreifen. Durch die Existenz der Schutzstreifen wird die Kernfahrbahn (der Bereich zwischen den Schutzstreifen) so sehr verengt, dass sich entgegenkommende Kfz nicht begegnen können, ohne dass mindestens eines der beiden Fahrzeuge auf einen Schutzsteifen ausweicht. Auf eine Leitlinie in Fahrbahnmitte wird in jedem Fall verzichtet. Durch diese Straßengestaltung wird dem Radverkehr ein Raum gegeben, wenn dies anderweitig (z. B. durch baulich getrennte Radwege) nicht möglich oder wirtschaftlich sinnvoll ist. Bild 1 zeigt, wie sich Verkehrsteilnehmende auf 2-minus-1-Straßen verhalten sollen. Kfz befahren in freier Fahrt die Kernfahrbahn (1). Radfahrende werden von Kfz regulär mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Seitenabstand überholt (2). Im Begegnungsfall mit entgegenkommenden Kfz weichen beide, wenn möglich auf die Schutzstreifen aus (3). Sollten sich in diesem Fall zusätzlich Radfahrende auf den Schutzstreifen befinden, verbleiben die Kfz bei gegebenenfalls reduzierter Geschwindigkeit hinter den Radfahrenden, bis das Überholen möglich wird (4). Die konkrete Gestaltung unterscheidet sich dabei von Land zu Land. Dänemark setzt auf vergleichsweise schmale Schutzstreifen (0,90-1,50 m), bei Kernfahrbahnbreiten zwischen 3,00 und 3,50 m. Die Niederlande hingegen verlangt Schutzstreifenbreiten zwischen 1,70 und 2,20 m. Die Kernfahrbahnbreiten variieren dort stärker, in einem Bereich zwischen 2,20 und 3,80 m. In der Regel werden 2-minus-1-Straßen auf Strecken mit wenig Kfz-Verkehr eingesetzt. Piktogrammketten Eine aktuell viel diskutierte Lösung für schmale Straßen sind Piktogrammketten. In der Straßenverkehrsordnung (StVO) und den Empfehlungen für die Anlage von Radverkehrsanlagen (ERA) sind diese noch nicht vorgesehen. Einige Bundesländer (u. a. Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfahlen) haben jedoch bereits Erlasse veröffentlicht, die die Nutzung von Piktogrammketten ermöglichen. Aufgabe der wiederholt angebrachten Piktogramme ist die Sichtbarmachung des Radverkehrs auf der Fahrbahn und die Stärkung der objektiven und subjektiven Sicherheit der Radfahrenden. Darüber hinaus haben Piktogrammketten keine Ge- oder Verbotswirkung. Das Land Baden- Württemberg empfiehlt einen sparsamen Einsatz und nennt Hauptverkehrsstraßen, Netzlücken und Radverkehrsrouten mit hoher Netzbedeutung als mögliche Einsatzorte [8]. Piktogrammketten bestehen aus dem wiederkehrend auf der Fahrbahn angebrachten Radverkehr- Sinnbild gemäß § 39 Absatz 7 StVO. Das Sinnbild ist in der Regel 1 m breit und wird innerorts alle 25 bis 50 m bzw. außerorts alle 50 bis 100 m wiederholt. Der Abstand der Mitte der Piktogramme zum Fahrbahnrand soll 1 m betragen, da so das Rechtsfahrgebot verdeutlicht wird. Die Piktogramme sind also nicht in der Mitte eines Fahrstreifens, sondern eher rechtsseitig angebracht. Neben einem beidseitigen Einsatz von Piktogrammketten, ist auch die Kombination einer einseitigen Piktogrammkette mit einem einseitigen Schutzstreifen in Gegenrichtung denkbar [8]. Untersuchungen zeigen, dass Verkehrsteilnehmende die Bedeutung von Piktogrammketten in der Regel verstehen. Durch das Aufbringen von Piktogrammketten steigt zudem der Anteil an Verkehrsteilnehmenden, die korrekt benennen können, wo Radverkehr erlaubt und nicht erlaubt ist. Gleichermaßen steigt durch das Aufbringen von Piktogrammketten die subjektive Sicherheit der Verkehrsteilnehmenden, wobei sich von allen Verkehrsteilnehmenden Radfahrende dennoch am unsichersten fühlen. Die seitlichen Abstände von überholenden Kfz gegenüber Radfahrenden nehmen ebenfalls zu, was als positiv zu werten ist. Trotz des gestiegenen Sicherheitsgefühls und des gestiegenen seitlichen Überholabstands nehmen Radfahrende Interaktionen mit anderen Verkehrsteilnehmenden nach Aufbringung der Piktogrammketten nicht als angenehmer war. Auch die wahrgenommenen Seitenabstände bei Überholvorgängen durch Kfz steigen durch Piktogrammketten nicht, sondern nehmen vielmehr tendenziell sogar ab [9], [10]. Aufgrund der Neuartigkeit dieser Lösung liegen noch keine belastbaren Zahlen über die objektive Si- THEMA Transformation urbaner Mobilität 36 4 · 2024 TR ANSFORMING CITIES DOI: 10.24053/ TC-2024-0049 den die Auswirkungen der 2-minus-1-Straßen in Bezug auf die subjektive Sicherheit von Radfahrenden, das Positionsverhalten von Kfz, die Seitenabstände zwischen Radfahrenden und überholenden Kfz sowie die Geschwindigkeiten von Kfz. Bei den meisten untersuchten Strecken wurden nicht für alle Kategorien Ergebnisse erfasst. Bild 2 zeigt eine Übersicht der Ergebnisse. Als positives Ergebnis lässt sich festhalten, dass die subjektive Sicherheit durch 2-minus-1-Straßen in der Regel steigt. Sieben der untersuchten Strecken wurden nach Einrichtung der 2-minus-1-Straße von Radfahrenden als sicherer empfunden als zuvor. Eine Strecke wurde als unsicherer empfunden, bei einer zeigte sich keine Veränderung. Das Positionsverhalten von Kfz variierte stark zwischen den Untersuchungsstrecken. Auf 16 Untersuchungsstrecken befuhren Kfz in der Regel auch ohne Gegenverkehr den Schutzstreifen. Auf neun der Untersuchungsstrecken nutzten Kfz wie vorgesehen hauptsächlich die Kernfahrbahn. Da durch das Befahren der Schutzstreifen keine unmittelbare Gefährdung entsteht, jedoch der Raum der Radfahrenden über Gebühr in Beanspruchung genommen wird, ist dieses Ergebnis als neutral zu bewerten. Weniger positiv fallen die Ergebnisse der verbleibenden beiden Kategorien aus. Durch die Einrichtung von 2-minus-1-Straßen ist demnach eine Verringerung der Seitenabstände bei Überholvorgängen zu erwarten. Dies geschah auf den untersuchten Strecken auf elf Strecken, während auf zwei Strecken keine Änderung eintrat und auf drei Strecken die Die Einsatzgrenzen unterschiedlicher Länder bewegen sich zwischen 3.000 Kfz/ d in Dänemark und der belgischen Region Wallonien bis hin zu 5.000 Kfz/ d in Frankreich und der kanadischen Provinz British Columbia. Auch die zulässigen Höchstgeschwindigkeiten unterscheiden sich. Während in Schweden, Frankreich und der Region Wallonien Fahrgeschwindigkeiten bis zu 70 km/ h erlaubt sein können, sind in den Niederlanden innerorts nur 30 km/ h möglich. In Deutschland ist das Konzept der 2-minus-1-Straßen bisher nicht vorgesehen. Es sprechen zurzeit auch einige Richtlinien und Gesetze gegen den Einsatz: In der Deutschen Planung ist bei der Anlage von beidseitigen Schutzstreifen eine Kernfahrbahn von mindestens 4,50 m vorgesehen. Dies ermöglicht, zumindest theoretisch das Vorbeifahren von zwei entgegenkommenden Pkw, ohne auf die Schutzstreifen aufzuweichen. Außerorts sind Schutzstreifen zudem nicht zugelassen, weswegen der Einsatz dort aktuell nicht in Frage kommt. Ausnahmen zu diesen Regelungen gibt es im Land Baden-Württemberg. Mit Ausnahmegenehmigung der obersten Straßenverkehrsbehörde sind Schutzstreifen bei einer Kernfahrbahn von mindestens 4,10 m möglich. Seit 2023 erlaubt das Land auch Schutzstreifen außerorts. Dies lässt sich als Annäherung an das Konzept von 2-minus- 1-Straßen verstehen. Um die möglichen Auswirkungen dieser Infrastrukturlösung zu analysieren, wurde von den Autoren eine internationale Literaturanalyse durchgeführt. Dazu wurden 76 2-minus-1-Straßen in acht verschiedenen Ländern betrachtet. Im Fokus stan- Bild 1: Prinzipskizze zum Verhalten auf 2-minus-1-Straßen (Casey) THEMA Transformation urbaner Mobilität 37 4 · 2024 TR ANSFORMING CITIES DOI: 10.24053/ TC-2024-0049 Kfz- und Radverkehrsstärken. Fahrradstraßen haben sich in Deutschland als zuverlässige Infrastrukturlösung etabliert und können als stärkend für den Radverkehr angesehen werden. Jedoch sind sie nur auf Strecken mit einem (potenziell) hohen Radverkehrsaufkommen geeignet. An dieser Stelle setzen Piktogrammketten und 2-minus-1-Straßen an. Gerade diese beiden Lösungen sind durch ihren kostengünstigen Einsatz auch auf Straßen denkbar auf denen Radverkehr noch nicht die dominierende Verkehrsart darstellt. Beiden ist gemein, dass sie durch Markierungen auf der Fahrbahn einen sichtbaren, wenn auch nicht-exklusiven Raum für Radfahrende schaffen. Auch wenn reine Markierungslösungen von einigen Radfahrenden negativ betrachtet werden, zeigt sich in Summe ein Zuwachs an subjektiver Sicherheit. Der Unterschied zwischen Piktogrammketten und 2-minus-1-Straßen zeigt sich im Ausmaß in dem Radfahrenden Raum zugesprochen wird. Bei letzterem Konzept erhalten Radfahrende einen klarer vom Mischverkehr abgegrenzten Raum. Da Schutzstreifen prinzipiell kein neues Konzept sind, ist ihre Nutzung für Radfahrende verständlich. Andererseits funktionieren Schutzstreifen auf 2-minus-1-Straßen für den Kfz-Verkehr anders als konventionelle Schutzstreifen. Insbesondere die schmale Kernfahrbahn auf der trotz geringer Breite Zweirichtungsverkehr stattfinden soll, mag ungewohnt erscheinen. Daraus resultiert prinzipiell ein hoher Kommunikationsaufwand bei der Einführung dieser Lösung. Ob die Vorteile von durchschnittlichen Seitenabstände anstiegen. Die durchschnittliche Geschwindigkeit der Kfz sank auf 21 der Untersuchungsstrecken, im Vergleich zu sieben Strecken ohne Veränderung und elf Strecken mit erhöhten Kfz-Geschwindigkeiten. Die auftretenden Reduktionen bewegten sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle jedoch im Bereich von wenigen km/ h. Ein nennenswerter Beitrag zur Reduzierung des Unfallgeschehens durch reduzierte Geschwindigkeiten lässt sich daher bezweifeln [13]. Fazit Um den Fahrradverkehr zu stärken, empfiehlt es sich, diesem im Regelfall eine eigene Fläche im Straßenraum zu geben. Dies kann z. B. durch das Anlegen von baulich getrennten Fahrradwegen geschehen. Da dies oft nicht möglich oder wirtschaftlich ist, haben sich in Deutschland Schutzstreifen oder Radfahrstreifen auf der Fahrbahn etabliert. Auf Fahrbahnen mit einer Breite von unter 7 m, können diese aktuell jedoch nicht eingesetzt werden. Gleichermaßen gestaltet sich gerade dort Mischverkehr als problematisch. In diesem Artikel wurden drei mögliche Infrastrukturlösungen vorgestellt: Fahrradstraßen, Piktogrammketten und 2-minus-1-Straßen. Dabei zeigt sich, dass jede dieser Lösungen ihre Vor-, aber auch Nachteile hat. Die Wahl einer geeigneten Infrastrukturlösung hängt vom Einsatzort ab. Berücksichtigt werden sollten dabei u. a. die Lage der Strecke, ihre Bedeutung für das Radverkehrsnetz und die auftretenden Bild 2: Ergebnisse der Literaturanalyse zu 2-minus-1-Straßen (Casey) THEMA Transformation urbaner Mobilität 38 4 · 2024 TR ANSFORMING CITIES DOI: 10.24053/ TC-2024-0049 [10] A. Koppers, S. Ruf, J. Gerlach, T. Leven, und C. Hagemeister, „Radfahren bei beengten Verhältnissen - Wirkung von Piktogrammen und Hinweisschildern auf Fahrverhalten und Verkehrssicherheit“. Zugegriffen: 12. August 2024. [Online]. Verfügbar unter: https: / / www.svpt.uniwuppertal.de/ de/ home/ forschung/ projekte/ radfahrenbei-beengten-verhaeltnissen/ [11] S. Wall u. a., „The Effect of Sharrows, Painted Bicycle Lanes and Physically Protected Paths on the Severity of Bicycle Injuries Caused by Motor Vehicles“, Safety, Bd. 2, Nr. 4, S. 26, Dez. 2016, doi: 10.3390/ safety2040026. [12] M. Vasilev, K. Pitera, und T. Jonsson, „Evaluation of bicycle sharrows within the Norwegian context“, Transportation Research Procedia, Bd. 27, S. 1097-1104, 2017, doi: 10.1016/ j.trpro.2017.12.015. [13] L. Casey, „2-minus-1-roads: A literature based review“. 2024. Zugegriffen: 11. Juni 2024. [Online]. Verfügbar unter: https: / / transfer.hft-stuttgart.de/ katalog/ dataset/ velocity Eingangsabbildung: © Autoren 2-minus-1-Straßen ihre Herausforderungen aufwiegen, lässt sich für den Einsatz in Deutschland noch nicht zweifelsfrei sagen. Das eingangs angesprochene Problem der engen Überholvorgänge durch Kfz behebt keine der vorgestellten Lösungen. Die Anlage von baulich getrennten Fahrradwegen sollte daher weiterhin als Priorität angesehen werden. Dennoch macht die vorliegende Analyse eine Palette an Instrumenten zur Stärkung des Radverkehrs sichtbar, deren Einsatz in Deutschland zu empfehlen ist. Dem Konzept 2-minus-1-Straße stehen aktuell noch rechtliche Hindernisse entgegen. Es wird empfohlen ihre Auswirkungen durch Verkehrsexperimente genauer zu analysieren, um auf dieser Grundlage eine Empfehlung für oder gegen den flächendeckenden Einsatz auszusprechen. LITERATUR [1] F. Jurczok, T. Gensheimer, und F. Specht, „Fahrrad Monitor 2023“, SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH, 2023. Zugegriffen: 3. Januar 2024. [Online]. Verfügbar unter: https: / / bmdv.bund.de/ SharedDocs/ DE/ Anlage/ StV/ fahrradmonitor-langfassung.pdf ? _ _blob=publicationFile [2] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV), Empfehlungen für Radverkehrsanlagen. Köln: FGSV Verlag, 2010. [3] L. Casey, L. Gaspers, und H. Mandel, „Overtaking in Stuttgart—analysis of the lateral distances between motor vehicles and bicycle traffic with reference to traffic volume and cycling infrastructure“, TSR, Bd. 7, S. e000052, Juli 2024, doi: 10.55329/ lzza8384. [4] N. Schläger u. a., „Sicherheitsbewertung von Fahrradstraßen und der Öffnung von Einbahnstraßen“, Unfallforschung der Versicherer, Forschungsbericht Nr. 41, 2016. [Online]. Verfügbar unter: https: / / www.udv.de/ resource/ blob/ 79788/ 1544ec50b0d46fa8a3883b2c9ca 2daeb/ 41-sicherheitsbewertung-von-fahrradstrassenund-der-oeffnung-von-einbahnstrassen-data.pdf [5] T. Becker, „Die Gestaltung des Erfolgsmodell Fahrradstraße“, SVT, Bd. 2019, Nr. 05, 2019, doi: 10.26128/ 2019.1. [6] S. Hummel und T. Klein, „Fahrradstraßen - Leitfaden für die Praxis“, Deutsches Institut für Urbanistik, 2021. Zugegriffen: 13. Juni 2024. [Online]. Verfügbar unter: https: / / repository.difu.de/ jspui/ handle/ difu/ 582184 [7] M. Hardinghaus und R. Cyganski, „Attraktive Radinfrastruktur. Routenpräferenzen von Radfahrenden“, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Institut für Verkehrsforschung, 2019. Zugegriffen: 28. Dezember 2023. [Online]. Verfügbar unter: https: / / elib. dlr.de/ 129462/ 1/ 190527_DLR_Broschuere_DINA4_Online.pdf [8] Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg, Radverkehrspiktogramme und -ketten auf Fahrbahnen öffentlicher Straßen. 2023. [9] S. Ruf, Fahrradpiktogramme auf der Fahrbahn: Ein Beitrag zu Flächengerechtigkeit und Verkehrssicherheit in beengten Verhältnissen. in Verkehrspsychologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2023. Zugegriffen: 17. April 2024. [Online]. Verfügbar unter: DOI: 10.1007/ 978-3-658-43402-1 AUTOR*INNEN Leo Casey, M. Eng. Akademischer Mitarbeiter, Schellingstr. 24 70174 Stuttgart leo.casey@hft-stuttgart.de https: / / orcid.org/ 0009-0007-7169-2111 Dennis Dreher, M. Eng. Akademischer Mitarbeiter und Teamleitung MoVe, Schellingstr. 24 70174 Stuttgart dennis.dreher@hft-stuttgart.de Lutz Gaspers, Prof. Dr.-Ing., Professor für Verkehrsplanung und Sprecher MoVe. lutz.gaspers@hft-stuttgart.de THEMA Transformation urbaner Mobilität 39 4 · 2024 TR ANSFORMING CITIES DOI: 10.24053/ TC-2024-0049